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Ausgabe:

April/2015

Spalte:

340–342

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Graf, Friedrich Wilhelm, u. Heinrich Meier [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Politik und Religion. Zur Diagnose der Gegenwart.
M. Beiträgen v. G. Agamben, R. C. Bartlett, H. Fradkin, G. L. Freeze, F. W. Graf, H. U. Gumbrecht, J. Habermas, H. Joas, H. Meier, P. Schäfer.

Verlag:

München: C. H. Beck 2013. 324 S. = Beck’sche Reihe, 6105. Kart. EUR 14,95. ISBN 978-3-406-65297-4.

Rezensent:

Gottfried Küenzlen

Es ist das Schicksal von Sammelbänden, dass eine kurze Rezension niemals eine auch nur knappe Wiedergabe, Würdigung und Kritik der einzelnen Beiträge liefern kann. Dies ist im Falle dieses Buches besonders zu bedauern. Denn um es summarisch vorwegzunehmen: Jeder der hier versammelten Beiträge bietet – in je eigenem Zugriff – vielfach belehrende Information, reflexive Durchdringung und intellektuelle Anregung, gerade auch dort, wo mitunter kritische Rückfragen sich aufdrängen.
Dass der Band allein schon seines Themas wegen vorgängige Aufmerksamkeit beanspruchen darf, ist evident: Das Verhältnis von Religion und Politik ist nahezu zu einer Schicksalsfrage geworden, der auch innereuropäisch nicht mehr auszuweichen ist. Wir verstehen unsere inneren und äußeren, politischen und kulturellen Lagen nicht mehr, ohne auch die Macht des »Faktors Religion« wahrzunehmen.
Das Buch nähert sich dem Thema in wesentlich zwei Perspektiven an, die sich in einzelnen Beiträgen auch unabdingbar ineinander mischen. Zum einen geht es um eine diagnostische Bestandsaufnahme von historischen und gegenwärtigen religionspolitischen Verhältnissen in unterschiedlichen Ländern und Kulturen: USA (Hans Ulrich Gumbrecht), Russland (Gregory L. Freeze), Islam und Islamismus (Hillel Fradkin), Theokratie in der jüdischen Antike (Peter Schäfer), Klassische Antike (Robert C. Bartlett). Dazu treten zum anderen eher reflexiv-religionstheoretische Beiträge von Giorgio Agamben (»Archäologie des Befehls«), Jürgen Habermas (»Politik und Religion«), Hans Joas (»Sakralisierung und Entsakralisierung«) und Heinrich Meier (»Epilog. Politik, Religion und Philosophie«). Zudem ist die einen eigenständig-positionellen Beitrag liefernde »Einleitung« von Friedrich Wilhelm Graf zu nennen.
Auf folgende Beiträge sei wegen ihrer besonderen Anziehungskraft (zumindest auf den Rezensenten) eigens verwiesen – ohne Rang und Bedeutung der übrigen Texte des Buches in Frage zu stellen:
Hillel Fradkins Aufsatz »Die lange Suche nach dem Islamischen Staat« möchte man fast zur Pflichtlektüre erklären: Hier gelingt es F., in herkunftsgeschichtlicher und gegenwartsdiagnostischer Perspektive, eine überzeugende Beschreibung und Analyse des gegenwärtigen politischen Islam und damit des Islamismus zu geben. Kennzeichen des Islamismus ist eine bestimmte Unterordnung der Politik unter die Religion, in deren Konsequenz die Losung vom »Islamischen Staat« liegt – als dem Ideal- und Zielbild der islamis-tischen Bewegung. Jenseits der Frage, ob ein solcher Staat in der Geschichte des Islam je existiert hat oder ob er je existieren könnte: Er ist die politikbestimmende Doktrin der islamistischen Bewegung mit ihrem »weitreichenden und beispiellosen Erfolg« (131) seit Jahren bis heute. So informativ der Fradkinsche Beitrag im Einzelnen ist, seine Bedeutung reicht weiter: F. liefert eine realistische Analyse – die Gefährdungen meidend, die unsere Diskurse so häufig prägen: hilfloser Alarmismus gegenüber »dem« Islam und illusionistische Verharmlosungsstrategien, typisch für Teile der deutschen Kulturintelligenz. So fraglich eine künftige Realisierung des »Islamischen Staats« auch erscheinen mag, so gilt für F. doch auch: Wenn diese Doktrin, gespeist von der programmatischen Abwehr von kultureller Moderne und angetrieben von dem generellen Anspruch muslimischer Vorherrschaft, doch ihre Realisierung erführe, dann hieße dies: »Die notwendige Folge einer solchen Vorherrschaft wären Niederlage und Niedergang derjenigen, die die Islamisten fast immer als ihre wichtigsten Rivalen und Feinde be­trachtet haben – nämlich des Westens.« (154)
