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Ausgabe:

März/2015

Spalte:

281–285

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Dabrock, Peter

Titel/Untertitel:

Befähigungsgerechtigkeit. Ein Grundkonzept konkreter Ethik in fundamentaltheologischer Perspektive. Unter Mitarbeit v. R. Denkhaus.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2012. 384 S. Kart. EUR 39,99. ISBN 978-3-579-08110-6.

Rezensent:

Georg Pfleiderer

Mit dem anzuzeigenden Werk legt der durch eine rege wissenschaftliche Publikationstätigkeit und die Mitarbeit in wichtigen politischen und kirchlichen Ethikkommissionen bekannte Peter Dabrock sein »second book« vor. Darin fasst er beinahe 20 in den letzten Jahren entstandene Arbeiten zu Grundfragen der Sozialethik sowie zur Gesundheits- und Generationenethik zusammen, führt diese weiter und gestaltet aus ihnen eine gedanklich kohärente, argumentations- und diskursstarke und darum überaus lesenswerte Monographie. Maßgeblich dabei geholfen hat ihm seine Mitarbeiterin Ruth Denkhaus, die einzelne Abschnitte selbst verfasst, Aufsätze aktualisiert und das ganze Manuskript überarbeitet hat.
Die Frage nach sozialer Gerechtigkeit ist ein – vielleicht das – Grundthema der Sozialethik. Wenn D. diese insgesamt als »kon-krete Ethik in fundamentaltheologischer Perspektive« versteht, soll damit gesagt sein, dass Sozialethik zugleich sowohl ethische Grundlagentheorie wie auch angewandte Ethik sein müsse. Beiden Ansprüchen wird das Buch zweifellos gerecht, wobei hinsichtlich der Abdeckung im Bereich angewandter Ethik sehr exemplarisch verfahren wird, indem lediglich die beiden erwähnten Felder der Gesundheits- und Generationenethik zur Sprache kommen und auch diese nur in ausgewählten Hinsichten. Aber D. will mit seinem Werk ja auch kein flächendeckendes (falls das überhaupt noch ginge) Lehrbuch der Sozialethik schreiben, sondern einen pointierten, durchdachten, gut begründeten und exemplarisch ausgeführten eigenen Ansatz zu einer zentralen sozialethischen Fragestellung vorlegen. Das gelingt ihm auch und auf eindrucksvolle Weise.
Zentrale These des Buches ist, dass soziale Gerechtigkeit nicht als ausgleichende Gerechtigkeit oder Verteilungsgerechtigkeit, sondern als »Befähigungsgerechtigkeit« gedacht werden müsse. So verstandene Gerechtigkeit sei theologisch anschlussfähig an den biblischen sozialethischen Zentralbegriff der Bundestreue (zedaqah). Diese weise jedoch zugleich einen charakteristischen Überschuss auf, in­dem sie den Gehalt zweier weiterer sozialethischer Grundbegriffe mitimpliziere, nämlich – modern gesprochen – Solidarität (oder Fürsorge) und Nächstenliebe (agape, oder Barmherzigkeit, vgl. 130). Während Letztere ohne die spezifisch christliche Begründung und Ermöglichung (durch die zuvorkommende Rechtfertigung und Liebe Gottes, die im Glauben erfasst wird) nicht zu denken sei, sei Befähigungsgerechtigkeit als konkrete Gestalt sozialer Gerechtigkeit als eine allgemein vernünftige ethische, darum aber auch grundrechtliche Norm einsichtig zu machen. Solidarität komme eine Zwischen- und Brückenstellung zwischen beiden Begriffen und Bereichen zu. Schon an diesem Begriffsverhältnis zeige sich mithin die besondere Vermittlungsaufgabe theologischer (Sozial-)Ethik als einem zentralen Stück öffentlicher Theologie.
