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Ausgabe:

April/2015

Spalte:

338–340

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Delgado, Mariano, Holderegger, Adrian, u. Guido Vergauwen[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Friedensfähigkeit und Friedensvisionen in Religionen und Kulturen.

Verlag:

Stuttgart: W. Kohlhammer 2012. 372 S. m. 1 Tab. = Religionsforum, 9. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-17-022342-4.

Rezensent:

Martin Leiner

In den Medien und in zahlreichen Wissenschaftsmilieus werden Religionen seit mehr als einem Jahrzehnt vorrangig mit Gewalt, Terrorismus und Krieg in Verbindung gebracht. Erst langsam formiert sich ein interdisziplinärer und internationaler Konsens, dass Religionen eine zumindest ebenso starke den Frieden fördernde Seite besitzen.
Die Universität Fribourg in der Schweiz veranstaltete im April 2011 ihr sechstes Religionsforum. Die Beiträge dieses Forums werden in dem vorliegenden Band veröffentlicht. Sie sind von den Herausgebern geschickt auf drei Themen aufgeteilt worden: 1. Grundfragen der Friedensfähigkeit von Menschen, von Religionen und Ge­sellschaften, 2. Wichtige Friedensvisionen und 3. Ausgewählte Bei­-spiele konkreter Friedensarbeit heute. Nicht weniger als 22 Autoren geben einen überaus informativen und teilweise auch innovativen Überblick über sehr unterschiedliche Aspekte der Thematik. Innovativ ist beispielsweise der Beitrag des Tübinger Politikwissenschaftlers Andreas Hasenclever. Er geht von Wolfhart Pannenbergs Religionsdefinition aus, die die Hauptaufgabe der Religion darin sieht, das Unendliche mit dem Endlichen zu vermitteln. Politische Gewaltkonflikte sind deshalb den Religionen fremd. Nur durch Missbrauch und Verleugnung ihrer eigentlichen Aufgabe werden Religionen zu Gewaltfaktoren. Religionen sind dann mögliche Friedensfaktoren, wenn ihre weltliche Interessenlosigkeit Religionsvertreter zu vertrauenswürdigen Mediatoren in Konflikten werden lässt.
Neue Aspekte zeigt Otmar Keel, der den Antikanaanismus des Alten Testaments und die Höllenvorstellungen der christlichen Kirchen als gefährliche Traditionen kennzeichnet, die immer wieder als Waffen gegen andere benutzt werden können. Eine Reihe der Aufsätze im 1. Teil argumentiert mit biologischen, ethnologischen und neurophysiologischen Theorieelementen (Markus Vogt: Soziobiologie und Verhaltensforschung; Otto Kallscheuer: Verhaltensforschung und Ethnologie; Adrian Holderegger: Neurowissenschaften). Je nach diesen Theorien unterstreichen sie die unheil-bare Ambivalenz des Menschen im Bezug auf Gewalt (besonders Vogt) oder die empathischen Fähigkeiten des Menschen (besonders Holderegger). Bei allen Autoren werden philosophische Konzepte (Rousseau, Kant usw.) herangezogen, um der kulturellen Überformung der natürlichen Gegebenheiten Rechnung zu tragen.
Besonders aktuell und im deutschen Kontext weniger bekannt ist die Friedenskonzeption von Jeremy Bentham, die Jean Claude Wolf im Vergleich zu Kant darstellt. Benthams Theorie erscheint dabei als derjenigen von Kant überlegen, insbesondere was ihren fehlenden moralischen Rigorismus und die Ablehnung eines Be­strafungskrieges anbelangt. Die konsequente Folgenorientierung macht ein flexibleres Verhalten gegenüber den Konfliktgegnern möglich. Konkret forderte Bentham: die Errichtung eines internationalen Schiedsgerichts für Friedensfragen, ein europäischer Zu­sammenschluss als »Pionier der League of Nations«, die Abschaf fung der Geheimdiplomatie, was wohl auch die Abschaffung der Geheimdienste mit einschließt, Pressefreiheit, Abrüstung und Emanzipation der Kolonien. Über diese, auch heute aktuellen Punkte hinaus zeigt