Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

759–761

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Fritz, Hartmut

Titel/Untertitel:

Otto Dibelius. Ein Kirchenmann in der Zeit zwischen Monarchie und Diktatur. Mit einer Bibliographie der Veröffentlichungen von Otto Dibelius.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. 641 S. gr 8 = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, Reihe B: Darstellungen, 27. Lw. DM 148,-. ISBN 3-525-55727-2.

Rezensent:

Uwe Rieske-Braun

Otto Dibelius gehört zu jenen kirchenleitenden Amtsträgern, die den deutschen Protestantismus dieses Jahrhunderts geprägt haben. Unter ihnen zählt er gewiß zu den interessanteren. Klaus Scholder hat im Gedenkvortrag zu Dibelius’ 100. Geburtstag am 14. Mai 1980 sein Erstaunen darüber geäußert, daß die eigentümlich widersprüchliche Ambivalenz dieses Lebenswerkes und die von ihm ausgehende Faszination lange nicht entsprechend wahrgenommen wurden (ZThK 78, 1981, 90-104). Nach der Biographie von Robert Stupperich (1989) setzt sich die in Tübingen bei Joachim Mehlhausen entstandene Dissertation das Ziel, das Wirken von D. in der Weimarer Republik und in ausgewählten Aspekten darüber hinausgreifend nachzuzeichnen. Gegenüber der durchgängig historisch gegliederten, das gesamte Leben von D. überblickenden und auch quantitativ in ihren Teilen übersichtlichen älteren Studie richtet F. sein Interesse stärker auf exemplarische Spannungsfelder, in denen an historischen Details das öffentlichkeitswirksame und oft ungestüme Movens des einem pommerschen Pfarrergeschlecht entstammenden Beamtensohnes deutlich wird.

Zunächst wird in einem ersten Kapitel den bewegten Jahren nach 1918, in denen Dibelius als Geschäftsführer des vom preußischen EOK eingesetzten Vertrauensrates in einer Schlüsselfunktion in der größten deutschen Landeskirche tätig war, gebührende detailreiche Aufmerksamkeit geschenkt (23-104). Bei der Suche nach einer neuen institutionellen Basis für die durch die Erlasse Adolf Hoffmanns vom November 1918 alarmierte evangelische Kirche wandte sich D. gegen die kirchenpolitischen Forderungen der sich auch in anderen Landeskirchen bildenden freien Bekenntnisgruppen ebenso wie gegen die Option Martin Rades, Volkskirchenräte einzusetzen. Er favorisierte "ein verbindliches Arrangement einer selbständigen Kirche mit dem Staat, um einem wie auch immer gearteten Diktat des Staates zu entgehen". Kirche müsse ihr Kirchesein in "ihrer rechtlichen und institutionellen Stellung gegenüber dem Staat" erweisen (42) und ihr Selbstbewußtsein etwa im entschiedenen Kampf gegen die Abschaffung des Religionsunterrichtes als ordentliches Lehrfach an preußischen Schulen bewähren. D. verdankt sich die in der Weimarer Republik oft verwendete, anläßlich der Wahlen zur Nationalversammlung vom Januar 1919 geprägte Formulierung, daß die Kirche "über den Parteien" stehe, für die er damit implizit nichts weniger als das integrationsstiftende Erbe des untergegangenen Kaisertums beanspruchte. Damit war zugleich eine unzweideutige Option für die Parteien verbunden, die "für Recht und Ordnung und für die Interessen der evangelischen Kirche" einzutreten bereit seien - vorrangig galt dies von der konservativen Deutschnationalen Volkspartei, der D. seit 1918 angehörte und deren Vertreter auch seine antisemitischen Ansichten teilten, von denen er erst im Kirchenkampf abrückte.