Das Buch ist in fünf jeweils ca. 70-seitige Kapitel unterteilt. Im ersten (»Konkrete Sozialethik in fundamentalttheologischer Perspektive«, 17–72) wird im Rückgriff auf J. Rawls’ kohärentistisch-kontraktualistische Figur des »reflective equilibrium« Sozialethik als spezifisches Ineinander von Begründungs- und Anwendungsdiskurs bestimmt (»konkrete Ethik« im Sinne von L. Siep), das jedoch durch die normative Vorgabe der Menschenwürde als Grundnorm (zugunsten des Ersteren) vorzustrukturieren sei. Sozialethik sei ferner ohne soziologische Theorie der modernen Gesellschaft, die D. von Luhmann entleiht, nicht zu haben, wobei er jedoch dessen Skepsis gegenüber normativer Ethik und ethisch motivierten Steuerungsprojekten sozialer Systeme korrigiert. Dabei kann er sich auf den späten Luhmann und dessen Hinweise auf die Exklusionstendenzen moderner Subsysteme mit Verallgemeinerungsgefahren berufen (vgl. 199–211). »Funktionsanalytisch ist zu untersuchen, ob und warum durch bestimmte Strukturen, Organisationen oder Programme Subjekte gehindert werden, als Personen oder als Gruppe von Personen aktiv in dem jeweiligen Funktionssystem zu kommunizieren.« (46) Dass und inwiefern zu solcher aktiver Kommunikation von Subjekten im politischen System, aber auch in ethisch-moralischen Diskursen der Rekurs auf religiöse Ressourcen gehören dürfe, zeigt D. in Auseinandersetzung besonders mit Jürgen Habermas.
Gegen den (auch Luhmannschen) Rechtspositivismus sei Gerechtigkeit (Kapitel II, 73–137) als rechtstheoretischer und -ethischer Grundbegriff zu entwi-ckeln, was durch seine vernünftige Formalität (Verfahrensgerechtigkeit) er­möglicht werde, die jedoch ihrerseits – wie schon bei Kant erkennbar – ohne »minimalinhaltliche Kontrollkriterien« (80), nämlich die Anerkennung heischende Würde des Anderen, nicht zu denken sei. Begründungstheoretisch sei mit Rawls ein »Gerechtigkeitssinn« (nicht intuitionistisch, sondern strukturiert durch jenes reflective equilibrium) in Anschlag zu bringen, der jedoch (mit B. Liebsch) durch einen aus jenem nicht einfach ableitbaren »Sinn für Ungerechtigkeit« (100) zu ergänzen sei. An dessen Unableitbarkeit und passivischer Empfänglichkeit für »Außerordentliches« (105) zeige sich zugleich die Grenze einer rationalen Deduktion des ersteren und des Gerechtigkeitsbegriffs insgesamt. Neben diesem sei es die motivationale Schwäche der (Verfahrens-)Rationalität, die eine am Gerechtigkeitsbegriff orientierte Ethik und Moral für Religion, näherhin und beispielhaft für das biblische Gerechtigkeitsverständnis, aufschließe (108). Dieses, also zedaqah als auf umfassenden schalom zie-lendes von Gott ausgehendes »Barmherzigkeitsrecht« (123), verdanke sich seinerseits nämlich »exemplarischen Unrechtserfahrungen« (125).
Im zentralen dritten Kapitel (138–218) wird »Befähigungsgerechtigkeit als Ermöglichung gesellschaftlicher Inklusion« (138) entfaltet. Daran knüpfen sich die methodologischen Ansprüche einer »angemessenen Verhältnisbestimmung von Freiheit und Gleichheit« (139, Egalitarismusdebatte) sowie einer präzisen Überlappung von »Begründungs- und Anwendungsdiskurs« (149). Der inzwischen ja weit verbreitete Begriff, für dessen Erfindung bzw. Einführung in den deutschen Sprachraum D. nicht ohne Stolz das Erstgeburtsrecht reklamiert (15), soll hier kritikresistenter gemacht werden, indem der auf A. Sen und vor allem M. Nussbaum zurückgehende »capabilities approach bzw. capability approach« (149) eigenständig weiterentwickelt wird. Grundgedanke des Ansatzes ist, dass – wie im Falle der Menschenwürde durch die Menschenrechte – soziale Gerechtigkeit bzw. der ihm zugrunde liegende Gedanke eines freiheitlich-selbstbestimmten menschlichen Lebens in Gestalt einer »Liste von capabilities« (166), wie M. Nussbaum sie ausgearbeitet hat und die von D. vollständig zitiert wird (vgl. 166–168), material zu konkretisieren sei. Diese 10(!)