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Ausgabe:

April/2015

Spalte:

342–344

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Norenzayan, Ara

Titel/Untertitel:

Big Gods. How Religion Transformed Co­operation and Conflict.

Verlag:

Princeton: Princeton University Press 2013. 272 S. m. Abb. Geb. US$ 29,95. ISBN 978-0-691-15121-2.

Rezensent:

Leif H. Seibert

Der Sozialpsychologe Ara Norenzayan widmet sich in seinem Buch dem Wechselspiel zwischen kooperativem Verhalten und der prosozialen Funktion der Hoch- bzw. Weltreligionen. Bemerkenswert ist dabei, dass das Buch in zweierlei Weisen zu beeindrucken vermag: Erstens entwickelt N. über die acht Hauptkapitel hinweg ein Argument, das den Beitrag von Hochreligionen zu Gesellschaftsbildung und -stabilisierung in Geschichte und Gegenwart systematisch zu bestimmen sucht; zu jedem dieser acht Argumentationsschritte wird eine zentrale These präsentiert, die sodann über reichhaltiges empirisches Material belegt wird, wodurch der Lesende zugleich einen Überblick über eine Vielzahl aktueller kognitionswissenschaftlicher und (sozial-)psychologischer Fallstudien gewinnt; in diesem Sinne darf Big Gods zweitens – und vielleicht vor allem – als eine herausragende kompilatorische Arbeit gelten.
Den Ausgangspunkt der Studie bildet die weit gefasste Fragestellung nach den Bedingungen für den Übergang von kleinen (Stammes-)Gemeinschaften zu großen Gesellschaften sowie den Ursachen dafür, dass jene Gesellschaften sich als Erfolgsmodell menschlichen Zusammenlebens haben etablieren können – ob­wohl doch, so die Beobachtung N.s, in einem weitgehend anonymen Interaktionsgefüge die Gründe für Kooperation, Vertrauen, friedvolles Miteinander keineswegs auf der Hand lägen. N. tritt mit der These an, dass die Verbreitung bestimmter religiöser Ideen und erfolgreiche gesellschaftliche Kooperation in großem Maßstab einander wechselseitig bedingen.
Jene Ideen gewinnen im weiteren Verlauf des Buchs an Kontur: Die »Big Gods«, wie N. die Hauptgottheiten der Weltreligionen bezeichnet, fungieren im Rahmen religiöser Praxis als übersinn-liche Wächter (supernatural monitors), als allwissende Richter über Gut und Böse, die prosoziales Verhalten belohnen und – noch wichtiger – asoziales Verhalten bestrafen. »Watched people are nice people«, so weiß der Volksmund, und anhand experimenteller Fallstudien weist N. nach, dass dieses Sprichwort selbst dann gilt, wenn Menschen sich bloß unter Beobachtung wähnen.
Im weiteren Verlauf des Werks werden auf der Grundlage dieser funktionalen Deutung der »Big Gods« einige Eigenheiten religiöser Praxis näher beleuchtet. N. zeigt zunächst, dass prosoziales Verhalten durch bestimmte Techniken, die den überirdischen Wächter in Erinnerung rufen, konstruktiv ausgelöst werden kann (»Religion is more in the situation than in the person.«) und dass die von (vermeintlicher) Bestrafung ausgehenden Effekte stärker sind als die, die auf Hoffnung basieren (»Hell is stronger than heaven.«). Ausgehend von diesen individualpsychologischen Befunden wendet er sich dann der Sozialpsychologie zu, nämlich den bereits im Titel angekündigten Effekten auf gesellschaftliche Kooperation und Konflikte.
