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Ausgabe:

März/2015

Spalte:

268–270

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Brand, Gabriel

Titel/Untertitel:

Leben in Differenz. Luthers Verständnis der Sünde im Kontext von Moral und Kultur

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013. 520 S. Kart. EUR 78,00. ISBN 978-3-374-03218-1.

Rezensent:

Volker Leppin

Die vorliegende Dissertation von Gabriel Brand wurde von Dietrich Korsch betreut und am Fachbereich Theologie in Marburg eingereicht. In gewisser Weise bietet sie mehr und auch weniger als der Untertitel verspricht, der eine Arbeit über Luther erwarten lässt. Tatsächlich wird im Mittelteil auch der Reformator behandelt, dem geht aber ein Abschnitt zu Kant (zum Stichwort »Moral«) voraus, und es folgt einer zu Charles Taylor (»Kultur«). Das erweitert die Anzahl der Personen, die B. behandelt, bringt aber die Gefahr mit sich, dass Luther inadäquat durch eine vorgeprägte Brille wahrgenommen wird. Das gilt umso mehr, als die Gliederung – wie B. selbst vermerkt (13) – offenkundig mit chronologischen Zuordnungsformen und damit dem Gedanken einer linearen theologiegeschichtlichen Entwicklung bricht, ja, B. benennt selbst, und das ist wohl als Vorteil gemeint, dass der Zugriff über Kant es erlaubt, Luther auf »Probleme moderner Individualität« zu beziehen (14). Das gewichtige methodische Problem, dass diesem Vorteil ein Nachteil in der präzisen Erfassung Luthers korrespondieren könnte, wird aber nicht thematisiert.
Der Kant-Teil, der in diesem Sinne der Hinführung auf Luther dient, bestimmt den Menschen als »Bürger zweier Welten – einer intelligiblen und einer natürlichen Welt« (103). Im Hinblick auf die Moral wird dies vor allem als Diskrepanz zwischen dem universalen guten Willen und dem individuellen, von materiellen Bedingungen mitgeformten Willen durchgespielt. Die moralische Differenzbestimmung des Menschen bewertet B. dabei als defizitär gegenüber einer an Paulus orientierten theologischen Anthropologie.
Das eigentliche Corpus der Arbeit bilden dann die Ausführungen zu Luthers Sündenverständnis. Diese gehen eigenartig wenig auf das mittlerweile von sehr unterschiedlichen Autoren historisch zu Luther Erarbeitete ein: B. dispensiert sich mit dem mehrfachen Verweis auf die Schwierigkeit, eine definitive Antwort auf die Frage von Art und Zeitpunkt der reformatorischen Wende zu finden (114 im Fließtext, 122 in der langen Anm. 59), davon, sich weiter mit dieser historischen Frage auseinanderzusetzen. Diese salvatorischen Klauseln verdecken aber letztlich eine methodische Unterkomplexität. Denn B. setzt faktisch sehr wohl eine Antwort auf die Frage nach dem Zeitpunkt der reformatorischen Wende voraus, wenn er zur Rekonstruktion reformatorischer Theologie maßgeblich auf die Römerbriefvorlesung zurückgreift. Ein klassischer Spätdatierer hätte ebendies nicht tun können. Und wenn man, wie es wohl angemessener ist, eine allmähliche Entwicklung Luthers über viele Jahre hinweg zugrunde legt, wird man sehr sorgfältig abzuwägen haben, wo die Römervorlesung zu stehen kommt.
Nicht nur solche methodischen Probleme machen skeptisch gegenüber der Arbeit und ihrem Ertrag. Vielfach begegnen Definitionen und Inhaltsbestimmungen, die bestenfalls Scheineindeutigkeiten schaffen. So wird Sünde als »Unglaube« und damit als »Selbsttätigkeit des Menschen« bestimmt (118) – ein Versuch, Luther nachzuvollziehen, hätte nach der Beteiligung des Teufels wenigstens zu fragen. Noch deutlicher lässt sich der problema-tische Umgang mit den Quellen bei der komplementären Bestimmung des Glaubens »einerseits als Unterbrechung oder Entsicherung und andererseits als Vertrauen oder Gewissheit (fiducia)« (157) zeigen. Die beiden letzteren Begriffe sind unschwer mit Luther zu belegen, für die ersteren aber zieht B. ausschließlich Jüngel heran. Da wäre dann doch zu begründen, warum, inwiefern und in Bezug auf welche Aussagen Luther selbst so angemessen erfasst ist.
