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Ausgabe:

April/2015

Spalte:

371–373

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Moore, Stephen D.

Titel/Untertitel:

The Bible in Theory. Critical und Postcritical Essays.

Verlag:

Atlanta: Society of Biblical Literature 2010. XIV, 465 S. = Society of Biblical Literature Resources for Biblical Study, 57. Kart. US$ 51,95. ISBN 978-1-58983-506-1.

Rezensent:

Stefan Alkier

Eine Einladung zum Mitdenken ist diese Aufsatzsammlung des irischen, an der Drew University, Theological School in Madison (USA) lehrenden Bibelkritikers Stephen D. Moore nicht. Aber das wollen seine Texte vielleicht auch gar nicht sein. M. möchte aufdecken, provozieren, kritisieren, neue Denk- und Schreibweisen ausprobieren und dabei vor allem anderen eines nicht sein: Mainstream. Dadurch teilt er die Welt der Bibelwissenschaftler binär ein: die kleine, aber feine Bewegung der »Theory« und die große, konservative, blinde Masse der Vertreter historisch-kritischer Exegese. Zu Letzteren zählt er alle exegetischen Ansätze, die sich methodischem Denken verpflichtet sehen, also auch Strukturalismus, Narrative Criticism, Semiotik. »Theory« hingegen dient M. als Sammelbegriff für alle kritischen Modelle und Diskurse, die aus der Transformation des französischen Strukturalismus in den Poststrukturalismus hervorgegangen sind – »deconstruction, New Historicism, postcolonial theory, queer theory, and major academic variants of ›third-wave‹ feminism« (1) – sowie postkritische Diskurse, die aus der kritischen Reflexion der unter dem Regenschirmbegriff »Theory« versammelten Ansätze erwuchsen: autobiographical criticism, personal criticism, posttheory, after theory, after »after theory« (vgl. 355 f.373 f.). Dass der Terminus »Theory« allein für die poststrukturalistische Position in Anspruch genommen wird und damit alle anderen Theorieansätze ausgeblendet werden, ist für das Verständnis dieses Bandes von nicht geringer Bedeutung. Er bietet keinen Überblick über die Bibel im Rahmen verschiedener theoretischer Zugänge, sondern ist monolithisch der eigenen Position verpflichtet, die nicht dem Streit mit anderen Theoriepositionen ausgesetzt wird, sondern als Fixpunkt der Bewertung und Kritik der Bibel und ihrer Auslegungen gesetzt ist.
M. gehört sicher zu den profiliertesten Kennern und eifrigsten Protagonisten poststrukturalistischer Bibelkritiker. Was der Band leistet, der 16 Aufsätze aus den Jahren 1989 bis 2007 präsentiert, ist eine Übersicht über Metamorphosen des Poststrukturalismus. M. stellt nämlich jedem Aufsatz eine knappe, für diesen Band eigens verfasste Einordnung in den jeweiligen Diskurs der Entstehungszeit und eine Einschätzung des Beitrags aus seiner gegenwärtigen Sicht der Dinge voran. Liest man M.s Einleitung in den gesamten Band (1–6), seine kurzen Statements, die den Einzelbeiträgen vorangestellt sind und den Aufsatz Nr. 15 »A Modest Manifesto for New Testament Literary Criticism: How to Interface with a Literary Studies Field That Is Postliterary, Posttheoretical, and Post-methodological« (355–372), erhält man einen informierten forschungsgeschichtlichen Einblick aus der anglophonen Binnenperspektive dieser postmodernen »Theory«, die jedem essentialistischen Denken den Kampf angesagt und dieses durch die Autorität der Schriften von Lacan, Derrida und Foucault ersetzt hat (was für Bultmann Heideggers Existenzphilosophie war, ist für M. Lacans Theorie des Begehrens – keine falsifizierbare Theorie, kein diskutierbares Modell, sondern die letztgültige Wahrheit über die universal und zeitlos währende Grundbefindlichkeit des Menschen).
Die in diesem Band versammelten 16 Beiträge sind auf sieben Rubriken verteilt, an deren Ende jeweils Literaturempfehlungen zur eigenen Weiterarbeit stehen. Die Rubriken lauten: Postmodernity, Textuality, Autobiography, Masculinity, Sexuality, Postcoloniality, Posttheory. Diese Einteilung verursacht, dass die Beiträge zwar überwiegend, aber nicht strikt chronologisch abgedruckt wurden. Der Vorteil dieser thematischen Zusammenordnung überwiegt.
Wenn es dem Leser bzw. der Leserin dieses Bandes gelingt, den überheblichen Ton der Texte M.s zu ignorieren und aufmerksam den durch sie eingebrachten Anliegen, Einsichten und Denkanstößen nachzudenken, wird er bzw. sie reichlich fündig. M.s Texte wollen zunächst darauf aufmerksam machen, dass binäres Denken ein gewaltsames Wahrnehmen erzwingt, das stets anderes und an­dere ausschließt. Sie dekonstruieren essentialistische Wahrheitsansprüche, indem sie deren Voraussetzungen, Mechanismen und Konstruktionsprinzipien analysieren. Sie ermuntern dazu, Texte anders zu lesen, indem ihre Leitmetaphern und Randthemen in den Blick geraten und beim Wort genommen werden. Sie ma­chen aufmerksam auf die Positionalität jeder Lektüre und ihre Verflechtungen mit politischen Konstellationen. Sie sensibilisieren vor allem für das Gewaltpotential biblischer Texte