-Punkte-Liste entfaltet ein nor-matives Menschenbild von fundamentalen capabilities, die sozialethisch unbedingt beachtungswürdig seien, weil sie ein »decent minimum« (179) menschenwürdigen Lebens – gedacht als »Befähigung zur realistischen Teilnahmemöglichkeit an sozialer Kommunikation und somit als Entfaltungsmöglichkeit der eigenen Persönlichkeit« (184) – beschrieben. Für D. ist nicht der oft gegen diese Aufstellung erhobene Essentialismusvorwurf (die Liste sei als offene gedacht, vgl. 172) virulent, sondern die Problematik, dass die etwaige Begrenzung einzelner oder vieler solcher Fähigkeiten nicht nur durch gesellschaftlich beeinflussbare, sondern auch durch sie unbeeinflussbare Faktoren (insbesondere »die Natur«) bedingt sein kann (Behinderungen). In solchen Fällen komme – wie bei ihrer Urheberin selbst auch zumindest in früheren Schriften tatsächlich geschehend (vgl. 153 f., vgl. 161–164) – die Kehrseite der normativ-kriteriologischen Funktion der Liste als Diskriminierungsinstrument entsprechend Nichtbefähigter zum Vorschein. Hier zeige sich – trotz Nussbaums Versuch einer korrigierenden Erweiterung des rationalitätslastigen Menschenbildes des liberalen Kontraktualismus – auch bei ihr eine verbleibende Aktivismusverhaftung, die es theologisch durch Betonung des »passive(n) Eingebundenseins in menschliche Beziehungen« (164) noch einmal grundsätzlicher zu korrigieren gelte. – Während die Liste als solche einen egalitaristischen Zug hat, hat der Befähigungsgedanke als solcher sowie das Verständnis der in der Liste beschriebenen Eigenschaften als decent minimum antiegalitäre Effekte in Gestalt von Abstufungsoptionen. Dieses verstärkt sich, wenn man das decent minimum seinerseits kultur- und gesellschaftsvariant versteht, was D. mit M. Nussbaum tut. Die genaue »Bestimmung des Suffizienz-levels« sei »immer vom Vermögen der anderen abhängig« (179). Darum sei es Aufgabe politisch-sozialethischer Diskurse, jeweils einen »cut-off-point von Umverteilungen« (184) zu bestimmen.
Was dieses Konzept mit der biblischen Zedaqa-Konzeption vermittelbar mache, sei im Grunde ihre Inklusionsorientierung, die theologisch als »vorrangige Option für die Benachteiligten« (189) auszuarbeiten sei. In der Armutsdenkschrift der EKD von 2006 sei dies grundsätzlich zutreffend, aber im Einzelnen kritikwürdig ausgearbeitet worden. Demgegenüber erhebt D. den Anspruch, mit seinem Konzept von Befähigungsgerechtigkeit ein systemtheoretisch abgesichertes, differenziertes Verständnis von inklusions-/exklusionsorientierter Sozialethik vorlegen zu können (vgl. 197–218).
Wer erwartet, dass D. in den beiden anwendungsorientierten Kapiteln zu Gesundheit und zur Generationengerechtigkeit konkrete Vorschläge zur Bestimmung des decent minimum und darauf basierender cut-off-points von Umverteilungen macht, wird enttäuscht; die erklärten Absichten einer konkreten Ethik sind eher diskursanalytischer Natur (vgl. 246). So soll im vierten Kapitel (219–286) gezeigt werden, »dass und wie das Konzept der Befähigungsgerechtigkeit als Leitkriterium einer Ethik des Gesundheitswesens dienen […] kann« (219). Dies wird in weit ausholender Weise, u. a. durch den Versuch der Aufdeckung »konfligierender Menschenbilder in der Gesundheitssystemdebatte« (247), in Auseinandersetzung mit H. Kliemt, W. Kersting und O. Höffe versucht. Das decent minimum jeweiliger Gesundheitsversorgung müsse sich einerseits an den gesellschaftlichen Möglichkeiten, andererseits an den durch Krankheit bedingten Hinderungsgründen der Nutzung in­dividueller Fähigkeiten zu sozialer Kommunikation orientieren. Diskurskritisch warnt D. vor interessegeleiteter Panikmache in Debatten um medizinische Allokationsfragen. Darüber hinaus mahnt er an: »Nur im Rahmen einer Kultur der Solidarität, die Sozialkohäsion und wechselseitiges Vertrauen schafft, wird […] der Sinn für Gerechtigkeit auf Dauer gedeihen können.« (267)
