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Ausgabe:

März/2015

Spalte:

287–288

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Noth, Isabelle [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Palliative und Spiritual Care. Aktuelle Perspektiven in Medizin und Theologie

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2014. 156 S. Kart. EUR 21,50. ISBN 978-3-290-17761-4.

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Stümke, Volker: Zwischen gut und böse. Impulse lutherischer Sozialethik. Münster u. a.: LIT Verlag 2011. 391 S. = Ethik im theologischen Diskurs, 23. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-643-11436-5.


Die vorliegende Publikation dokumentiert überwiegend die Beiträge einer Tagung der Abteilung Seelsorge der Theologischen Fakultät Bern in Verbindung mit dem Inselspital Bern und dem Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund, die sich der verdienstvollen Aufgabe stellt, medizinethische und theologische Herleitungen zur Palliative und Spiritual Care vorzunehmen und Chancen wie Unschärfen in der aktuellen Debatte und ihre Rückwirkung auf eine inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit darzulegen. Es ist das einende Interesse von Frank Mathwig, Lea Siegmann-Würth, Manfred Belok, Gian Domenico Borasio, Pascal Mösli, Steffen Eymüller und der Herausgeberin, in jeweils unterschiedlichen Perspektiven sowohl die Komplementarität (45) als auch die unterscheidenden Diskurslinien von Palliative Care und Spiritual Care hervortreten zu lassen.
Die Beiträge beziehen sich vor allem auf die Nationalen Leitli-nien des Schweizer Bundesamtes für Gesundheit zur Palliative Care aus dem Jahre 2008 (12.16.23.30.48.57.82.87.89), die auch Aussagen über das Profil einer »spirituellen Begleitung« enthalten. Ein in Mode gekommenes Schlagwort ist die sogenannte Spiritual Care. Es treten zwei Bedeutungsmuster hervor. Populärer Vertreter einer offenen und vagen Bestimmung der Spiritualität ist Traugott Roser (21.25), Isolde Karle hingegen warnt vor einer theologischen Entkernung eines Begriffs, der in der Folge auch das, was der Begriff sichern möchte, verflachen lassen muss (21 f.65.113). Beide sind im Band nicht als Autoren vertreten (die Position von Roser wird prominent von Gian Domenico Borasio aufgegriffen [117–127] und von Frank Mathwig referiert, die Position von Isolde Karle wird von ihm und Isabelle Noth aufgegriffen), doch gelten ihre unterschiedlichen Positionen als Folie für die geführte Debatte.
Von woher werden die inhaltlichen Einspeisungen zur Spiritual Care vorgenommen? Von der Palliative Care, der klassischen Seelsorge oder einem Spiritualitätsverständnis, das lediglich an die jeweilige Person angebunden ist? Zwei Traditionslinien (20) zeichnen sich ab, die sich historisch aus einer »angelsächsischen« und einer »romanischen« Linie herleiten lassen. Dem offenen Verständnis von Spiritualität steht ein in der Tradition der Kirche(n) verwurzeltes Verständnis gegenüber. Persönliche und unmittelbare Transzendenzerfahrung versus Frömmigkeit, die grundiert ist durch ein Leben aus dem Geist Gottes. Gilt es, so fragt Frank Mathwig, »zugunsten einer individuellen Spiritualität […] die mit überindividuellen Ansprüchen auftretende Religiosität in ihre Schranken zu weisen« (21), damit »die individuelle Freiheit der Patentin und des Patienten besser gewährleistet« bleibt (ebd.)? Mathwig zitiert Roser:
»Je nachdem, ob Spiritualität in der individuellen Lebenswelt des Patienten bedeutsam ist oder nicht, kommt der Berücksichtigung seiner spirituellen Bedürfnisse eine wichtige Funktion im gesamten Betreuungskonzept zu. Spiritualität ist in diesem Sinne prinzipiell individualistisch verstanden: Spiritualität ist genau – und ausschließlich – das, was der Patient dafür hält.« (25)
Diese »Unschärfe« in der Definition (113) ist das Einfallstor berechtigter Kritik. Zum einen wird das, was Religion ist, entkonkretisiert (vgl. ebd.). Was im Vagen verbleibt, orientiert nicht durch den notwendigen Denkanstoß, sondern muss sich am Ende dem Zufäl-ligen überantworten. Demgegenüber entfaltet Mathwig im Hinblick auf Lk 10,25–37 eine palliative Ethik, die ein »Sein in der Begegnung« (Karl Barth) ist (94). Humanität ist in einem solchen Modell immer auch dem Anspruch unterworfen, »dass die Symmetrie der wechselseitigen Erwartungen, der Blick auf gleicher Augenhöhe und der Anspruch auf gleiche wechselseitige Bedeutung, gewahrt wird« (95). Dann aber kann das, was als Spiritual Care verstanden werden soll, nicht einfach additiv zur Palliativmedizin hinzutreten und zum Amalgam ermäßigt werden. Ein solches Verständnis – das hebt Mathwig plausibel hervor – würde der Medizin nicht in Augenhöhe begegnen können, weil sie nicht wirklich resistent ist gegen Vereinnahmungen, umgekehrt fragt er an, »ob dem methodischen Vergessen der Leiblichkeit in der Medizin nicht eine konzeptionelle Ortlosigkeit des Individuums in der Spiritual Care korrespondiert« (32).
Es ist das Verdienst dieses Buches, hier die kritische Stimme theologischer Reflexion zu Wort kommen zu lassen, die einer irreführenden Harmonisierung wehrt. Das, woraufhin ein Mensch bei Einbruch einer schweren Erkrankung im Gegenüber Gottes vertraut, hat Rückwirkungen auf das Verständnis dessen, was Palliativmedizin ist. Die qualitative Differenz zwischen Letztem und Vorletzten (105) lässt sich nicht auflösen in einem vagen Verständnis von Spiritualität, das zum Spielball unterschiedlicher Interessen wird. Wer in diesem Diskurs unterwegs ist, sollte auf eine anregende Rast bei diesem Buch nicht verzichten!