Bentham die ökonomische Unrentabilität von Kriegen. »Those who do not love taxes should not love war« (81). Denen, die denken, dass man diesen Satz den amerikanischen Re­publikanern vor die Stirn nageln sollte, hält im 2. Teil des Buches Ulrich Körtner in einem stark exegetisch orientierten Beitrag entgegen, dass auch die Identifizierung Bushs mit dem Bösen ein gefährlicher Dualismus ist (131). Körtner betont zu Recht die Unterscheidung des irdisch möglichen, stets partikularen Friedenszustandes vom Reich Gottes. Er warnt auch mit guten Gründen vor letztlich naiven Friedensideologien. Warum und in welchem exakten Sinne Körtner im Gegensatz zur katholischen Lehrverkündigung Weltfrieden für vorendzeitlich unmöglich hält, wird aus seinen Ausführungen nicht so recht deutlich. Das Argument, dass der Mensch Sünder ist und bleibt (so Körtner, 127), muss ja nicht unbedingt implizieren, dass er bis ans Ende aller Tage den Wahnsinn der Kriege weiterführen muss. Ein Gott, der mit einem solchen »eschatologischen Vorbehalt« (124) mit der Welt umginge, wäre dann doch wohl ein missgünstiger, mit dem Ende der Menschheit spielender Gott. Körtners Text lässt sich deshalb am besten mit den Darstellungen des katholischen Lehramts zu Friedensfragen (Ursula Nothelle-Wildfeuer, Gerhard Kruip, Heinz-Gerhard Justenhoven) kontrastieren. Insbesondere der Text von Justenhoven zeigt, dass spätestens Pius XII. die Aufgabe formuliert hat, »den Krieg als Mittel der zwischenstaatlichen Konfliktregulierung zu überwinden« (264). Überhaupt macht der Beitrag von Justenhoven deutlich, wie zukunftsweisend die Aussagen der Päpste seit Leo XIII. waren. Bereits Benedikt XV. hatte in seinem Friedensappell am 1.8.1917 die Gründung von »vereinten Nationen« (262) gefordert, durch die sich die Völker künftig gegen Krieg schützen können. Zukunftsweisend war auch, dass Pius XII. das Veto-Recht im UN-Sicherheitsrat ablehnte. Johannes XXIII. führte die Idee des globalen Gemeinwohls in die katholische Friedens- und Soziallehre ein. Beim 2. Vaticanum forderte Kardinal Ottaviani bereits eine weltweite Republik ( Res publica universalis) als Ziel. Johannes Paul II. vollzog den Wandel von einer naturrechtlichen zu einer menschenrechtlichen Legitimitätstheorie.
Neben diesen Texten bietet der Band allerlei Interessantes. Reinhard Schulze führt beispielsweise Argumente dafür an, dass die Formel »Islam heißt Frieden« für Konflikte mit Nichtmuslimen eher problematisch ist, weil der Frieden die Bekehrung zum Islam zur Voraussetzung hat. Erfolgversprechender ist eine Hudna. Karénina Kollmar-Paulenz zeigt die Friedensvision des Dalai Lama und ihre Inspiration durch Mahatma Gandhi auf. Heiner Klemme, Leiter der Kant-Forschungsstelle in Mainz, präsentiert seine sehr kritische Kantinterpretation: »Kant ist weder ein klassischer Menschenrechtstheoretiker, noch ist er ein klassischer Rechtsstaatstheoretiker« (202). Walter Lesch hebt die zivilisatorischen Verdienste des Pazifismus hervor. Unter den mehr praktischen Beiträgen des 3.Teils findet man eine Reihe von Anregungen unter anderem zur Stiftung Weltethos, zur Gemeinschaft Sant’Egidio oder zum Internationalen Roten Kreuz. Einen besonders gut strukturierten Überblick über den interreligiösen Dialog im Nahen Osten bietet der Beitrag von Thomas Scheffler. Nicht zufällig sprechen mehrere Beiträge von der Bedeutung der Versöhnung und Vergebung (u. a. Keel, Körtner, Gebhardt). Der abschließende Werkstattbericht von Richard Friedli über transitional justice und Versöhnungsrituale richtet den Blick auf weitere und noch konkretere Beiträge von Religionen zum Frieden. Auch in diesem Beitrag wird ein großes Innovationspotential deutlich.