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Ausgabe:

März/2015

Spalte:

292–294

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Eurich, Johannes, and Ingolf Hübner[Eds.]

Titel/Untertitel:

Diaconia against Poverty and Exclusion in Europe. Challenges – Contexts – Perspectives

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013. 264 S. = Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg, 48. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-03168-9.

Rezensent:

Sabrina Hoppe

»Die europäische Union ist keine Sozialunion« – mit diesem Satz erhitzte Angela Merkel kurz vor den Europawahlen die Gemüter. In der Debatte um »Sozialmissbrauch« durch ›Ausländer‹ innerhalb der EU wurde deutlich, dass die Sozialpolitik in Europa durch die Erweiterung des Zuständigkeitsbereichs der EU auch auf Ebene der EU-Politik geregelt wird. Besonders seit der Finanzkrise und den mit ihr einhergehenden Kürzungen der Sozialleistungen in zahlreichen Mitgliedsstaaten wird die soziale Legitimation der EU auf eine harte Bewährungsprobe gestellt. Das betonen auch die Herausgeber des vorliegenden englischsprachigen Sammelbandes, der sich auf multiperspektivische Art und Weise dem Thema »Armut und soziale Ausgrenzung« nähert.
Es ist das Verdienst des Bandes, Vertreterinnen und Vertreter derjenigen Fachrichtungen miteinander ins Gespräch zu bringen, die tatsächlich für die Behandlung dieser Thematik relevant sind: Theologie und Diakoniewissenschaft, Wirtschafts- und Sozialwissenschaft und Soziologie bereichern mit ihrer jeweils eigenen Perspektive die Debatte um die Neuausrichtung diakonischer Arbeit angesichts sich verändernder Wettbewerbsbedingungen und zu­nehmender prekärer Lebensverhältnisse vieler Europäerinnen und Europäer – die oft in scharfem Gegensatz zum insgesamt steigenden Wohlstand der Bevölkerung stehen. Der Band greift das Europäische Themenjahr 2010 zur »Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung« auf und versammelt einen Großteil der Redebeiträge des gleichnamigen 3. Europäischen Diakonie-Kongresses, der 2010 in Heidelberg stattfand. Die Tagung oblag der Verantwortung des Diakoniewissenschaftlichen Instituts Heidelberg, dessen Direktor Johannes Eurich gemeinsam mit Ingolf Hübner, Theologischer Referent der Diakonie Deutschland, die Herausgeberschaft für den in der Evangelischen Verlagsanstalt erschienenen Sammelband übernahm.
Die Beiträge (leider ohne deutsches Abstract) bilden die Vielfalt der Tagungsbeiträge nicht vollständig ab. Während auf der Konferenz auch Expertinnen und Experten aus der aktiven Europa-Politik, Wissenschaftlerinnen aus Polen und Tschechien sowie Fachleute katholischer Provenienz zu Wort kamen, bietet der Sammelband nur eine Auswahl der Redebeiträge. Besonders das Fehlen katholischer Stimmen schärft das evangelische Profil des Bandes, das durch den Beitrag von Wolfgang Maser »EU-Anti-Discrimina-tion Policies and the Protestant Identity of Diaconia in Germany« noch inhaltlich unterstrichen wird, ansonsten jedoch unkom-mentiert bleibt. Eine thematisch und konfessionell ausgewogene Sammlung von Beiträgen zum Thema bildet der 2010 erschienene Sammelband »Kirchen aktiv gegen Armut und Ausgrenzung« (hrsg. von Johannes Eurich, Florian Barth u. a.). Ein Verweis auf diese korrelierende Veröffentlichung im Vorwort des hier besprochenen Bandes wäre hilfreich gewesen, um zu verdeutlichen, dass sich die Auswahl auf protestantische Sichtweisen beschränkt und einen Schwerpunkt auf deutsche und skandinavische Beiträge legt.
Die Konferenz widmete sich dem Initialproblem der Diakonie: Die Armut und die mit ihr einhergehende soziale Ausgrenzung und fehlende Teilhabe ist ein brennendes Problem der deutschen wie der europäischen Gesellschaft und wird zu Recht in einem europäischen Kontext betrachtet. Was tragen gemeinnützige Wohl­fahrtsverbände wie die Diakonie zur Verhinderung sozialer Ausgrenzung bei? Lassen sie sich in ihrer Arbeit tatsächlich vom Wettbewerbsdruck des Marktes steuern, wie auch die Einleitung des Sammelbandes andeutet? Die Herausgeber konstatieren, dass die Arbeit christlicher Wohlfahrtsverbände in den letzten Jahren zwar durchaus dem Kampf gegen Armut und Ausgrenzung gewidmet war, dies jedoch die Ursachen der Armut nicht verändert hat: »The poor remain in dependent situations and are often hindered from full participation in wider society.« ( Introduction)