Freiburg i. Br.Reiner Marquard




Ausgehend von den sozialphilosophischen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart zeichnet Volker Stümke kontextuell im interdisziplinären Gespräch die Impulse lutherischer Sozialethik ein. In vier ausdrucksstarke Teile untergliedert er die Beiträge des Aufsatzbandes: »Theologische Anregungen«, »Dog-matische Einsichten«, »Ethische Grundlagen« und »Sozialethische Herausforderungen«. Trotz der unvermeidlichen Verkürzungen bei der Darstellung des Kontextes, des wissenschaftlichen Diskurses und des Argumentationsganges soll ein Überblick über die verschiedenen Beiträge in der Weise gegeben werden, dass die lutherisch ge­prägte Perspektive in den einzelnen Aufsätzen thetisch an­gezeigt wird.
Im Aufsatz »Niemand ist gut als Gott allein« (9–43) aktualisiert der Vf. im Diskurs mit O. Marquards Polytheismusthese Luthers Auslegung des 1. Gebots. Im Pluralismus der verschiedenen Geltungsansprüche verleiht der dem »Wahrheitsanspruch« korres­pon­dierende »befreite Glaubensgehorsam« (41) Orientierungshilfen für die Lebensgestaltung des einzelnen Bürgers. Der Beitrag »Verwirrung der Normen« (69–86) verweist von J. Butler her auf die Grenzen ethischer Urteilsbildung von uns Menschen, indem mit M. Luther Gottes Unterscheiden zwischen Person und Tun des Menschen (85) zu konstatieren ist. »Der Mehrwert der Sünde« (87–111) als spezifischer Gehalt evangelischer Theologie wird erhellend mit J. Ha­bermas’ Verhältnisbestimmung von Religion und säkularem Be­wusst­sein argumentativ diskutiert.
Im hochinteressanten Beitrag »Der Geist, der ›in alle Wahrheit‹ (Pflichtbeobachtung) leitet« (135–170) geht der Vf. der Frage nach einer Pneumatologie bei I. Kant nach. Er verneint diese beim Philosophen der kritischen Vernunft. Wohl ist Kants Ethik vom vernunftbegabten, sein Handeln selbst bestimmenden Menschen offen für eine »weitere (geistliche) Sichtweise« (152) etwa durch die Rede vom »Geist als Richter und Herzenskündiger« in der Religionsschrift, die auf eine eschatologische Bedeutung des Geistes hindeutet (165): Dem aber steht Luthers Menschenverständnis »vor Gott« als Sünder und Gerechtfertigter ( simul peccator et iustus) ge­genüber, das aber von Kants ethischem Anliegen sittlicher Pflichterfüllung überlagert wird (170).
Der Aufsatz »Wie viel Selbstbestimmung gehört zur Würde des Menschen?« (171–204) erkennt die Gemeinsamkeit von Kant und Luther darin, dass beide die Menschenwürde als »Zusage« grundlegen (177.181). Demgegenüber zeigt die Beziehung von Vernunft und Gesetz einerseits und von Gott und Evangelium andererseits die Differenz zwischen beiden an. Auf diesem differenzierten Hintergrund werden auch Gemeinsamkeiten deutlich im Berufs- und Freiheitsverständnis, wobei als Impuls für evangelische Ethik – für Kant gegen Fremdbestimmung und Willkür – die Selbstbestimmung des Menschen als Konsequenz der Menschenwürde sowohl rechtlich als auch moralisch »eingefordert« und mit konkreten Rechten und Pflichten verbunden werden muss (200).