Nachfolgend referiert F. die 1920 übernommene Tätigkeit als Geschäftsführer des "Propaganda-Ausschusses" für die an Polen abgetretenen Ostgebiete (105-129), wo D. etwa gegen die kirchlichen Assimilationsbestrebungen des Generalsuperintendenten D. Julius Bursche agitierte, gegen den sich übrigens auch Lutheraner wie Frhr. Wilhelm v. Pechmann wandten. Vor seiner Ernennung zum Generalsuperintendenten der Kurmark im Dezember 1924, die das 2. Kapitel der Darstellung einleitet, wurde D. im Jahr zuvor zum Geschäftsführer des von ihm gegründeten Berliner Religionspädagogischen Instituts ernannt. Beide Tätigkeiten erläutert F. mit Sinn für belangreiche Details (171, Anm. 16 die Notiz eines EOK-Referenten, der einen neuen "Verkehrston" des gerade gewählten Generalsuperintendeten bemerkt) sowie erhellende historische Perspektiven wie etwa die Geschichte der ev. Kirche in der Kurmark (161) aus zahlreichen Materialien und Quellen. Ausführlich werden Entstehung und Wirkungen des 1926 erschienenen, wirkungsträchtigen Buches vom "Jahrhundert der Kirche" behandelt (187-264). Deutlich wird, wie D. darin die kirchlich-konservative Option der "Positiven" aus der Kaiserzeit aufnimmt und weiterführt, indem er nun der Kirche die kulturprägende Funktion einer christlich-sittlichen Lebensgestaltung gegenüber dem seit 1918 völlig auf seine nackte Machtfunktion reduzierten Staat zuspricht. Die ev. Kirche müsse ihre bislang ungekannte Selbständigkeit selbstbewußt, politikfähig und verantwortlich wahrnehmen gegenüber einem Staat, der auf seine christliche Verankerung und Kulturaufgabe verzichtet habe. So wird die oft mißverstandene Option plausibel: "Die Kirche darf das öffentliche Leben nicht seiner ,Eigengesetzlichkeit’ überlassen, sie muß es christlich ,durchdringen’." (219)

In diesem Teil weicht F. von der historisch orientierten Gliederung ab und behandelt im Abschnitt zur "geistlichen Leitung der Kirche" nach diversen pastoral-disziplinarischen "Fällen" und anderen Detailaspekten schließlich auch D.s Auseinandersetzung mit dem Führerprinzip 1933 bis zu den Erlassen Hanns Kerrls von 1937. Diese Abschnitte gewinnen aber erst nach Lektüre der unter der Überschrift "D. und die Dialektische Theologie" abgehandelten Vorgänge um die Postdamer Predigt vom 21. März 1933 (384-434), wo auch auf die Amtsenthebung des Generalsuperintendenten eingegangen wird, die angemessene Perspektive.

Im dritten Kapitel wird D.s kirchenpolitische Option mit dem Terminus der "Ekklesionomie" belegt - in bezugnehmender Abgrenzung zu den zeitgenössisch häufig verwendeten Begriffen von "Theonomie und Autonomie" (313-484). Die Debatten um den Pazifismus und Deutschlands Beitritt zum Völkerbund, die Auseinandersetzung mit der Dialektischen Theologie, insbesondere mit Karl Barth sowie mit der teilweise kommunistisch infiltrierten "Gottlosenbewegung" werden aus zahlreichen archivalischen Materialien dargestellt, in vielen Aspekten mit hohem Erkenntnisgewinn, im Blick auf die Debatte mit Barth auch mit beträchtlichem Unterhaltungswert.

Die Lernfähigkeit von D., aber auch die spezifische Schwankungsbreite seiner Position wird an den Vorgängen um die oft behandelte Predigt in der Garnisonskirche am von Goebbels und Hitler sorgfältig inszenierten "Tag von Potsdam" im März 1933 deutlich, deren aspektreicher Kontext detailliert entfaltet wird. Noch im Januar 1926 hatte D. wie andere Konservative die von Liberalen und Pazifisten gehegten Hoffnungen auf den Völkerbund gedämpft, sah dann aber nach dem durch Stresemann betriebenen Beitritt Deutschlands eine neue Lage, die ein kirchliches Umdenken erfordere. In seiner Schrift "Friede auf Erden?" von 1930 ist eine deutliche Absage an den Krieg ausgesprochen, die auch das Recht zum Pazifismus als kirchlich zu schützende Gesinnung implizierte. Gottfried Traub und Paul Althaus, später aber auch die Deutschen Christen Wilhelm Kube und Alfred Bierschwale haben D. wegen seines Buches angegriffen, der seinerseits im Mai 1933 seine Verteidigung des Pazifismus abschwächte, wenn auch nicht zurücknahm. Nicht nur sein Friedensbuch hat D. den Argwohn der Nationalsozialisten eingetragen, sondern zudem sein Insistieren auf der Eigenständigkeit der Kirche gegen Tendenzen einer politisch-nationalen Vereinnahmung, das er etwa am 8. März 1933 in einem vertraulichen Rundbrief an die brandenburgischen Pfarrer unmißverständlich zum Ausdruck brachte. Dessen Deutlichkeit hat auch Karl Barth brieflich gelobt, zudem - wie Theodor Heuss - Empfehlungen für die Potsdamer Predigt gegeben, die auf die Opfer der von den Nazis begonnenen Gewaltherrschaft ebenso klar hinweisen müsse. In vielen Aspekten facettenreich, abwägend und differenziert beurteilt F. gerade jene mannigfach zitierte und kritisierte Rede und zeigt, inwiefern den "Möglichkeiten und der Einsicht des Predigers ... durch den Rahmen dieser Festtagspredigt offensichtlich Grenzen gesetzt waren" (401).