Das Faszinosum des Essays von Robert C. Bartlett (»Religion und Politik in der klassischen politischen Wissenschaft«) liegt vorrangig darin: Ausgehend von der Einsicht, dass eine ihrer selbst nicht mehr gewisse säkulare Moderne vor die Frage gestellt ist: »Was fehlt?«, geht B. den Weg zurück »gleichsam hinter die Moderne« (168), um im Werk des Aristoteles Spuren einer »angemessenen Beziehung zwischen Religion und Politik« (168) aufzudecken. Das, was der säkularen Moderne »fehlt« und kaum noch als Frage zugänglich ist, nämlich »welchen Status das Interesse an Gott in der menschlichen Seele hat« (168), kann in der Distanz eines Studiums der klassischen politischen Wissenschaft, gerade auch in religionspolitischer Dimension bewusst werden.
Nachdrücklich ist auf den »Epilog« (»Politik, Religion und Philosophie«) von Heinrich Meier hinzuweisen. M. schreibt hier der Philosophie im Geflecht des Diskurses über Religion und Politik eine eigenständige Aufgabe »sui generis« zu. Genauer: Gerade das Phänomen des politisch-religiösen Radikalismus (»Fundamentalismus«), wie er insbesondere in den islamistischen Bewegungen sich zeigt, zwingt die Philosophie zu ihrer eigenen Aufgabe. Diese besteht nicht zuletzt darin, den Fundamentalismus nicht vorrangig als Frage staatlicher Ordnungspolitik zu sehen, da der liberale Staat »religiösen Fundamentalismus nicht zulassen« könne (Habermas, 309), vielmehr: Die Philosophie muss auf einer Auseinandersetzung bestehen, die den Selbstanspruch auf Wahrheit auch des religiösen Fundamentalismus wahr- und ernstnimmt. Die Philosophie kann sich – ohne Selbstpreisgabe ihrer raison d’être – nicht mit einer Rolle zu­friedengeben, in der »ihr zugewiesen wird, die moralischen Gehalte der religiösen Rede zu übersetzen und in den Stand der politisch erwünschten Verallgemeinbarkeit zu erheben« (310).
Schließlich die »Einleitung« von Friedrich Wilhelm Graf: Sie ist ein über einleitungsübliche Anmerkungen weit hinausreichender Beitrag zu Grundfragen des modernitätstypischen Verhältnisses von Religion und Politik, der historische Perspektive und Gegenwartsdiagnose verbindet. Die Fülle der beachtlichen Hinweise und Einsichten dieser »Einleitung«, aber auch der kritischen Rück-fragen, die sie provoziert (und gewiss auch provozieren soll), ist hier nicht wiederzugeben. Nur folgende ausgewählte Stichworte: G. betont den »Eigensinn« des Religiösen. In ihm zeigt sich zu­nächst die »notorische Ambivalenz« allen religiösen Glaubens, der Trost und Hoffnung und religiöse Gewaltbereitschaft stets in sich birgt. Sodann: Gerade wegen dieses »Eigensinns« der Religion ist der funktionale Reduktionismus, der auf die sozialintegrative Funktion der Religion setzt, ein »hoch ambivalentes Projekt, das die opake Sperrigkeit […] religiösen Bewußtseins vorschnell abzublenden droht. Niemand ist ernsthaft fromm, weil es sozialen Nutzen für ihn selbst oder gar fürs Gemeinwesen abwirft« (37 f.). – Wer wollte G. nicht zustimmen, wenn er »in der religiös-weltanschaulichen Neutralität oder Säkularität des modernen Verfassungsstaates eine große freiheitsdienliche Errungenschaft« (27) sieht – als Erwerb gelungener Aufklärung! Aber man darf fragen, ob G. sich den Grundfragen, die sich mit der »Säkularität des Staates« verbinden, wirklich stellt. So ist z. B. die bloße Abwehr eines Denkens, das den Staat »in irgendwelchen Kulturwerten« (27) verankert sieht, noch keine Antwort auf das Problem, das doch Risiko, Dilemma und Drama des säkularen Staates ausmacht: Der freiheitliche Staat ist auf eine ihm vorausliegende, gelebte Kultur angewiesen, die er doch – ohne Preisgabe seiner selbst – nicht verordnen kann. Die – fast schon pflichtgemäße – Verwerfung einer (gewiss diskussionsbedürftigen) »Leitkultur« (26) reicht nicht aus, um einen diskursoffenen Zugang zu Grundfragen des säkularen Staates (etwa das Verhältnis des Politischen zum Vorpolitischen) zu finden.
Zusammengefasst: Ein nachdrücklich zu empfehlender Sammelband liegt vor, der gediegene Information, hohes Reflexionsniveau und positionelles Profil in sich vereint!