Im Beitrag »Einen Räuber darf, einen Werwolf muss man töten« (205–238) ordnet der Vf. Luthers Betonung der politischen Verantwortung der Christen als cooperatores Dei bei der Erhaltung der weltlichen Ordnung gegen Chaos und Unfrieden dem in der Zirkulardisputation vom 9.5.1539 (WA 39 II, 34–91) aufgetragenen Widerstandsrecht gegen antichristliche Angriffe auf die gesamte Ordnung menschlichen Zusammenlebens zu. Das Bildwort »Aufheben eines Strohhalms« (229–243), eingeordnet in Luthers metaphernreiche Theologie, entfaltet der Vf. für das Verstehen von Luthers Berufsethik und für die Rede von Gottes Wirken »sub contrario«. Die Frage von C. F. v. Weizsäcker »Sind wir einer asketischen Weltkultur näher gekommen?« (244–269) verneint der Vf. Jedoch vermag der Funktionalisierung von Askese und der implizit sich so manifestierenden Sündenverstrickung der Menschen eine religiöse Fundierung der Askese durch die christliche Botschaft von der Vergebung der Sünden im Zusammenhang von Gesetz und Evangelium Antwort zu geben.
In weiteren Aufsätzen zu sozialethischen Herausforderungen nimmt der Vf. differenziert und in Schritten ethischer Urteilsbildung Stellung zur aktuellen Folterdebatte und zur Sicherungsverwahrung (270–320). – In »… erlöse uns von dem Bösen« (336–356) bedenkt der Vf. in existentiell andringender Weise mit Luther und über Luther hinausgehend das Böse als eine Kategorie der politischen Ethik. – Der Aufsatz »Befreit zur Gemeinschaft. Gedanken zum Jüngsten Gericht« (357–387) zeichnet die eschatologische Bedeutung der Glaubensgemeinschaft mit Gott dem Vater (357.380) als »dialogische Unsterblichkeit« nach, wobei Jesus Christus es ist, der »für meine Gemeinschaftswürdigkeit bei Gott einsteht« (387).
Aktuelle sozialethische und gesellschaftspolitische Herausforderungen werden vom Vf. im interdisziplinären Diskurs fundamentaltheologisch und dogmatisch mit der Klarheit des Begriffs be­dacht. Das reformatorische Gedächtnis lutherischer Grundeinsichten (Gott und Glaube, Sünde und Rechtfertigung, Gesetz und Evangelium, Gericht und Gnade, geistliches und weltliches Re-giment, Person und Werk des Menschen, Beruf und Gebet u. a.) wird – im Unterscheiden, ohne zu trennen – der sozialethischen Urteilsbildung zugeführt in der Weise, dass mit Erkenntnisgewinn die Aktualität lutherischer Sozialethik signifikant gemacht wird.
Das intensive Studium der einzelnen Beiträge zu den verschiedenen Themenfeldern vermittelt dem Leser sowohl erkenntniserhellende Denkimpulse als auch geistliche Einsichten für das Verhältnis der ethischen Prinzipien Freiheit und Verantwortung im heutigen sozialethischen Diskurs.

Leimen bei HeidelbergMichael Plathow