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Ausgabe:

März/2015

Spalte:

304–307

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Geng, Zhanhe

Titel/Untertitel:

Jesus – Erlöser für China? Bausteine einer kontextuellen Erlösungslehre für das heutige China

Verlag:

Paderborn: Bonifatius 2014. 306 S. = Begegnung. Kontextuell-dialogische Studien zur Theologie der Kulturen und Religionen, 21. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-89710-547-8.

Rezensent:

Georg Evers

Mit dieser Arbeit, einer unter Leitung von Hans Waldenfels erstellten Dissertation, wurde Zhanhe Geng im Jahr 2012 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn der theologische Doktortitel verliehen. Ziel der Arbeit ist, wie im Titel angezeigt, eine Erlösungslehre für das heutige China zu entwickeln, die deutlich machen soll, dass das Christentum die Religion ist, die am besten geeignet ist, das Verlangen der Chinesen nach Heil, Befreiung von Angst, Tod und Schuld zu erfüllen. Die Arbeit richtet sich an die Chinesen des 21. Jh.s, indem sie durch eine auf die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungen eingehende Deutung der »Zeichen der Zeit« eine kontextuelle chinesische Erlösungslehre zu entwickeln sucht.
Die in vier Hauptteile gegliederte Untersuchung beginnt mit einem Rückblick auf die chinesische Kultur, um die im Schamismus, Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus vorhandenen Vorstellungen von Heil und Erlösung im alten China vorzustellen. Für die frühe Zeit bis zur Zhou-Dynastie im 8. Jh. v. Chr. war die Entwicklung des Begriffs »Mandat des Himmels« bestimmend für das Gottesbild und die Politik. Im Konfuzianismus werden das Heil und die Stabilität des Staates an die Einhaltung der Riten gebunden, auf denen die Ethik beruht. Im Daoismus dagegen wird das Ideal des »Nicht-Handelns« propagiert, das durch den Verzicht auf Haben- und Geltenwollen Harmonie und Frieden sicherstellen soll. In der Weiterentwicklung des Daoismus zur Volksreligiosität gewinnen das diesseitige Heil und das Bemühen um Unsterblichkeit größere Bedeutung. Der Buddhismus, der Anfang des 2. Jh.s n. Chr. nach China kommt, entwickelt eigene Formen der Suche nach Heil und Erlösung im Streben nach absoluter Wahrheit, in der volkstümlichen Form des Buddhismus des »Reinen Landes« oder in Verzicht auf Erkenntnis, in der absoluten Leerheit des Chan-Buddhismus. Im Neo-Konfuzianismus wird eine Anthropologie entwickelt, die auf der Annahme einer den Menschen angeborenen guten Natur aufbaut. G. nennt als zentrale Anliegen in der Heilssuche im alten China: die Suche nach dem irdischen Heil in einer harmonischen Welt mit dem Ziel, Unsterblichkeit zu erreichen und das Heil der Toten in der Ahnenverehrung sicherzustellen.
Der zweite Hauptteil zeichnet die chinesische Heilssuche im 20. und 21. Jh. nach, die durch die Umbrüche und Paradigmenwechsel im 19. Jh. bestimmt wird. Die schmerzhaften Erfahrungen des Niedergangs Chinas durch den westlichen Imperialismus und Kolonialismus bedeuteten einen fundamentalen Umbruch in der Geschichte Chinas. Um dem Land und seinen Bewohnern eine neue Perspektive von Prosperität und Harmonie zu eröffnen, musste China auf den Gebieten der Technik und der Naturwissenschaften, der nationalen Kultur sowie der Politik umfassende Reformen durchführen. G. zeichnet die verschiedenen Perioden der chinesischen Kulturreform nach, die vom ersten Opiumkrieg Mitte des 19. Jh.s zur »4. Mai-Bewegung« nach dem 1. Weltkrieg, von da zur Gründung der Volksrepublik China 1949 durch die kommunistische Partei, über die Reformpolitik unter Deng Xiaoping Anfang der 1980er Jahre bis zur Gegenwart sich erstreckt.
