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Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

756 f

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Bockermann, Dirk

Titel/Untertitel:

"Wir haben in der Kirche keine Revolution erlebt". Der kirchliche Protestantismus in Rheinland und Westfalen 1918/1919.

Verlag:

Köln: Rheinland-Verlag 1998. VIII, 387 S. gr.8 =Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, 129. Geb. DM 33,-. ISBN 3-7927-1726-3.

Rezensent:

Kurt Nowak

Vorzustellen ist ein posthum erschienenes Werk. Der Autor, er verstarb an Leukämie, konnte seine Studie, die im wesentlichen seiner geschichtswissenschaftlichen Dissertation vom Wintersemester 1993/94 an der Ruhr-Universität Bochum entspricht, noch für den Druck vorbereiten, erlebte ihre Veröffentlichung aber nicht mehr. Das Vorwort von Günter Brakelmann, dem Doktorvater, gestaltete sich unter diesen Voraussetzungen zu einem Nachruf. Möge das Buch, so hofft und wünscht Brakelmann, "ein unverwechselbares Dokument einer verantwortlichen Geschichtsschreibung werden und bleiben" (V).

Das titelgebende Zitat "Wir haben in der Kirche keine Revolution erlebt" stammt von Walther Wolff, dem Präses der rheinischen Provinzialsynode. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht das Ruhrgebiet, ein Territorium im Einzugsbereich der evangelischen Kirchen von Rheinland und Westfalen. Kirchenorganisatorisch habe der rheinisch-westfälische Protestantismus- so der Vf. gegen Jochen Jacke (Kirche zwischen Monarchie und Republik. Der preußische Protestantismus nach dem Zusammenbruch von 1918. Hamburg 1976) - in der Tat keine Zäsur erlebt. Die rheinisch-westfälische Kirchenordnung von 1835 sorgte, anders als in den übrigen preußischen Provinzialkirchen, für Kontinuität. "Somit hatte die Kirche im Ruhrgebiet mehr Energien frei für das Thema Verhältnis von Kirche und Staat" (4).

Nach einer gedrängten Einführung in die Fragestellungen, Methoden und Quellen seiner Untersuchung skizziert der Vf. zunächst kurz den "Protestantismus im Ruhrgebiet bis 1918" (17-46), um sich dann seinem eigentlichen Thema zuzuwenden: "Der Protestantismus im Ruhrgebiet nach dem 9. November 1918" (47-269). Am Schluß des Buches findet sich eine resümierende und recherchierende Betrachtung unter der Überschrift "Der Protestantismus während der Revolutionszeit im Spiegel der kirchlichen und profanen Zeitgeschichtsforschung" (270-302). Eigens erwähnt sei das kleine "Kalendarium" (303-307).

In den Forschungen zur evangelischen Kirchengeschichte der Jahre 1918-1933 haben die Revolutionszeit und die Gründungsphase der ersten deutschen Demokratie bislang mehr Aufmerksamkeit gefunden als die mittlere und die Endphase der Weimarer Republik. Der Vf. setzt mit seiner territorialkirchlichen Studie diese Tendenz fort. Dargeboten wird eine Analyse der rheinisch-westfälischen Kirchengeschichte im Kontext der Politik- und Sozialgeschichte auf der chronologisch kurzen, doch ereignis- und problemreichen Zeitstrecke vom November 1918 bis zum November 1919. Die Untersuchung bestätigt am Beispiel des Ruhrgebietsprotestantismus die konservative Haltung der evangelischen Kirche im Umbruch von 1918/19, die mangelnde Kraft zur Unterscheidung der Geister im linken Politikspektrum (SPD, USPD, KPD) sowie im Sozialbereich eine gewisse Ausdifferenzierung der Optionen. Die vor dem Hintergrund des Industriestandorts Ruhrgebiet naheliegende Frage nach einer eventuell größeren Kooperationsbereitschaft der Kirche mit dem demokratischen Staat erfährt eine gestufte Antwort. Das geschieht anhand von Untersuchungen über die Wahlergebnisse zur Weimarer Nationalversammlung, die Debatten und Interventionen zum Frauenwahlrecht, die Schulfrage, die Sozialdemokratie und den rheinischen Separatismus. Das bedeutendste kirchliche Innovations- und Emanzipationspotential fand sich im Bereich der Kirchenorganisation. Das presbyterial-synodale Bewußtsein im Rheinland und Westfalen vertiefte sich 1918/19.

Zu den für die Kirche so günstigen Religionsartikeln der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 unterbreitet der Vf. eine eigenwillige Deutung. Der verfassungsrechtliche Ausgleich zwischen den bürgerlichen Rechtsparteien, den Liberalen und den Sozialdemokraten sei auf die brisante außenpolitische Lage des Deutschen Reiches zurückzuführen. Sie habe die Parteien über alle weltanschaulichen Gräben hinweg zum Kompromiß veranlaßt. "Es sind also weniger die Beiträge evangelischer Kreise bei den Verhandlungen der Weimarer Nationalversammlung als vielmehr die äußeren Umstände, die dieses Ergebnis hervorgerufen haben" (266). Über die Hypothese vom Primat der Außenpolitik über die Innenpolitik im Bereich der Kirchenfrage hätte man mit dem Autor gern gestritten. Daß die Studie einer jahrelangen Leidenszeit abgerungen wurde, verdient jenseits ihres wissenschaftlichen Ertrags uneingeschränkten Respekt.