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Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

757 f

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Friedrich, Norbert

Titel/Untertitel:

"Die christlich-soziale Fahne empor!" Reinhard Mumm und die christlich-soziale Bewegung.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1997. 320 S. gr. 8 = Konfession und Gesellschaft, 14. Kart. DM 69,-. ISBN 3-17-014978-4.

Rezensent:

Michael Häusler

Der soziale Protestantismus wurde in den vergangenen Jahren durch eine wachsende Zahl von Publikationen zur Kirchen-, Wohlfahrts- und speziell Diakoniegeschichte in das Blickfeld einer größeren wissenschaftlichen Öffentlichkeit gerückt. Im Hinblick auf das ausgehende Kaiserreich und die Weimarer Republik gewinnt das Bild zunehmend Konturen und läßt Differenzierungen innerhalb des Sozialprotestantismus zu. Dazu dient auch die vorliegende Studie von Norbert Friedrich, die - angeregt und begleitet von Günther Brakelmann - von der geschichtswissenschaftlichen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum 1995/96 als Dissertation angenommen wurde. Sie ist weit mehr als eine bloße Biographie von Reinhard Mumm, der seit Stoeckers Tod die Schlüsselrolle innerhalb der christlich-sozialen Bewegung einnahm. Die Geschichte des sozial-konservativen Protestantismus in Deutschland wird vom Vf. anhand von dessen wichtigster politischer Führergestalt biographisch erschlossen.

Mumm (1873-1932) verstand sich in mehrfacher Hinsicht als Stoeckers Erbe und wurde von den Christlich-Sozialen auch so angesehen. Seit 1900 organisierte er als Generalsekretär die Arbeit der Freien Kirchlich-sozialen Konferenz, die seit 1897 nach der Trennung Stoeckers und Ludwig Webers vom Evangelisch-sozialen Kongreß das Sammelbecken des konservativen Lagers innerhalb des sozialen Protestantismus bildete und sich seit 1918/19 Kirchlich-sozialer Bund nannte. 1902 wurde er Schriftführer der Christlich-sozialen Partei, für die er 1912 in Stoeckers früherem Wahlkreis Siegen in den Reichstag einzog, dem er mit Unterbrechungen bis zu seinem Tod angehörte.

Stoeckers Ziel der "Verchristlichung des Volkslebens" suchte Mumm unter den veränderten Bedingungen der Weimarer Republik umzusetzen. Wesentliche theologisch-philosophische Anregungen erhielt er wie die anderen christlich-sozialen Protagonisten dabei von dem Rostocker Systematiker Friedrich Brunstädt. Für die Christlich-Sozialen gab es "kein Gebiet sittlichen Handelns, das der Autorität Christi nicht untersteht" (278). Diese Auffassung führte unmittelbar zum Ruf nach politischer Partizipation, zur Mitwirkung des Christen am Kampf der guten Mächte gegen die bösen. Die Christlich-Sozialen sahen in dieser Einflußnahme auf den öffentlichen politisch-kulturellen Diskurs eine diakonische Aufgabe der Christen für die Welt. Das christlich-soziale Engagement war ihnen somit "öffentliche Mission" und gerade als solche ein wesentlicher Bestandteil der Inneren Mission. Bis kurz vor seinem Tod kämpfte Mumm, der selbst zu den einflußreichsten Mitgliedern des Central-Ausschusses für Innere Mission gehörte, gegen alle Tendenzen, die organisierte Innere Mission auf rein karitative, wohlfahrtspflegerische Arbeit zu begrenzen. Es gelingt dem Vf. auf eindrucksvolle Weise, diese biographische Verbindung von sozialer Politik und Innerer Mission als stringente konzeptionelle Einheit anschaulich herauszuarbeiten.

Die Arbeit gliedert sich in sieben ungleichgewichtige Kapitel. Die private Biographie Mumms und die organisatorische Entwicklung der christlich-sozialen Bewegung, insbesondere des Kirchlich-sozialen Bundes in der Weimarer Republik, werden lediglich skizziert. Der inhaltliche Schwerpunkt liegt auf der Darstellung und Diskussion der politischen Ziele und Entwicklungslinien der Christlich-sozialen Partei, die zwischen 1918 und 1929 in der DNVP aufging, sowie der kirchlich-sozialen Themen, Arbeits- und Politikfelder (Kap. 3-5). Eingehend schildert der Vf. die Rolle Mumms bei der Neuorientierung der Bewegung nach Stoeckers Tod 1909 und bei der Formulierung der christlich-sozialen Kriegsziele. Als sich der Kirchlich-soziale Bund nach dem Krieg der Gewerkschaftsfrage stellen mußte, wurde Mumm zum Theoretiker der christlich-nationalen Arbeiterbewegung. Zugleich Ziel und Mittel der christlich-sozialen Arbeit war die Presse- und Bildungsarbeit, die in der Tageszeitung "Das Reich" und der Evangelisch-sozialen Schule in Bethel (seit 1921: Spandau) ihre Zentren hatte. Besonders erhellend sind auch die Ausführungen über den von Mumm geleiteten Evangelischen Reichsausschuß innerhalb der DNVP, der kirchliche Interessen und christliche Politik unter den Deutschnationalen und durch sie in der gesamten Gesellschaft durchsetzen wollte. Welche Erfolge diese Politik vor allem im kulturpolitischen Bereich erzielte, wird am Beispiel des Kampfes gegen "Schmutz und Schund" aufgezeigt.

Thematisch und methodisch fügt sich die Arbeit bestens in die Reihe "Konfession und Gesellschaft" ein, die sich die Bearbeitung der Kirchengeschichte als Sozial- und Gesellschaftsgeschichte zum Programm gemacht hat. Besonders in den drei Hauptkapiteln erweist sich die Arbeit als theoretisch klar konzipiert und urteilssicher. Daß sie zugleich quellengesättigt ist, verdeutlicht das umfangreiche Quellen- und Literaturverzeichnis. Der Vf. konnte auf den Nachlaß Mumms im Bundesarchiv und eine Flut von Publikationen des Porträtierten zurückgreifen, von denen die wichtigsten in einer Auswahlbibliographie aufgeführt sind. Die Autorennamen der ebenfalls aufgelisteten Veröffentlichungen des Kirchlich-sozialen Bundes lassen die Breite der christlich-sozialen Bewegung erkennen. Religiöse Sozialisten und der ihnen geistesverwandte rheinische Sozialpfarrer Wilhelm Menn, über den 1996 eine umfangreiche Dissertation erschien (vgl. ThLZ 6/1998), waren Randerscheinungen im kirchlichen Spektrum der Weimarer Republik, die Arbeit von Friedrich hingegen präsentiert auf bestechende Weise den Mainstream des sozialen Protestantismus zwischen den Jahren vor dem 1. Weltkrieg und der NS-Zeit.