und (mehr noch) ihrer Lektüren, das im Zuge ihrer ex- und impliziten Macht- und Genderideologien auch heute noch wirksam ist, gerade weil diese impliziten Ideologien viel zu selten Gegenstand exegetischer Un­tersuchungen und Reflexionen werden. Die Texte von M., bzw. in vier Fällen die Texte von M. und seinen Mitautorinnen (Nr. 4 mit Susan Lochrie Graham, Nr. 8 mit Janice Capel Anderson, Nr. 11 mit Virginia Burrus, Nr. 16 mit Yvonne Sherwood), fordern dazu auf, das Politische der biblischen Texte und ihrer Auslegungen nicht erst in expliziten politischen Aussagen und Themen (z. B. Kritik am Imperium Romanum, Kritik an der Unterordnung von Frauen), sondern in den theologischen Metaphoriken selbst und in den Rollenverhältnissen der Akteure biblischer Texte wahrzunehmen und gegen den Strich zu lesen. Auch wenn manches dabei an den Haaren herbeigezogen ist und man auf jeder Seite M.s Drang wahrnimmt, originell und geistreich sein zu müssen (vgl. z. B. Nr. 7 »The Divine Butcher«), gibt es eine Reihe von anregenden Einsichten zu e ntdecken. Als Beispiel sei M.s Lektüre des Gesprächs am Jakobsbrunnen (Joh 4) genannt, die die Simultanität von geistlichem und materiellem Wasser entdeckt, die binäre Logik der Auslegung dieses Textes offenlegt und der Bewertung der Akteure dieses Textes interessante Perspektiven eröffnet. Neben dem forschungs-geschichtlichen Aufsatz Nr. 15 empfehle ich diesen Beitrag »Are There Impurities in the Living Water That the Johannine Jesus Dispense« der Lektüre, um die exegetische Leistungsfähigkeit der »Theory« M.s durch einen eigenen Leseeindruck zu prüfen.
So anregend M.s Kritik biblischer Texte und ihrer Auslegungen zuweilen ist, überzeugt seine einseitige Wahrnehmung der Bibel und der Bibelwissenschaften weder in ihrer Attitüde des universalen Überblicks noch in ihrer romantischen Sehnsucht nach der allen Modellen und Methoden absagenden unbegrenzten Freiheit des Genielesers (vgl. dazu insbesondere Aufsatz Nr 16, »After ›After Theory‹ and Other Apocalyptic Conceits in Literary and Biblical Studies«, zusammen verfasst mit Yvonne Sherwood, 373–404). Das zeigt sich u. a. daran, dass M. unter der Aufzählung strukturalistischer Zeitschriften der 70er Jahre des 20. Jh.s zwar die »Linguistica Biblica« nennt, aber wohl kaum ihre Inhalte kennt. Er unterdrückt sogar den Namen des Herausgebers: Erhardt Güttgemanns, dessen strukturalistische und poststrukturalistische Schriften auch nicht im umfangreichen Literaturverzeichnis des Aufsatzbandes (407–454) auftauchen, hat nicht nur bereits gegen Ende der 60er Jahre strukturalistische und linguistische Modelle in den Methodenkanon der Exegese eingebracht, sondern auch schon die bis dato in Deutschland, den USA und Irland noch unbekannten – weil noch nicht übersetzten – Veröffentlichungen von Julia Kristeva, Jacques Derrida und vor allem Jacques Lacan rezipiert und daraus eine poststrukturalistische Bibelhermeneutik entworfen (vgl. Erhardt Gütt gemanns, fragmenta semiotico-hermeneutica. Eine Texthermeneu­tik für den Umgang mit der Hl. Schrift, Bonn 1983). Was für M. im Zeichen seiner Genieästhetik Gegensätze sind – »Theory« und methodische Verpflichtung –, findet sich bei Güttgemanns in ge­genseitiger Befruchtung. Ignoriert M. ihn deshalb? Oder hat er einfach eine Abneigung gegen deutschsprachige Theologie? Eine für jede exegetische Theoriebildung notwendige Auseinandersetzung mit dem komplexen Ansatz von Güttgemanns fehlt jedenfalls.
In M.s Aufsätzen werden in unterschiedlicher Intensität folgende biblische bzw. jüdische Texte thematisiert: Hohelied der Liebe (Nr. 10 und 11); Mk (Nr. 2 und 5); Lk und Act (Nr. 3); Joh (Nr. 4 und 14); Röm (Nr. 12 und 7); Josephus’ Jüdischer Krieg (Nr. 5); 4. Makk (Nr. 9), Shi´ ur Qomah (Nr. 8). M.s Aufsätze zur Johannesapokalypse sollen in einem eigenen Band veröffentlicht werden.
Dass M. kein gutes Haar am Protestantismus und der Rechtfertigungstheologie des Paulus lässt, mag sich aus seiner römisch-katholischen Prägung erklären. Dass der in den USA lehrende Ire deutsche Exegeten als Karikatur blasierter Ignoranz darstellt, mag man auf das von ihm dargestellte autobiographische Erlebnis zu­rückführen (vgl. 27). Dass aber die Bibel in seiner »Theory« ausschließlich als ein hässliches Dokument der Unterdrückung er­scheint und »Theologie« lediglich die ideologische Fortführung der biblischen Unterdrückungsmechanismen darstellt, zeigt auf, wie sehr M.s »Theory« binären Bewertungsstrukturen unterliegt, die er doch eigentlich zu Recht brandmarken möchte.
Eine Einladung zum Mitdenken für Bibelwissenschaftler, die von der poetischen und theologischen Kraft biblischer Texte motiviert werden, ist diese Aufsatzsammlung nicht. Eine Anregung zur kritischen Wahrnehmung des Politischen biblischer Texte und ihrer Auslegungen in einem sehr weiten Verständnis dieses Wortes ist dieser Band aber sicher. Deshalb sollte er in jeder theologischen Universitätsbibliothek stehen.