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Ausgabe:

März/2015

Spalte:

277–281

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Bohrmann, Thomas, Lather, Karl-Heinz, u. Friedrich Lohmann[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Handbuch Militärische Berufsethik. Bd. 1: Grundlagen.

Verlag:

Wiesbaden: Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften 2013. XII, 430 S. m. 2 Abb. Geb. EUR 39,95. ISBN 978-3-531-17715-1.

Rezensent:

Angelika Dörfler-Dierken

Die beiden Theologen an der Universität der Bundeswehr in München, der katholische Soziallehrer Thomas Bohrmann und der evangelische Dogmatiker und Ethiker Friedrich Lohmann, haben zusammen mit Karl-Heinz Lather, einem pensionierten General der Bundeswehr, der sich für die Katholische Friedensstiftung engagiert, den ersten Band eines auf zwei Bände angelegten Handbuchs zur Berufsethik für Soldatinnen und Soldaten vorgelegt. Während Lather sich nicht unter den Autoren im ersten Band findet – offenbar bürgt sein Name für die militärische Expertise – haben Bohrmann und Lohmann grundlegende Untersuchungen zum Thema vorgelegt: Der Erstgenannte fordert eine neue Militär-­ethik und ein neues soldatisches Ethos unter dem Titel »Grundperspektiven der militärischen Berufsethik«, der Zweitgenannte reflektiert »Krieg und Frieden« aus der Perspektive philosophischer Ethik. Nach Bohrmann handelt es sich bei militärischer Berufsethik um eine »Bereichsethik« (24), die »ebenengerecht« (27), also entsprechend dem jeweiligen Dienstgrad, umzusetzen ist. Sie »zielt somit auf die eigenständige Entscheidungsfähigkeit und den verantwortlich handelnden Soldaten« und darf »nicht zur Einrichtung einer abgegrenzten ›Sonderethik‹ führen, in deren Rahmen grundlegend neue ethische Normen und Werte als Rechtfertigung jedweden militärischen Handelns herangezogen werden können« (26).
Die Herausgeber erläutern in ihrer Einleitung die zentrale Forderung dieses Sammelbandes: Weil die Bundeswehr auf den Einsatz hin optimiert und modernisiert werde, müsse sie auch in ethisch-moralischer Hinsicht weitergebildet werden. Die ethische Legitimität von Landesverteidigung sei nämlich nicht mehr einsichtig, wenn Soldaten (Soldatinnen kommen weder sprachlich noch anderweitig in diesem Band vor) zum Einsatz in weit von Europa entfernte Krisenregionen befohlen werden. Gesetzeskonformes militärisches Handeln könne aber unter Einsatzbedingungen nicht immer auch ethisch-moralische Legitimation beanspruchen:
»Entscheidungen und Handlungen in besonders kritischen Lagen können durchaus gesetzeskonform erfolgen, ihre ethisch-moralische Legitimation ist dadurch jedoch noch nicht garantiert. Spätestens wenn die Medien und die Öffentlichkeit Entscheidungen militärischer Führer ethisch-kritisch bewerten, stellt sich für den ›Staatsbürger in Uniform‹ die Frage nach den Bestimmungsgründen seines Handelns, nach den ethischen Dimensionen seines Berufs.« (7)
Damit werde den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr eine große Last und Verantwortung auferlegt, denn sie müssten in unübersichtlichen Lagen und unter enormem Stress richtige, d. h. vor der kritischen Öffentlichkeit individuell zu vertretende, Entscheidungen fällen. Weil das sittlich gebundene Individuum vor seinem eigenen Gewissen die Beteiligung an der militärischen Komponente eines Auslandseinsatzes rechtfertigen muss, wenn es möglicherweise durch Schusswaffengebrauch andere Menschen, Kombattanten oder Zivilisten, befehlsgemäß tötet und gegebenenfalls sich selbst der Möglichkeit von Tod und Verletzung aussetzt, muss der soldatische Einsatz nicht nur legal, sondern auch vor dem je eigenen Gewissen legitim sein. Deshalb bieten Bohrmann und Lohmann Soldatinnen und Soldaten eine spezielle militärische Berufsethik an, die dazu ermutigt und ermuntert, das Gewissen zu schärfen (8).