Intensiver und ertragreicher als beim 4. Kapitel sind beim abschließenden fünften zum Problemkreis des demographischen Wandels und der Generationengerechtigkeit (287–338) materiale und grundlagentheoretische Fragen miteinander verbunden. Einerseits wird der Generationsbegriff als gesellschaftstheoretischer Be­griff diskurskritisch in Frage gestellt und durch den Begriff der Alterskohorten ersetzt; andererseits wird jedoch am Verhältnis familiärer Generationen zueinander die gesamte Theoriekonzep-tion noch einmal entscheidend erweitert. D. macht nämlich den Vorschlag, das Generationenverhältnis solidaritäts- und näherhin gabetheoretisch zu denken. Damit zeigt sich hier deutlicher als auch noch in den expliziten Theorieteilen seines Entwurfs, was er mit seiner These von der Notwendigkeit, Gerechtigkeit und Ge­rechtigkeitsdiskurse müssten in einer »Kultur der Solidarität« beheimatet werden, meint.
D. legt mit diesem Buch einen überaus anregenden, denkerisch und argumentativ hochkomplexen Beitrag zur allgemeinen und theologischen Sozialethik und näherhin zur Gerechtigkeitsdebatte vor. Ob er – trotz seines diesbezüglich vielleicht etwas hin­derlichen Erscheinungsortes – auch außertheologisch das ge­bührende Interesse finden wird, muss sich zeigen. Kritik dürfte sich der befähigungstheoretische Ansatz vor allem hinsichtlich der Konkretheit, näherhin der »Effizienz« und Präzision, zuziehen, die er einerseits reklamiert, andererseits auch wieder zurücknimmt. Befähigungen sind, wie D. selbst weiß und schreibt, im­mer – auch – subjektiv. Darum widersetzen sie sich jener Objek-tivierbarkeit. Das könnte der innere Grund für die – in dieser Hinsicht durchaus – lobenswerte Epoché in sozialethischen und gar politischen Konkretionsfragen sein. Weiterzudenken (für Le­ser wie vielleicht auch für D.) dürfte am Verhältnis von Gerechtigkeit und Solidarität sein. Das Generationenkapitel bietet dafür interessante Anregungen.
Deutlich weniger komplex als die sozialphilosophischen Diskursteile des Buches fallen die theologischen aus. Hier muss sogar von einer gewissen Unterkomplexität gesprochen werden. Theologisches scheint für D. – zumindest in diesem Buch – nahezu identisch zu sein mit einer biblischen Theologie, die sich um religionsgeschichtliche Fragen nicht schert. Auffällig ist auch der nahezu völlige Ausfall der theologiegeschichtlichen Reflexion. Hätten z. B. Schleiermacher (der gar nicht), Troeltsch (der nur einmal, aber im Personenverzeichnis wieder vergessen) oder Tillich – oder auf diese Tradition bezogene Autoren wie T. Rendtorff (auch nur einmal kritisch) zum Verhältnis von Gerechtigkeit und Solidarität (Nächs­tenliebe) nicht auch Interessantes beizusteuern? So neu und nur von neueren amerikanischen oder französischen Autoren produktiv bearbeitet ist die Fragestellung nun auch wieder nicht. Wolfgang Huber mag als erster Theologe den Öffentlichkeitsanspruch der protestantischen Theologie in einen Buchtitel geprägt haben; das Phänomen selbst ist bekanntlich mindestens 200 Jahre älter.