D. war im Frühjahr und Sommer 1933 heftigen Angriffen aus DC-Kreisen ausgesetzt, als nach dem Rücktritt von Hermann Kapler infolge der kommissarischen Ernennung von Ernst Stoltenhoff zum EOK-Präsidenten schließlich August Jäger zum Staatskommisssar für die preußischen Kirchen ernannt wurde, gegen dessen Kirchenpolitik er öffentlich Stellung nahm. Erst am 6. September 1933 wurde D. vom DC-dominierten Kirchensenat zwangsweise in den Ruhestand versetzt, verwaltete zunächst ein Pfarramt in San Remo, um dann seit Sommer 1934 an der Gründung des Pfarrernotbundes und in der Bekennenden Kirche mitzuwirken.

Die hier erneut gesuchte Antwort auf die Frage nach dem "Differenzpunkt zwischen Barth und Dibelius" (435-445) enthält neben mancherlei bedenkenswerten Aspekten deskriptive Längen; Sie läßt sich aus der theologisch-kirchenpolitischen Grundantinomie beider Positionen und inbesondere aus Barths Veröffentlichung "Die Not der ev. Kirche" (1931) unproblematisch beantworten, die F. bereits 374-380 sachgerecht behandelt.

Im Epilog (485-513) gibt F. nicht allein eine Bündelung seiner Studien, sondern auch einen Ausblick auf D.s Rolle nach 1945, wo angesichts der unverkennbaren Kontinuität in dessen Option dennoch Differenzierungen gefordert werden gegenüber dem vielfach vorherrschenden Eindruck, als sei vornehmlich er es gewesen, "der das Schiff der Kirche nach 1945 in den sicheren Hafen der Restauration anstatt auf die hohe und rauhe See der kirchlichen Erneuerung gesteuert habe" (492).

Neben der erneuerten, umfassenden Bibliographie von Dibelius ist besonders die Erstellung des 39 Seiten umfassenden Registers mit biographischen Angaben zu genannten Personen verdienstvoll, die allerdings quantitativ erheblich differieren. Corrigenda: F. Bodelschwingh d. Ä. hat erst 1872 die Leitung der vom Bielefelder Pfarrer Gottfried Simon gegründeten Anstalt für Epileptiker in Bethel übernommen; Ludwig Ihmels nahm bereits 1907 den ihm angetragenen Vorsitz in der Allg. Ev.-Luth. Konferenz an; Hans J. Iwand war Studieninspektor in Königsberg und wurde erst 1934 Prof. in Riga; Th. Kaftans Todesdatum ist der 26.11.1932; Hanns Lilje war 1935-1945 Generalsekretär des Luth. Weltconvents, Erwähnung verdiente vielleicht auch seine Präsidentschaft im Exekutivko-mitee des LWB (1952-57).

Angesichts der Fülle von zusammengetragenen und differenziert interpretierten, in ihrer Perspektive und Relevanz vielfach über D.s Biographie weit hinausgreifenden Aspekten bleiben alle kritischen Anmerkungen nachrangige Marginalien, die den eminenten, erhellenden Wert dieser gründlichen Studie für den Weg des Protestantismus im 20. Jh. nicht schmälern können. Die "Grundfarben" dieser provozierenden Lebensgeschichte, die F. in seiner vorzüglichen, materialreichen und differenziert abwägenden Studie gebündelt hat, sind weder schwarz und weiß, noch - wie Th. Nipperdey aphoristisch anmerkte - "grau, in unendlichen Schattierungen". Sie ist einfach anregend bunt.