Das Urteil über die moralische Legitimität des Einsatzes muss – oder darf – der einzelne Soldat bzw. die einzelne Soldatin der Bundeswehr jeweils selbst fällen, auch wenn die meisten Uniformträger sich in den Einsatz befehlen lassen (wollen). Deshalb konzentriert sich die aktuelle innermilitärische und militärethische Diskussion stark auf das soldatische Individuum, das mit den Folgen seiner Entscheidung für Einsatz und Waffengebrauch leben muss: mit äußeren oder inneren Verletzungen bis hin zum leiblichen Tod. Damit ist ein grundsätzlicher Wandel in der Betrachtung von Soldatinnen und Soldaten und deren Aufgaben markiert, denn traditionellere Bestimmungen des soldatischen Berufsbildes erfolgten von der Idee her, dass der einzelne Soldat sich in die Armee einfügt wie ein Rädchen in eine Maschine. Gerade die Fähigkeit, im Zweifel sein eigenes moralisches Urteilsvermögen zurückzudrängen und das zu tun, was befohlen wird, qualifizierte ihn für die Armee. Dagegen wird in dem vorliegenden Handbuch der Soldat bzw. die Soldatin als Grundrechtsträger gesehen, der bzw. die ein moralisches Subjekt ist, das eigene Gewissensentscheidungen treffen muss.
Der derzeit vorliegende Band zur militärischen Berufsethik konzentriert sich auf die ethischen, philosophischen, rechtlichen und politischen Grundlagen des soldatischen Dienstes. Ergänzt werden diese thematischen Zugänge durch einen instruktiven Anhang, der neben einer annotierten Bibliographie auch kommentierte Internetadressen wichtiger Institutionen auflistet und ausführliche Register und Verzeichnisse enthält.
Alle Beiträge zu diesem Sammelband sind nach demselben Schema gegliedert: Neben die Formulierung und Beantwortung von Leitfragen treten kapitelweise Zusammenfassungen und Merksätze; weiterführende Diskussionsfragen, die Leser zur Entwicklung eigener Positionen anregen sollen, schließen sich an. Abschließend findet sich eine Auswahlbibliographie zum jeweiligen Thema.
Finanziert wurde das Projekt, das sich von Form und Inhalt her eher an Soldaten mit einem höheren formalen Bildungsabschluss richtet, die zudem intellektuell interessiert und (selbst-)bildungswillig sind, vom Katholischen Militärbischofsamt. Allerdings ist der Sammelband nicht konfessionell katholisch ausgerichtet, er argumentiert über weite Strecken ohne jeden Anklang an christliche Tradition. Die potenziellen Adressaten sind an den Offiziersschulen der Bundeswehr, an deren beiden Universitäten und an der Führungsakademie der Bundeswehr sowie bei den Militärseelsorgern zu su­chen, die sich mit berufsethischen Problemen in den im Dienstplan für monatlich zwei Stunden vorgesehenen »Lebenskundlichen Un­terrichten« beschäftigen. Darüber hinaus – und das ist der Rezensentin ganz wichtig – gewähren die Autorinnen und Autoren der interessierten Fachöffentlichkeit sowie den Politikern und Politikberatern einen tiefen Einblick in beachtenswerte militärspezifische und gewalttheoretische Diskussionszusammenhänge.
Der erste Band des Handbuchs gliedert den Stoff unter vier Perspektiven:
1. »Der Soldat zwischen Krieg und Frieden: Ethische Orientierungen«
2. »Gewalt – Recht – Staat: Interdisziplinäre Annäherungen«
3. »Soldatsein im 21. Jahrhundert: Sicherheitspolitische Rahmenbedingungen«
4. »Berufsethische Bildung: Aktuelle Entwicklungen und Perspektiven«
Als Autoren konnten die Herausgeber eine große Zahl von Soziologen, Politologen, Juristen, Theologen und Philosophen ge­winnen, die zumeist im Dienst der Bundeswehruniversität München oder der Militärseelsorge stehen, aber auch einige Wissenschaftler aus anderen Lebens- und Berufszusammenhängen wie etwa den Berliner Politologen Herfried Münkler, die Direktorin der Akademie für Politische Bildung Tutzing Ursula Münch, den Deutschen Stellvertretenden Dekan beim George C. Marshall European Center for Security Studies in Garmisch-Partenkirchen Sven Bernhard Gareis oder den Medizinethiker Georg Marckmann. In den Dunstkreis von Militärseelsorge und akademischer Theologie ge­hören neben den beiden jüngeren Herausgebern Veronika Bock, die Leiterin des Zentrums für ethische Bildung in den Streitkräften (ZeBiS) in Hamburg, der theologische Referent im Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr Dirck Ackermann, dessen katholisches Pendant Lothar Bendel, zudem Volker Stümke, Dozent für Evangelische Sozialethik an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, der zugleich Leiter des dortigen Forums für internationale militärische Berufsethik ist, und Thomas Elßner, der katholische Dozent und Militärseelsorger am Zentrum Innere Führung in Koblenz. Diese Autoren wurden hervorgehoben, weil sie aufgrund ihres »Amtes« mit Fragen militärischer Berufsethik befasst sind und weil ihre Überlegungen Interessierten einen guten Einblick in das Nachdenken über Phänomene militärischer Gewalt und die Anstrengungen zur ethischen Bildung der Soldatinnen und Soldaten geben. Weitere Aufsätze beschäftigen sich mit Fragen der internationalen Politik und des Völkerrechts.
Alle Beiträge sind wissenschaftlich solide und interessant, wenn man sich natürlich auch fragen kann, warum höher- oder hochrangige Soldatinnen und Soldaten ausgerechnet die von den Autoren des Sammelbandes angesprochenen Themenfelder und Problemkonstellationen kennenlernen sollen, die immer wieder auf die Bedeutung von Recht und Moral reflektieren, aber doch auch etwas zufällig wirken. In manchen Beiträgen wird abstrakt von sicherheitspolitischen Herausforderungen gesprochen, ohne dass deutlich würde, dass die intendierten Leserinnen und Leser gerade diejenigen sein sollen, die sich solchen Herausforderungen stellen müssen. Wäre weniger intellektuelle Auseinandersetzung und stattdessen mehr Nachdenken über die Selbstverantwortung und Selbstsorge des in eine »totale Organisation« (Erving Goffman) eingebundenen Menschen nicht wichtiger? Bedeutsam ist die auf den Verstand des Soldaten zielende Argumentation dennoch, denn sie macht deutlich, was Uniformträger erwarten dürfen: dass ihnen erklärt wird, was sie warum und mit welchen Mitteln tun sollen und tun dürfen.
Nicht diskutiert wird in diesem Handbuch zur militärischen Berufsethik die Frage, ob der »Staatsbürger in Uniform« – als ein solcher sollen sich Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr nach deutschem Recht und Gesetz begreifen – tatsächlich eine eigene Berufsethik braucht. Man kann gegen die Etablierung einer besonderen militärischen Berufsethik einwenden, dass für Soldatinnen und Soldaten das Grundgesetz gilt, das bekanntlich alle deutschen Bürgerinnen und Bürger auf den Frieden verpflichtet und militärische Einsätze nur zur Landesverteidigung oder im Rahmen multinationaler Einsätze zur Stabilisierung im Fall internationaler Krisen und Gefährdungen vorsieht. Das Grundgesetz unterscheidet nicht zwischen einer Moral in Friedenszeiten und einer besonderen Moral für die Zeiten von Konflikt und Krieg. Nur Selbstverteidigung und Nothilfe gelten nach deutschem Recht als Rechtfertigungsgründe für Tötungen. Muss für Tötungen im Einsatz tatsächlich eine Berufsethik für Militärpersonen geschaffen werden? Oder ist eine vom militärischen Einsatz her argumentierende Ethik, eine Berufsethik für Kämpfer, in den letzten Jahren längst entstanden? Wie hat sich der Soldatenberuf verändert durch den Charakter der Einsätze, die von Soldatinnen und Soldaten bewältigt werden müssen? Ist das Selbstbild von Soldatinnen und Soldaten durch die Erfahrung des »Krieges« in Afghanistan tangiert worden, ist »Kampf« zu dessen neuem »Gravitationszentrum« (Jens Warburg) geworden? Wie verhält sich ein gewaltgeprägtes Ethos, das die Soldaten auftragsgemäß beschäftigen muss, zu einem zivilen Ethos, wie es von Entwicklungshelfern oder NGOs verkörpert wird? Sollten die Fragen zu moralischen Grundlagen des Soldatenberufs und zum Verhalten von Soldaten im Einsatz unabhängig von denen zu moralischen Grundlagen von deutschen Entwicklungshelfern, Polizisten oder Juristen diskutiert werden? Wie müsste sich eine Sonderethik für mit letalen Gewaltmitteln arbeitende Sicherheitsbeamte oder »Krisenhelden« (Nina Leonhard) zur politischen und wissenschaftlichen Diskussion um Sicherheit durch Konfliktprävention und Krisentransformation verhalten? Diese Fragen haben es in sich, greifen sie doch die jüngsten politisch-militärischen Debatten auf. Schließlich leben wir aktuell in einer Welt, in der die militärischen Interventionen im Irak und in Afghanistan von vielen Politikern und Bürgern als gescheitert beurteilt werden und zugleich die Wahrnehmung größerer Verantwortung Deutschlands für die Welt gefordert wird.
