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Ausgabe:

März/2015

Spalte:

294–296

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Fischer, Ingrid

Titel/Untertitel:

Die Tagzeitenliturgie an den drei Tagen vor Ostern. Feier – Theologie – Spiritualität

Verlag:

Tübingen u. a.: A. Francke Verlag 2013. VIII, 423 S. = Pietas Liturgica – Studia, 22. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-7720-8493-5.

Rezensent:

Clemens Leonhard

Ingrid Fischer publiziert mit diesem Buch ihre Dissertation (Universität Wien 2012). Am 21. Juli 2014 wurde diese Arbeit am Deutschen Liturgischen Institut mit dem Balthasar-Fischer-Preis als wegweisender und exzellenter Beitrag zur Förderung liturgiewissenschaftlicher Forschung ausgezeichnet. Die Vfn. lehrt an der Akademie Theologische Kurse der katholischen Kirche Österreichs in Wien.
Das Werk ist ein Musterbeispiel dafür, wie historische und in der Gegenwart gültige Liturgieformulare theologisch gedeutet werden können. Die Vfn. befragt (nach einer Einleitung zu Methoden, Hilfsmitteln und der Textentwicklung, 2–107) ein gewaltiges Textkorpus einer der wichtigsten liturgischen Perioden des Jahreskreises, nämlich Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag der lateinischen (108–290), bzw. der katholischen (für die gegenwärtige Ordnung: 291–408) Tagzeitenliturgie daraufhin, was die Liturgie über das Fest zu sagen hat und wie sie das tut. Sie bleibt auch nicht bei einer Beschreibung eines Status quo stehen, sondern schreitet im Vergleich der Dokumente zu ausgewogenen Feststellungen von Gewinn und Verlust der Entwicklungen fort (z. B. 242.269 über antijüdische Zuspitzungen im römischen Brevier; 326 zum Wandel im Identifikationsangebot der Texte; 328 f. zur Vorstellung einer Einheit des Paschamysteriums als Gegenposition zu einer historisierenden Aufspaltung von Erinnerungsdetails entlang der Se­quenz der Feiern; oder über die Kürzung der Psalmtexte in ihren Kommentaren zur gegenwärtigen Ordnung, z. B. 304–306). Obwohl sie oft kursorisch auf patristische Zeugnisse (auf der Basis der Sammlungen von Claude Jean-Nesmy) hinweist und zu Beginn der Studie auch die mittelalterliche Allegorese (nach Amalar von Metz, 37–56) als Hintergrund der Textentwicklung und des Textverständnisses skizziert, erhebt sie die Bedeutung des Textnetzwerks aus den Zeugnissen selbst.
Es handelt sich bei diesem Werk (neben der praktischen Sammlung von wichtigen Details) um ein theologisches Statement, auch wenn die Vfn. nur selten explizit darauf hinweist (z. B. neben den allgemeinen Zusammenfassungen auch 272–274, Anm. 1615; 280 zum Descensusmotiv; 320 f.). Die fast 300 Seiten theologischen Kommentars zu Einzeltexten und Feiertypen enthalten sich der Behauptung, Liturgie sei ein locus theologicus, aus dem es Theologie zu erheben gelte. Manche systematisch-theologische Ansätze bedienen sich solcher Argumentationsfiguren, um für längst feststehende Inhalte formale Legitimität zu konstruieren. Die Vfn. vermeidet jede Berührung mit derartigen Legitimitätsdiskursen. Sie findet dagegen mannigfaltige Inhalte in den Liturgien und zeigt, wie die Texte und Ritualsequenzen Strukturen sichtbar halten, in denen die Rezipienten der Liturgie die gehörten, mitgelesenen, gesungenen, erfahrenen Inhalte sortieren können – aber nicht müssen (christologische Relecture des Psalters, Verortung bestimmter Texte in der Liturgie, Kontraste zwischen normaler und festlicher Tagzeitenliturgie, centonische Anspielungen auf Bibeltexte und biblische Geschichten).