Wie unsicher der Boden wird, auf dem sich eine so vorgehende Arbeit bewegt, wird am Umgang mit dem Begriff »Dialektik« augenfällig (226–228): Luthers Abgrenzung von der »logische(n) Dialektik des Aristoteles« (227), zu welcher man aus mediävistischer Sicht auch noch manches Differenzierende sagen könnte, wird mit Zitaten aus dem Anti-Latomus begründet, der von B. postulierte positive Dialektikbegriff hingegen mit Ebeling und Beutel. All dies sind honorige Autoritäten – Argumentation mit Luther selbst ersetzen wollen und können sie nicht.
Bei einem solchen Vorgehen verwundert es nicht, dass die Arbeit auch sprachlich nicht immer den Bezug auf Luther erkennen lässt – und dies nicht nur mit Gewinn an Klarheit: »Vielmehr sieht sich die Gewissheit nach Luther auf einem synthetisch vermittelten Grund aufliegen, der gleichsam im Rücken des Subjektes, noch vor jeder Syntheseleistung des Subjektes selbst vorausliegend und dem Subjekt zukommend gedacht wird.« (244) Die Spannung der räumlichen Metaphern (»aufliegen«, »im Rücken«, »vorausliegend«, »zukommend«), die Hypostasierung der Gewissheit, die »sich sieht«, die das logische Subjekt offenlassende Passivkonstruktion (»gedacht wird«), der reiche, aber im Zusammenhang nicht eben hilfreiche Gebrauch der Vorstellung von Synthese – man könnte mit der Analyse dieses Satzes, des ganzen folgenden Absatzes und einiger weiterer Passagen des Buches so weiter machen: Eine solche Sprache dient mehr der Verunklarung als der Erklärung und Verständlichmachung Luthers.
Der dritte Abschnitt der Arbeit wendet sich Charles Taylor zu, der ja seit einiger Zeit in verschiedenen Bereichen der Theologie gern rezipiert wird. B. geht es hier wesentlich um die »Konstitution des Selbst in einer (Selbst-)Interpretationsbewegung« (337). Bei der Interpretation eines Zeitgenossen verliert die Notwendigkeit, historische Distanz zu überwinden, an Bedeutung – und so gewinnt B.s Interpretation deutlich an Stärke. Das Taylor-Kapitel ist deutlich das ansprechendste in dem ganzen Buch. Mit Hartmut Rosas Untersuchungen stand B. auch eine hervorragende Interpretationshilfe zur Verfügung, die er kritisch und eigenständig nutzt.
Abschließend entfaltet B. in seiner großformatigen Studie noch einmal Vorstellungen von Differenz anhand der präsentierten Modelle und stellt sie in unterschiedliche denkerische Kontexte. Bei den hier vorgetragenen systematisch-theologischen Antwortmöglichkeiten drängt sich freilich die Frage auf, ob diese ohne die vorherigen Ausführungen zu Kant, Luther und Taylor, also das Corpus der Arbeit, wesentlich anders aussähen. Wesentliche Referenzen sind hier Schleiermacher und Korsch. Das sind nicht die schlechtesten Autoritäten – in einer Arbeit, die Luther im Untertitel führt, hätte man sich aber anderes vorstellen können.
Wenn der Kirchenhistoriker dieses Buch daher etwas ratlos beiseitelegt, ist dies allerdings wohl nicht ausschließlich B. anzulas­ten. Es ist auch Ausdruck einer unterentwickelten Gesprächs-lage zwischen systematischer und kirchenhistorischer Lutherforschung. Genauer muss man wohl sagen: Es ist Ausdruck einer Rückentwicklung ebendieser Gesprächslage. Denkt man nur an die Promissio-Studie von Oswald Bayer, so wird unmittelbar deutlich, wie intensiv sich Systematische Theologie einmal auch auf historische Fragen einlassen konnte, ohne die eigene Perspektive aufzugeben. Die Anfrage richtet sich selbstverständlich auch an das Fach Kirchengeschichte: Wenn respektable Fachvertreter die Erinnerung daran, dass Reformation im Kern mit religiösen Anliegen verbunden war, unter Ideologieverdacht stellen, ist auch dies eine erhebliche Belastung für den innertheologischen Gesprächszusammenhang. Ihn wiederzugewinnen wird in den kommenden Jahren eine Aufgabe nicht nur, aber auch der Lutherforschung sein. Die Auseinandersetzung um B.s Buch kann, auch und gerade wenn sie kritisch erfolgt, hierzu einen Beitrag leisten.