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Ausgabe:

April/2015

Spalte:

344–346

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schüler, Sebastian

Titel/Untertitel:

Religion, Kognition, Evolution. Eine religionswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Cognitive Science of Religion.

Verlag:

Stuttgart: W. Kohlhammer 2012. 286 S. = Religionswissenschaft heute, 9. Kart. EUR 34,80. ISBN 978-3-17-021833-8.

Rezensent:

Andreas Klein

Das Buch von Sebastian Schüler, hervorgegangen aus seiner Dissertation, ist, wie bereits der Untertitel zu verstehen gibt, eine Auseinandersetzung mit der Cognitive Science of Religion (kurz CSR) unter religionswissenschaftlichen Gesichtspunkten. Die CSR hat bislang noch keine nennenswerte Verortung insbesondere in der Religionswissenschaft erfahren. Darum bemüht sich der Vf. um einen »integrativen Ansatz« (43) der Einbeziehung zahlreicher Disziplinen. Dabei wird Religionswissenschaft verstanden als ganzheitliche (holistische) Erforschung von Religion als sozialer Gegebenheit. Der Vf. geht dabei kritisch den Prämissen der CSR nach und gibt dabei einen Überblick über klassische Ansätze der CSR, wobei stets der zentrale Bezug auf Rituale gewährleistet bleibt, weil diese für den Vf. eine zentrale soziale Funktion besitzen. Anknüpfung und Widerspruch greifen hier ineinander, wobei insbesondere das Konzept von »embodiment« eine große Rolle für den Vf. spielt; Kognitionen sind stets körperlich und sozial situiert (42). Nicht anfreunden kann sich der Vf. jedoch mit dem Ziel einiger Vertreter der CSR, auf der Grundlage evolutionär entwickelter mentaler Funktionsweisen und kognitiver Prozesse religiöse Vorstellungen und religiöses Verhalten zu erklären, also letztlich zu reduzieren (vgl. 27). Damit steht auch wieder der Reduktionismusvorwurf im Raum. Eine individualistische Perspektive müsste vielmehr durch eine soziologische ersetzt oder zumindest ergänzt werden. Der besagte Reduktionismus komme für den Vf. auch in einem gehirnbiologischen Materialismus zum Ausdruck, welcher Körper letztlich auf Gehirn reduziert.
Freilich sind damit auch schon die gesamten Problemfelder aufgespannt, die gegenwärtig immer noch in der philosophy of mind diskutiert werden. Insofern sind die Einwände keineswegs neu und lassen sich in der breiten Leib-Seele-Debatte hinlänglich studieren. Es ist freilich begrüßenswert, dass diese Diskussion nun scheinbar auch in der Religionswissenschaft angekommen zu sein scheint. Prinzipiell stünde aber einem Ansatz nichts entgegen, trotz eines prinzipiellen Reduktionismus soziologische Gesichtspunkte als zentral zu verorten. Reduktionismus meint ja nicht Ausschaltung oder Wegerklärung von irgendetwas, sondern zunächst einmal nur, dass höherstufige Prozesse und Eigenschaften auf tieferliegende prinzipiell jedenfalls reduziert werden können – unabhängig davon, ob das auch faktisch durchführbar ist. An dieser argumentativen Schnittstelle lassen sich dann m. E. auch gewisse Unsicherheiten ausmachen, wenn etwa gesagt wird, dass nur ein holistischer Ansatz »den Menschen (! und nicht etwa Religion[en]) sowohl als natürliches wie auch als kulturelles beziehungsweise soziales Wesen zu erfassen« erlaubt, »wobei die beiden Bereiche nicht als völlig geschieden voneinander angenommen werden können« (83). In der Philosophie des Geistes ist man über solche äußerst vagen Formulierungen, die zudem eine genaue Verhältnisbestimmung verweigern, längst hinaus. Dies zeigt sich auch noch einmal daran, dass die »physische Welt« den Menschen lediglich »mitbestimm[t]« (ebd.) bzw. »Einfluss« nimmt (z. B. 160). Dementsprechend wird sowohl ein Reduktionismus wie ein Naturalismus abgelehnt (84) – wobei der Begriff »Reduktion« beim Vf. insgesamt recht schillernd verwendet wird.