Weder die Psalmen noch die Texte des Neuen Testaments wurden im Blick auf oder für die mittelalterliche Tagzeitenliturgie verfasst. Psalmenrezitation könnte man denn auch als Teil »gezählter Frömmigkeit« (Arnold Angenendt) oder »Währung im Handel mit Gott« (Paul Bradshaw) und deswegen die Suche nach Bedeutungen großer Liturgiesequenzen mit Skepsis betrachten. In einer Gegenposition dazu könnte wiederum jedes Wort der Liturgien zu einem Ausgangspunkt für anthropologische Gemeinplätze werden. Die Vfn. geht zwischen diesen beiden Extrempunkten einen gelungenen Mittelweg, indem sie die Kategorie der Bedeutung der Liturgien als Repertoire eines Netzwerks von Sinn und dieses Netzwerk nicht als Eigenschaft der Texte, sondern als Angebot für die Menschen, die die Liturgie feiern, versteht. Damit ist auch die Behauptung vermieden, dass sich die biblischen Assoziationen einem oder allen mittelalterlichen Mönchen zwangsläufig aufgedrängt haben. Die Vfn. liest die Texte so, dass sie eine Mehrdeutigkeit aufbauen, die die feiernden Menschen persönlich dazu herausfordert, mit einem Überangebot an Sinn und Bedeutung zu Rande zu komme n– nicht Leerstellen an Sinn mit Bedeutungen zu füllen (wie es Amalar mit liturgischen Handlungen tut). Der Vergleich mit den gegenwärtigen Ordnungen ist dabei u. a. wertvoll, weil die Vfn. hier vorführt, wie in den Reformen des späten 20. Jh.s darum ge­rungen wird, die im Mittelalter akkumulierte und tradierte Vieldeutigkeit etwas einzuschränken (vgl. die Beobachtungen zu den nicht rezitierten Überschriften in den liturgischen Büchern, 293). Selbstverständlich hinterlassen theologische Positionen ihre Spuren in einer Reform (z. B. 320 f.332 f.335.405 f.). Insofern wäre es ein zirkuläres Verfahren, mit den Büchern der Tagzeitenliturgie theologische Sätze zu unterstützen. Obwohl auch Texte moderner Autoren (z. B. Romano Guardini, 317) neben den patristischen ihren Weg in die Lesehoren fanden, werden diese nicht als Antiphonen zu Psalmen rezitiert oder an die Stelle von biblischen Lesungen ge­setzt. Die mittelalterliche und die erneuerte Liturgie bewahren die Uneindeutigkeit (z. B. 283) der Liturgien dadurch, dass sie auf den prinzipiell biblischen Charakter der Texte achten.
Die Tagzeitenliturgie hatte im Mittelalter und behielt auch nach der Reform ihr von der Vfn. beschriebenes (allerdings von ihr nicht so bezeichnetes) Potential als spirituelles und emotionales Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Aus dieser Perspektive definiert sich in der Gesamtanlage des Buchs der Begriff »Spiritualität« im Untertitel. Es handelt sich dabei (wie bei »Feier« und »Theologie«) um eine äußerst konzentrierte, voraussetzungsreiche und die diese Tagzeitenliturgie feiernden Menschen verwandelnde Tätigkeit.
Die Vfn. hat zwar nicht alle Elemente der Entwicklung der Tagzeitenliturgie positiv bewertet und gelegentlich auf Probleme der Rezeption hingewiesen. Sie stellt aber die allgemeine Annahme nicht in Frage, dass das große Angebot an Texten bedeutungsvoll ist. Nicht-sprachliche Handlungselemente der Liturgien (z. B. der Lichtmanipulationen; 34–36.67 f.287–289; und vgl. die Diskussion von Amalars Kommentar, der einem anderen Deutungsprinzip folgt: 38.53–56) werden sehr zurückhaltend beschrieben und nicht banal gedeutet. Anhand dieser nicht-sprachlichen Elemente der Liturgien (z. B. Fuß- und Handwaschungen [vgl. 117], Prozessionen, liturgische Rollen) stellt sich die Frage, ob man auch im Textteil dieses historisch gewachsenen Rituals noch mehr Brüche des ansonsten sehr kohärenten Angebots an Sinn, als es die Vfn. darstellt (z. B. 117.153.180), beschreiben könnte. Ein Teil der Kohärenz basiert auf der patristisch-mittelalterlichen, christologischen Lektüre (vgl. 288–290 gegen ein »platte[s] Erfüllungsschema[]«) der Psalmen und der von der Vfn. stark kritisierten modernen Streichung anstößiger Textpassagen (vgl. 335). Sie ist daher um den Preis der Vereinnahmung oder Marginalisierung mancher Zeilen des biblischen Texts erkauft. Auch wenn die argumentative Kraft des Buches zeigt, dass dieser Preis gut investiert ist, bleibt die Anfrage bestehen.
Die Studie ist in gedrängtem Layout gedruckt, aber übersichtlich gestaltet. Fast alle lateinischen Originalzitate sind übersetzt. Die Fachterminologie ist sparsam angewendet, so dass das Buch nicht nur von Fachleuten mit Gewinn gelesen werden kann.