Der vorliegende Band stellt sich diesen und weiteren Fragen nicht wirklich. Hier werden Soldaten mit vielseitigem und vielschichtigem Professionswissen ausgestattet, das lose um den Friedensgedanken herum gruppiert ist. Die besonderen Herausfor-derungen, denen sich Soldatinnen und Soldaten im Einsatzland stellen müssen, wenn sie bei Patrouillen zwischen Kombattanten und Zivilisten unterscheiden müssen, und die Herausforderungen und Selbstgefährdungen, die durch den ständigen Umgang mit Gewaltmitteln, durch die Erfahrung existenzieller Bedrohung und extremer Armut entstehen, kommen nur am Rand in den Blick.
Die Frage, ob die Bundeswehr eines solchen Handbuchs bedarf, welches das soldatische Gewissen in der Zielperspektive bildet, sich an militärischen Einsätzen weltweit zu beteiligen, wird von den Autoren nicht gestellt. Dabei wäre sie naheliegend, denn in der Bundeswehr gilt die Konzeption der Inneren Führung. Diese nach den gewalttätigen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg geschaffene Konzeption sollte verhindern, dass eine vom grundgesetzlich vorgegebenen Ziel militärischen Handelns unabhängige oder ihm gar zuwiderlaufende Ethik entstehen könnte. Die Innere Führung beansprucht, in ihrem Kern eine Ethik für Soldatinnen und Soldaten in einer Demokratie zu sein. Und sie hebt speziell auf das Gewissen der Soldaten ab. Bezeichnenderweise fehlt in diesem Sammelband der Bezug auf diese rechtlich und politisch gut verankerte Konzeption – allein im Artikel von Bock finden sich Anklänge an die grundlegenden Entscheidungen und Normen der Inneren Führung. Bohrmann behauptet dagegen in seinem einleitenden Artikel, dass die militärische Bereichsethik über der binnenmilitärischen Konzeption der Inneren Führung steht. Jochen Bohn, auch er von der Universität der Bundeswehr in München, gibt der Konzeption der Inneren Führung kurzerhand den Laufpass, weil sie veraltet und nur für den Kalten Krieg tauglich gewesen sei. Es fehlt in dem vorliegenden Sammelband eine grundsätzliche Reflexion auf die Konzeption der Inneren Führung, die Soldatinnen und Soldaten einerseits in Demokratie und pluralistischer Gesellschaft verankert und sie zu ihrem Handeln motiviert, andererseits die Demokratisierung der militärischen Organisation fordert und fördert.
Keiner der Beiträge in dem vorliegenden Sammelband ist uninteressant. Selbst wenn Leser andere Fragen stellen mögen als die Autoren der einzelnen Beiträge, gibt es doch in jedem Aufsatz viel zu lernen. Gerade weil Teile der bundesdeutschen Gesellschaft und der Kirchen die außen- und sicherheitspolitische »Wende« der letzten Jahre (noch) nicht mitvollzogen haben, weil diese Wende in der öffentlichen Diskussion aber latent immer präsent ist, sind die völkerrechtlich argumentierenden Artikel von hohem Interesse.
Dem mit großer Sorgfalt erarbeiteten Sammelband sind viele Leserinnen und Leser von außerhalb der Bundeswehr zu wünschen, die mit Soldatinnen und Soldaten, den politischen Verantwortungsträgern und den einsatzerfahrenen humanitären Helfern diskutieren, was durch den Einsatz militärischer Gewaltmittel geschaffen werden kann in der Welt und welches geistige und moralische Rüstzeug Soldaten brauchen, wenn sie sich für Auslandseinsätze zur Verfügung stellen. Dass Theologinnen und Theologen, die in der Bundeswehr und für Soldaten tätig sind, Einblick gewähren in ihre Arbeitsfelder und die sie bei ihren Unterrichten leitenden Überlegungen, ist ein guter Anlass, über die Fragen nachzudenken und zu diskutieren, die im viel verwendeten, aber häufig nicht definierten Stichwort von der »Einsatzarmee« kulminieren.