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Ausgabe:

März/2015

Spalte:

255–257

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Krichbaum, Andreas

Titel/Untertitel:

Kierkegaard und Schleiermacher. Eine historisch-systematische Studie zum Religionsbegriff

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2008. XVIII, 418 S. = Kierkegaard Studies. Monograph Series, 18. Lw. EUR 139,95. ISBN 978-3-11-020104-8.

Rezensent:

Christine Axt-Piscalar

Die vom Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt als Dissertation angenommene, bei Hermann Deuser geschriebene Arbeit von Andreas Krichbaum geht in einem ersten Teil (Kapitel 1–4) der Genese von Kierkegaards Religionstheorie nach, wie sie sich in den Jahren 1833–1846 in der Auseinandersetzung mit Schleiermacher formiert hat, und zieht dafür Kierkegaards Notizen in den Journalen und Aufzeichnungen sowie den Papirer heran.
Dieser Teil der Arbeit ist insofern besonders interessant, als das Material (auf der Grundlage von Band 1 der Deutschen Søren Kierkegaard Ausgabe) detailliert gesichtet wird und nicht nur Kierkegaards direkte Bezugnahmen auf Schleiermacher, sondern vor allem seine über Dritte vermittelte Rezeption von Schleiermachers Theologie dargelegt werden, so dass neben H. N. Clausen, J. P. Mynster, F. C. Sibbern und H. L. Martensen auch I. H. Fichte, J. E. Erdmann, C. Daub und A. Trendelenburg zu Wort kommen. Dadurch erhält der Leser einen lebhaften Einblick in die zeitgenössische dänische und ebenso die deutsche nachhegelsche Debatte um Schleiermachers Theologie. In ihr werden zentrale Einwände verhandelt, die grundlegend bleiben für Kierkegaards eigene Kritik an Schleiermacher (vgl. 100) – und auch die gegenwärtige Rezeption von Schleiermachers Theologie durchaus noch bestimmen. So wird das Verhältnis zwischen allgemeinem Religionsbegriff und christlichem Erlösungsbewusstsein hinterfragt sowie dasjenige von Theologie und Philosophie problematisiert. Gefühl, Selbstbewusstsein, Unmittelbarkeit als Grundbestimmungen von Religion werden kritisch erörtert und die Frage nach der Bedeutung des Gehalts für das religiöse Grundgefühl aufgeworfen. Das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl stehe, so wird betont, in der Gefahr, das endliche Freiheitsbewusstsein völlig aufzuheben, was sich in Schleiermachers Bestim mung der göttlichen Allmacht und seiner Prädestinationslehre niederschlage. Als eine Folge davon komme die teleologische Bestimmung der christlichen Religion, die Bedeutung der Geschichte für den Glauben und der Aspekt des Werdens in der Zeit zu kurz. Dass Schleiermacher das göttliche Wirken als sich in der Wechselwirkung des Weltzusammenhangs vollziehend begreife, verdeutliche nicht nur die Unterscheidung zwischen Gott und Welt unzureichend – was sich in Schleiermachers Reserve gegenüber dem personalen Gottesverständnis und dem Schöpfungsgedanken niederschlage –, sondern unterlaufe auch die individuelle Besonderheit des Einzelnen.
Kurzum: Es ist der – durchaus differenziert – erhobene Pantheismusverdacht, der die Debatte bestimmt; und wenn Kierkegaard in seinen Notizen im Blick auf Schleiermacher von einem »orientalischen Dahinträumen« (zitiert 101 f.), das nichts von der unbedingten Rechenschaftspflicht des Glaubens Gott gegenüber wisse, spricht und das »Romantische« an Schleiermachers Denken herausstellt, dann ist damit vorgeprägt, was Kierkegaard späterhin – durchaus auf Schleiermacher gemünzt – die »ästhetische« Religionsform nennt und von der existenzialdialektischen Bestimmung des christlichen Glaubens, in dem der Einzelne unvertretbar als der Einzelne vor Gott steht, scharf unterscheidet.
Dieser Vorbehalt Kierkegaards hält sich auch dann durch, wenn er Schleiermachers Ansatz, die Dogmatik im Ausgang vom christlich-frommen Selbstbewusstsein zu entfalten, im Gegenüber zur Orthodoxie und der spekulativen Theologie prinzipiell würdigt. Wohl ein besonderes Anliegen C. Daubs und I. H. Fichtes aufnehmend formuliert Kierkegaard im Zuge der kritischen Rezeption Schleiermachers einen Spitzensatz seines eigenen Gottesverständnisses: »Gott ist die Wirklichkeit des Möglichen« (zitiert 82). Der Vf. sucht Schleiermacher gegen die besagten Vorwürfe zu verteidigen (besonders 223–231) und beschreibt sein Verhältnis zu Schleierma chers Religionstheorie als kritisch-konstruktive An­knüpfung an die Gefühls- und Selbstbewusstseinsthematik, die Kierkegaard »zu­spitze« zu einer existenzdialektischen Bestimmung des Glaubens.
Unter der Bestimmung von Anknüpfung und Zuspitzung bzw. kritischer Überbietung werden dann im zweiten Teil (Kapitel 5–8) die Erkenntnistheorie, Ontologie, Religionsphilosophie, Anthropologie und Theologie beider Denker auf der Grundlage ihrer Hauptwerke nach systematischen Gesichtspunkten mit religionsphilosophisch geschultem Urteilsvermögen zueinander ins Verhältnis gesetzt. Dem Vf. ist dabei daran gelegen, die »große Nähe beider Denker hinsichtlich ihrer wissenschaftstheoretischen Basisannahmen« (387) darzulegen und eine »problemgeschichtliche Kontinuität« (ebd.) deutlich werden zu lassen, um auf dieser Grundlage das Spezifische von Kierkegaards kritischer Überbietung von Schleiermacher zu erhellen, die der Vf. als »Übergang von einem kulturtheoretisch-transzendentalen zu einem existenzdialektisch-pragmatischen Modell von Religionsphilosophie« (392) charakterisiert. Die Aspekte der Zeitlichkeit, der Freiheit, die »teleologische Suspension des Ethischen«, nicht zuletzt die Radikalität der Schulderfahrung des Einzelnen sind für Kierkegaard zentral und markieren, wie der Vf. darlegt – und gelegentlich noch dezidierter hätte betonen können –, einen grundlegenden Unterschied zum Gesamtgepräge von Schleiermachers Religionstheorie.
Der Band bietet insgesamt eine durchaus perspektivenreiche Auseinandersetzung um die spezifische Bestimmtheit von Kierkegaards und Schleiermachers Religionsbegriff sowie deren Bedeutung für die Grundlegungsfragen einer Religionstheorie.