Gemeinsames Ziel ist die Errichtung einer harmonischen Gesellschaft, wie sie zunächst von Sun Yatsen in seinen drei Prinzipien von Nation, Volk und Wohlergehen entwickelt wurde. Die stärkste bestimmende Kraft wurde aber die Ideologie der chinesischen kommunistischen Partei, die den Traum einer Ge­sell- schaft, in der Gleichheit, Gerechtigkeit, Frieden und Harmonie herrschen soll, als Ziel proklamierte, aber nie verwirklichen konnte. An dieser Stelle fällt auf, dass G. nicht konkret auf die historischen Entwicklungen eingeht, die von den Exzessen in den Kampagnen unter Mao Zedong gegen die Intellektuellen, den Folgen des forcierten Industrieaufbaus auf Kosten der Landwirtschaft und vor allem den Exzessen der Kulturrevolution (1968–1978) reichen. Vorstellungen einer paradiesischen Gesellschaft hat auch der Liberalismus mit sozialistischen und humanistischen Entwürfen entwickelt. Neue Impulse für eine Modernisierung und Reform Chinas finden sich im Neukonfuzianismus in einer Wiederent-deckung der konfuzianischen Tradition, die in der Kulturrevolution als überholte Ideologie abgetan worden war, dann aber zunächst außerhalb Chinas und später auch in der VR China eine Renaissance erfuhr. Inwieweit die sehr positive Sicht auf den Einfluss der sogenannten »Kulturchristen« für die Entwicklung eines reformistischen Menschen- und Gesellschaftsbildes im Rückgriff auf christliche philosophische und theologische Entwürfe berechtigt ist, muss die Geschichte zeigen. Bisher werden die Ideen der Kulturchristen wohl nur innerhalb eines kleinen Zirkels von Intellektuellen diskutiert.
Der durch die Begegnung mit dem westlichen Denken ausgelöste Paradigmenwechsel hat durch die ihn begleitenden Phänomene von Antitraditionalismus, Individualismus, Hedonismus und Mammonismus zu einer Ethikkrise geführt, die ihre tiefste Wurzel im Atheismus hat. Traditionell haben sowohl die Konfuzianer wie auch die Daoisten und Buddhisten Moralvorstellungen entwickelt, die aber wegen ihres atheistischen Charakters nicht genug zwingend und verbindlich waren, um eine funktionierende Ethik zu begründen. G. vertritt dezidiert die Ansicht, dass es im Atheismus keine Nächstenliebe und damit auch keine Liebesethik geben kann. Diese wäre notwendig, damit die Suche der Chinesen von heute nach einem Heil, das Befreiung von Ängsten und Leid sowie Glück und Verbindung mit den Ahnen beinhaltet, erfüllt werden kann. Der zweite Teil schließt mit einer Darstellung der Liebe als Grundlage einer erneuerten Ethik, die sich in Jesus Christus in unbedingter Form verwirklicht hat.
Der dritte Hauptteil zeichnet die Entwicklungen des Christusbildes in der chinesischen Geschichte in den verschiedenen Phasen der Begegnung Chinas mit dem Christentum nach.
Beginnend mit dem Christusbild der nestorianischen Christen, die franziskanische Missionsperiode kurz erwähnend, folgt die Darstellung der Beiträge der Jesuiten in der Mingzeit, danach von Theologen, aber auch Schriftstellern und Intellektuellen vom 19. Jh. bis zur Gegenwart, wobei nicht nur die Arbeiten von Theologen des Festlandes, sondern auch die außerhalb Chinas in Taiwan oder in der Diaspora entstandenen Beiträge zur Christologie berücksichtigt werden. G. fasst die Grundzüge und die Grenzen der bisher im chinesischen Raum erstellten Christusbilder zusammen, indem er auf die breite Pluralität der Ansätze und der Deutung der Person und des Wirkens Jesu von Nazareth hinweist, die deutlich machen, dass es bislang nicht gelungen ist, eine für alle Chinesen akzeptable bzw. akzeptierte kontextuelle chinesische Christologie zu ent-wickeln. Bei der Entwicklung der verschiedenen Christusbilder gibt es jedoch Gemeinsamkeiten, die durch Charakteristika chinesischen Denkens bedingt sind, dass Chinesen kaum an Fragen des Wesens, sondern an der Funktionalität interessiert sind. Das bringt es mit sich, dass Chinesen kaum Fragen nach dem Wesen und der Natur Jesu Christi stellen, sondern mehr an seinem Leben und Wirken interessiert sind und Jesus als Weisheitslehrer, Helfer der Notleidenden und Verkörperung der Liebe sehen. Das bedingt auch, dass die Lehre der Erbsünde und die daraus abgeleitete Sühnetheologie ihnen fremd blieben. Auch das Verständnis für Kreuz und Auferstehung fehlt weithin.