Die Beiträge des Bandes unterscheiden sich in ihrer Ausrichtung und fachlichen Perspektive erheblich voneinander. So untersucht der unter anderem an der London School of Economics tätige Soziologe Helmut K. Anheier in seinem Beitrag »Non-profits during Times of Crisis« das Marktverhalten von Non-Profit-Unternehmen anhand organisationstheoretischer und politikanalytischer Ansätze und zeigt im Anschluss politische und ökonomische Optionen für einen »Weg aus der Krise« auf. Demgegenüber verfolgt der Artikel von Wolfgang Gerns »Make Poverty History«, der den Band einleitet, die Absicht, die Kernaufgabe der Diakonie in der von der »neoliberalen europäischen Lissabon-Politik« geprägten Gesellschaft neu in Erinnerung zu rufen. Dabei dienen ihm plastische Bibelworte zur Untermalung seines Impulses: »Jesus did not speak of honey and jelly, but oft the salt of the earth and the light for the world. You are it!« (Gern, 20) Ungeachtet der unbestritten hohen wissenschaftlichen Qualität der einzelnen Beiträge fällt somit doch ihre unterschiedliche Zielgruppenorientierung auf. Einen ähnlichen Ansatz wie Anheier verfolgt auch Peter Herrmann, international tätiger Ökonom und Manager, der in seinem Beitrag »Mergers and Competition among Value-Oriented Enterprises« die Frage reflektiert, ob die gegenwärtige Gesellschaft tatsächlich vor der ›Gefahr‹ einer Re-Feudalisierung steht und wie der zunehmenden Management-Orientierung sozialer Einrichtungen begegnet werden kann.
Den dritten Teil des Sammelbandes, der mit Perspectives überschrieben ist, eröffnet der Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Heinrich Bedford-Strohm. Er skizziert Zivilgesellschaft, Sozialstaat und Diakonie als Akteure, die gemeinsam in der Verantwortung stehen, den Hunger in der Welt und die Ursachen der ungerechten Ressourcenverteilung zu bekämpfen. Er entwickelt dazu – parallel zu seinem Programm einer »Öffentlichen Theologie« – das Modell einer »Öffentlichen Diakonie«, die im Wissen um die Pluralität der Gesellschaft im radikalen Einstehen für den Nächsten authentisch praktische Nächstenliebe lebt. Der in der gleichen Sektion stehende Artikel von Kaia D. Schultz Rønsdal geht auf das Konzept der citizenship ein, welches insofern dem Modell der Öffentlichen Diakonie nahesteht, als es die große Bedeutung der Zivilgesellschaft für einen gesamtgesellschaftlichen Wandel hervorhebt. Es verbindet drei primäre Ziele der Entwicklungspolitik: Ermöglichung von good governance, Steigerung gesellschaftlicher Teilhabe und Integration des Menschenrechtsdiskurses in die Entwicklungsthematik. Angesichts der engen Zusam­menarbeit von Diakonie und Entwicklungsdienst in Deutschland, die sich seit 2012 im »Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung« institutionell abbildet, wäre es lohnend gewesen, auch einen Beitrag zur Entwicklungspolitik aufzunehmen. Diese regelt, u. a. durch den Europäischen Entwicklungskonsens (2005), die Gestaltung der Entwicklungspolitik in der EU und ist im Lissabon-Vertrag (2009) gesetzlich verankert.
Die Artikel von Bedford-Strohm und Schultz Rønsdal erfüllen ebenso wie der Beitrag von Martin Schenk, »Active Agents as a Model of Social Advocacy«, die Erwartungen angesichts der Überschrift Perspectives, davon abgesehen erscheint die Aufteilung des Buches in Challenges, Contexts und Perspectives jedoch eher zufällig und dem Fehlen einer anderen Gliederungseinheit geschuldet. Ein Feedback, das die Tagungsergebnisse zusammenfasst, be­schließt den Band, was für den Leser, der die Beiträge der Tagung nicht kennt, leider wenig hilfreich ist. Das grundsätzliche Be­kenntnis der Tagung wird Leserinnen und Lesern jedoch deutlich: Evangelische Kirche und Diakonie sehen es als ihre gemeinsame Aufgabe an, die soziale Gerechtigkeit in Europa zu fördern und mit einem »protestantischen Blick von unten und als Stimme der Sprachlosen« (Gern, 20) verantwortliche Akteure gegen soziale Ausgrenzung zu sein.