Der Vf. verortet seinen Ansatz in einer Simulationstheorie, die einer modularistischen entgegengesetzt wird. Diese Gegenüberstellung wird dann im zweiten Teil des Buches ausführlich erörtert. Bei der modularistischen Konzeption ergäbe sich, so der Vf., Religion gewissermaßen als Nebenprodukt – und damit als Epiphänomen – bei der Herausbildung kognitiver Module, die zu­nächst anderen Zwecken dienen. Diese Ansätze müssten jedoch erklären, wie es überhaupt zur universellen Verbreitung kultureller Ideen und damit auch von Gotteskonzepten kommt. Dabei wird an den vom Vf. herangezogenen Konzeptionen einer modularis-tischen Konzeption kritisiert (z. B. Barrett, Guthrie, Atran, Boyer, Sperber, Lawson, McCauley, Whitehouse), dass diese zu stark chris­tentumszentriert seien und so der Komplexität und Vielfalt religiöser Vorstellungen nicht gerecht werden. Die Simulationstheorie konzentriert sich dagegen auf mentale Repräsentationen anderer in neuronalen Netzwerken, wobei auch die viel beschworenen Spiegelneuronen eine große Rolle spielen sollen. Insgesamt wird hier die soziale Funktion von Religionen hervorgehoben, also die Dienlichkeit von Religionen für soziale Interaktionsprozesse, wodurch ein evolutionärer Vorteil entsteht. U. a. die Gesichtspunkte von »teuren Signalen«, »Gruppenselektion« und von »Synchronisierungsprozessen« werden hier eigens erörtert. Es sei jedoch er­wähnt, dass der Aspekt des evolutionären Vorteils bereits von vielen Autoren unterstrichen wurde, zuweilen, wie etwa bei Richard Dawkins, sogar in durchaus religionskritischer Abzweckung. Die Rede etwa von Religionen als Kontingenzbewältigungsstrategien (Wuchterl), also mit einem Sinnvorteil, ist aber längst etabliert. Richtig ist aber auf jeden Fall, dass gegenüber klassischen Konzeptionen durchaus Kritik angebracht ist, auch etwa im Blick auf einen zu engen, substantialistischen Religionsbegriff (vgl. 157), was aber auch seitens einer funktionalen oder kulturwissenschaftlichen Religionswissenschaft längst betont wird. Ähnliches gilt im Blick auf die weitgehende Ausblendung des Körperlichen.
Der dritte Teil der Arbeit bezieht sich auf Theorien kultureller Evolution (u. a. auch Tomasello, Durkheim, Mead, Blumer). Auch hier bleibt der Vf. seinen bereits eingeschlagenen Argumentationslinien treu, wobei jedoch auch Emergenz- und Autopoiesekonzepte zu einer dynamic systems theory integriert werden. Auch hier würden sich freilich wieder weitläufige Diskurse aufspannen, denkt man etwa auch hier wieder an die philosophy of mind und die äußerst grundlegende wie informative Arbeit zum Emergenzbegriff von Achim Stephan. Im Blick auf Organismus und Umwelt vertritt der Vf. eine koevolutive Position, wonach sich beide Bereiche wechselseitig aneinander anpassen. Besonders im Ritual wird nun eine zentrale Verbindungslinie zwischen Sozialem und Kognition herausgestellt, da hier Formen von Synchronisation bedeutungsvoller Verhaltensmuster vorliegen, die sich gerade durch Wiederholung und Institutionalisierung auszeichnet (vgl. 257).
Das vorliegende Buch lässt sich für Interessierte in diesem Fragebereich sehr empfehlen, insbesondere aufgrund des hohen Informationswertes. Gleichwohl rekurriert der Vf. hier immer wieder auf Themenfelder, die in anderen Theoriekontexten bereits stark etabliert sind und dort zu einer erheblichen Literaturproduktion mit entsprechenden Differenzierungspotentialen geführt haben. Diese diffizilen Differenzierungsmöglichkeiten erscheinen im vorliegenden Werk doch unterrepräsentiert, was rasch zu holzschnittartigen Verzeichnungen führen kann und auch zu Unsicherheiten der genauen Selbstpositionierung. Dass von der CSR für die soziale Perspektive letztlich wenig zu lernen sei, wie der Vf. betont (269), wird man nicht so platt stehenlassen können und unterstreicht wohl noch einmal den Überlegenheitsgestus bzw. -anspruch der eigenen kontrastierenden Position. Dass es immer auch besser geht, als es eben schon ist, ist eine Binsenweisheit, die aber gerade dazu führen sollte, an Brückenbildungsprozessen zu arbeiten zum Fortschritt des jeweiligen Sachverständnisses. Dass neuere Einsichten und Erkenntnisse in die gesamte Diskurslage einzubeziehen sind, ist selbstverständlich und ist auch von Reduktionisten und Naturalisten zu erwarten – und wird auch geleistet. Dennoch würde ein stärkerer Blick in angrenzende Diskurse deutlich mehr Vorsicht in der Gegenüberstellung abnötigen, da etwa in der Philosophie des Geistes derzeit ein ganzes Bündel von Konzeptionsangeboten vorliegt, das berücksichtigt werden sollte. Dass dort häufig von einem nichtreduktionistischen Physikalismus gesprochen wird, ließe sich auch hier fruchtbar machen. Gerade der Reduktionismusvorwurf ist ja mittlerweile so allgegenwärtig, dass er schon inflationär ist. Unbeschadet davon sollten die Überlegungen dieses Buches weiter Eingang in die religionswissenschaftliche Beschäftigung finden und darum kann das Werk geneigten Lesern nur empfohlen werden.