Im vierten Hauptteil unternimmt G. den Versuch, im Gespräch mit christologischen Entwürfen westlicher Theologen, vornehmlich denen von Karl Rahner, Hans Waldenfels, Hans Kessler und Walter Kasper, ein neues Christusbild zu entwickeln, das die Heilsbedeutung Jesu für die heutigen Chinesen in ihren heutigen Lebensbezügen herausarbeiten will. Zentral geht es G. um den Begriff der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. Auch in der chinesischen Tradition der chinesischen Volksreligiosität, des Mahayana-Bud-dhismus, aber vor allem im Daoismus lassen sich analoge Ideen einer Menschwerdung göttlicher Wesen finden. Besondere Bedeutung kommt dem aus dem Daoismus stammenden Begriff des »Dao« zu, der von vielen chinesischen Theologen und Exegeten als Übersetzung für den griechischen »Logos«-Begriff verwendet wird. Für eine chinesische Christologie findet sich in den Worten und Taten Jesu Christi die Erfüllung des chinesischen Verständnisses von Heil und vollkommenen Lebens. Der Kreuzestod Jesu als Kenosis und Ausdruck seiner vorbehaltlosen Liebe zur Menschheit weckt bei den Chinesen starken Widerhall. Entsprechungen gibt es als Selbsthingabe im Konfuzianismus, als Ausdruck des Mitleids im Buddhismus. Schwieriger ist dagegen die Vermittlung des Glaubens an die Auferstehung, für die es in der chinesischen Tradition keine Entsprechung gibt. Ansätze finden sich jedoch in den verschiedenen Vorstellungen vom ewigen Leben bzw. Leben nach dem Tod, kaum im Konfuzianismus, dafür aber in der Vorstellung der Unsterblichkeit des Menschen im Daoismus und in der Reinen-Land-Schule des chinesischen Buddhismus. G. ist überzeugt, dass die christliche Lehre der Auferstehung Jesu die Defizite der Jenseitserwartung in der chinesischen Tradition abbauen und die Erfüllung der Erwartung nach einem paradiesischen Zustand von Glück und Heil bringen kann.
G. fasst das Ergebnis seiner Untersuchung, inwieweit Jesus Christus den Erwartungen der Chinesen auf Heil und Erfüllung genügen kann, so zusammen: »In der Anwendung auf das heutige China können wir folgende Momente nennen, in denen das Heilsangebot des christlichen Glaubens wirksam wird: Gott ist Liebe, verschafft uns Sieg über Tod, Schuld und Angst, erlöst uns vom Leiden, lädt ein zur Antwort der Liebe in der Gottes- und Nächstenliebe.« (271)
Hat G. sein Ziel, aufzuzeigen, dass Jesus Christus die Heilserwartungen der Chinesen des 21. Jh.s erfüllt, mit seinen Darlegungen wirklich erreicht? Wie im Untertitel angezeigt, ist es ihm sicherlich gelungen, »Bausteine« einer Erlösungslehre vorzulegen. Inwieweit diese aber auch dem Anspruch entsprechen, »kontextuell«, d. h. auf das heutige China im 21. Jh. bezogen zu sein, bleibt aber fraglich. G.s Analyse der chinesischen Gesellschaft der Gegenwart krankt daran, dass er die aktuelle Situation der VR China zu wenig im Blick hat.
Das China von heute, in dem die kommunistische Partei immer noch den Anspruch erhebt, nicht nur die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen, sondern auch die ideologischen Belange allein zu vertreten und mit ihrem Entwurf einer sozialistischen Gesellschaft chinesischer Prägung bestimmend sein zu wollen, wird nicht thematisiert. Es fehlt die Auseinandersetzung mit dem China der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung, das auf der einen Seite die hedonistischen Ansprüche einer Minderheit von »Neureichen« aufweist und auf der anderen Seite die breite Mehrheit von Wanderarbeitern, die ausgebeutet werden. Eine Auseinandersetzung mit dem Entwurf einer sozialis­tischen Gesellschaft chinesischer Prägung, wie ihn Mao Zedong entwickelt hat und der von seinen Nachfolgern korrigiert oder an die Wandlungen angepasst weiterentwickelt wurde, hätte der Arbeit einen Gegenwartsbezug gegeben. Schließlich erhob und erhebt die kommunistische Partei Chinas noch immer den An­spruch, den Er­wartungen der chinesischen Gesellschaft nach Glück und Erfüllung in einer »harmonischen Gesellschaft« gerecht werden zu können.