Das Bekenntnis wird ihm hier zum impliziten Gesellschaftsvertrag: Gläubige, die ihre Anhängerschaft gegenüber einem der »Big Gods« plausibel machen, signalisieren damit, dass sie sich einem bestimmten Sittencodex verpflichten – und können so leichter das Vertrauen anderer erringen (»Trust people who trust in God.«). Über diese Deutung wird N. dann auch verständlich, weshalb viele religiöse Praktiken und Rituale aufwändig und scheinbar nutzlos sind und weshalb sich Gläubige mit Vorschriften belasten, die keinen unmittelbaren Zweck zu erfüllen scheinen; über objektive Kosten jener Praktiken werde hier subjektive Glaubwürdigkeit generiert: Je extravaganter und kostspieliger die Praxis, desto überzeugender signalisiert sie ›echte‹ Zugehörigkeit und nicht bloßes Lippenbekenntnis (»Religious actions speak louder than words.«), wobei über derartige Praktiken neben der Wahrhaftigkeit des Gläubigen zugleich auch die des Glaubenssystems reproduziert wird (»Unworshipped Gods are impotent Gods.«).
Damit ist die Genese von Gesellschaften und von Glaubenssystemen wechselseitig verschränkt: Wenn eine Gruppengröße er­reicht ist, in der Vertrauen nicht mehr in Punkt-zu-Punkt-Beziehungen ge­neriert werden kann – wenn etwa Geschäftspartner einander nicht mehr persönlich kennen –, dann geht von ostentativer An­hängerschaft eine vertrauensgenerierende Funktion aus (»Big Gods for Big Groups.«). Wer sich auf diesem Wege einen Vertrauensbonus sichern kann, hat dadurch einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen (»Religious groups cooperate in order to compete.«). In diesem Sinne erlaubt der Glaube an die »Big Gods« weitreichende gesellschaftliche Kooperation – und zugleich gedeihen genau die Gesellschaften, in denen jene Glaubenssysteme reproduziert werden.
Dass diese Erklärung nicht den vielbeschrieenen ›Kampf der Kulturen‹ impliziert, erläutert N. schließlich im letzten Kapitel seines Buches. Hier zeigt er, dass der vertrauensstiftende Effekt sich über verschiedene religiöse Traditionen hinweg erstreckt, dass also etwa die Frage, ob jemand Moslem oder Christ sei, nachrangig ist gegenüber der Frage, ob er überhaupt an einen »Big God« glaubt. Starke Ausgrenzungseffekte beobachtet N. hingegen gegenüber Atheisten, und das vornehmlich in solchen Gesellschaften, in denen Atheismus eine Ausnahmeerscheinung ist; in zunehmend säkularen Ländern hätten indessen, so N., stabile staatliche Insti tutionen die Rolle des Sittenwächters – und mithin die gesellschaftliche Funktion von Religion – weitgehend übernommen. Was diese Tangente zu Atheismus und Säkularisierung nötig macht, ist der wohl offensichtlichste Einwand gegen die Rede von der prosozialen Funktion von Religion, dass nämlich heute viele der säkularsten Gesellschaften auch jene mit dem stärksten sozialen Netz sind. Angesichts dieses gewichtigen Einwands dient hier die Analogie von »Big Gods« und »Big Governments« vor allem als Stütze für die zuvor geführten Argumente.
Die Argumentation ist stringent: Wer sich auf N.s Prämissen einlässt, dem bietet er einen breiten religionspsychologischen Blick. Die referierten Fallstudien verdienen Beachtung, und aufgrund der Art und Weise, wie N. Theorie und Empirie verknüpft, erscheint oftmals selbst vermeintlich Altbekanntes in neuem Licht. Dass das gesamte Buch trotz der vielen – dabei allerdings stets sachdienlichen und konzisen – Rekurse auf Belegstudien sehr gut lesbar (und streckenweise geradezu amüsant geschrieben) ist, zeigt neben der fachlichen auch die hohe didaktische Kompetenz N.s. Einzig das letzte Kapitel zu Säkularisierung und Atheismus ist, wohlgemerkt gemessen an dem hohen Standard des Gesamtwerks, nur bedingt überzeugend. Trotz dieses Wermutstropfens ist Big Gods ein herausragendes Buch, das auf der Grundlage solider empirischer Befunde eine Vielzahl origineller (und dabei trotzdem anschlussfähiger) Deutungen präsentiert – und zugleich den state of the art einer keineswegs nur für Religionspsychologen wichtigen Forschungslinie.