Es mag ja auf weite Strecken zutreffen, dass die Ideologie der kommunistischen Partei so stark abgewirtschaftet hat, dass sie für die Diskussion unter den Intellektuellen nicht mehr relevant ist, aber die Bilder und Vorstellungen der idealen sozialistischen Gesellschaft mit dem Ideal einer harmonischen Gesellschaft, in der die Nächs­-tenliebe mit dem Motto »dem Volke dienen« einen Ausdruck findet, hätten doch in dieser Arbeit auch ihren Platz gehabt.
Der Rezensent erinnert sich an seine erste Begegnung mit der VR China während der Zeit der Kulturrevolution (1966–1976), als das »Ideal des neuen Menschen nach Mao« (vgl. Raymond Whitehead, Love and Struggle in Mao’s Thought, Orbis, N. Y. 1977) einige China-Watchers sehr beeindruckte. Die große Begeisterung der Roten Garden, eine neue Gesellschaft zu schaffen, wobei die alten Vorstellungen der Religionen, einschließlich des Christentums, als überholt beiseite geschoben wurden, gab Anlass, kritisch zu fragen, inwieweit in diesem China noch eine Verkündigung des Christentums möglich bzw. notwendig sein könnte (so z. B. Joseph Spae). Dass die Exzesse der Kulturrevolution letztlich die Ansätze einer neuen idealen Gestaltung der chinesischen Gesellschaft ad absurdum führten, hätte in dieser Arbeit kritisch reflektiert werden können. – Aber natürlich gilt es zu berücksichtigen, dass diese Dissertation an einer deutschen Universität fern vom aktuellen Kontext der VR China erstellt wurde. Für den Zugang zum Verständnis der Bedingungen und Voraussetzungen, unter denen der chinesische Autor an einer deutschen Universität in deutscher Sprache diese Arbeit erstellt hat, ist das Nachwort des Doktorvaters Hans Waldenfels sehr wichtig und hilfreich. Denn es macht deutlich, dass G., der in der VR China in der Zeit der Kulturrevolution geboren wurde, in seiner Erziehung kaum Zugang zu den klassischen Traditionen der chinesischen Geistes- und Religionsgeschichte hatte. Erst im ausländischen Exil hat er sich dieses Wissen aneignen müssen, um dann seine Einsichten und nachfolgenden Reflexionen zum Heil in chinesischer Tradition in Auseinandersetzung mit der christlichen Tradition im fremden Medium der deutschen Sprache zu machen. Die Berücksichtigung des aktuellen Kontextes der heutigen Volksrepublik China war ihm daher auch nur eingeschränkt möglich.
Es ist anzuerkennen, dass G. mit seiner Arbeit viele wertvolle Elemente einer möglichen chinesischen Christologie zusammengetragen und vorgestellt hat. Seine Schlussfolgerung, dass Jesus Christus und das Christentum die einzig richtige Antwort auf die Frage der Chinesen nach umfassendem Heil ist, leidet an ihrer Stringenz und christologischer Engführung. Eine positivere Be­rücksichtigung der Beiträge der Heilsentwürfe in den anderen religiösen, philosophischen und ideologischen Traditionen würde helfen, die Begegnung des Christentums mit China dialogischer und weniger ausschließlich zu machen.
Ein Desiderat ist die Übersetzung oder besser die Überarbeitung der Arbeit in chinesischer Sprache, damit dieser wichtige Beitrag den eigentlichen Adressaten zugängig wird. Am Ende finden sich eine tabellarische Übersicht der chinesischen Geschichte, ein Abkürzungsverzeichnis und ein Literaturverzeichnis. Leider fehlen ein Personenregister und vor allem ein Sachregister, die den Zugang zur Thematik erleichtern würden.