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Ausgabe:

März/2015

Spalte:

252–253

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Bourgeois, Henri

Titel/Untertitel:

La théologie française au seuil du XXIème siècle. Situations et enjeux. Préface de J.-F. Chiron.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2013. 184 S. = Théologie Pratique – Pédagogie – Spiritualité, 4. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-643-90404-1.

Rezensent:

Fritz Lienhard

Das Buch erschien zwölf Jahre nach dem Tod von Henri Bourgeois. Dabei behalten viele seiner Aussagen ihre Relevanz in unserer Zeit. Die Fragestellungen haben sich nicht grundsätzlich verändert. Ausgangspunkt des Vf.s ist die Analyse der Situation der Theologie im französischen Kontext (erster Teil: Situation der Theologie in Frankreich), dann stellt er konkret die Untersuchungen und die Theologen dar und weist dabei auf die Bemühungen, die Theologie zu modernisieren, die Verknüpfungen mit den verschiedenen Gebieten des Denkens, aber auch auf einige Grenzen hin (zweiter Teil: Die französische Theologie in der Praxis). Er lässt sich dann auf die schwierigen Fragen ein, die sich den christlichen Theologen stellen. Dabei wird die Analyse auf die verschiedenen christlichen Kirchen in Frankreich erweitert (dritter Teil: Analyse der theologischen Denkweisen in Frankreich).
Das Buch bietet eine Reihe interessanter Einzelbeobachtungen und Reflexionen. Der Vf. unterscheidet zwischen offizieller Theologie; Anpassungstheologie, die eine Art Kommentar ist; Erörterungstheologie, die manchmal kritisch ist und anderen Deutungen den Raum gibt; und einer Theologie, die er Umstandstheologie oder Gelegenheitstheologie nennt. Diese letztere Gestalt ist für ihn eine Art Nährboden für die akademische Theologie. Diese Form von Theologie wird in Gruppen und Netzen bearbeitet, und sie weiß um ihren provisorischen Charakter. Sie ist jedoch das Zeichen einer intellektuellen Gesundheit des Glaubens. Für den Vf. ist es zentral, auch diese Theologie als solche zu bezeichnen. Kriterien für die Identität der Theologie sind folgende: persönlicher Zugang des Theologen zu seiner Sache; kritische Solidarität mit den Gemeinschaften und Gruppen der Kirche; intellektueller Anspruch in der Analyse, der Argumentation, der Kohärenz und der Formulierung. Wo diese Kennzeichen vorhanden sind, handelt es sich um Theologie.
Das genuin Praktisch-Theologische seiner Aussagen liegt in der Verknüpfung zwischen den theologischen Aussagen und dem Alltag der Kirchen und des christlichen Lebens. Es geht um den »Mut des glaubenden Denkens«. Ein wichtiges Anliegen des Vf.s ist dabei, die Gesellschaft und die Kultur, genauso wie die Glaubenden in ihrer Besonderheit und die Lage der Kirche, in das theologische Denken zu integrieren. Im katholischen Frankreich wird die Praktische Theologie wenig geschätzt, insofern in der französischen Kultur eine Vorliebe für die Theorie herrscht. So fehlen immer wieder die empirischen Grundlagen zum theologischen Denken. So gibt es ein eher deduktives Modell der Theologie, oder man spricht an der konkreten Wirklichkeit vorbei, insofern man davon ausgeht, dass diese Überlegung in die Praxis gehört und nicht in die Theologie selbst. Dabei ist die zu strenge Unterscheidung zwischen den Denkern und den Verantwortlichen in der Kirche ruinös für die eine wie für die andere. Mehrfach verweist der Vf. auf die Schwierigkeiten der Ekklesiologie. Die Überlegungen zur Kirche in der Folge vom 2. Vatikanischen Konzil fehlen nicht, aber sie bleiben theoretisch und führen nicht dazu, konkret die Gestalten der Kirche heute und morgen zu denken, um sie zu verändern. Die Frage stellt sich, wie die Ekklesiologie mit der kirchlichen Wirklichkeit zu verknüpfen ist. Das Erlebnis der Kirche entspricht der Theorie nicht. Eine praktisch-theologische Ekklesiologie bleibt also heute ein Desiderat. Für den Vf. hat der französische Katholizismus zu viel Theologie der Kirche und zu wenig entsprechende kirchliche Erfahrung.
In seiner Beschreibung des Protestantismus sieht der Vf. drei Strömungen: der reformierte Protestantismus, welcher von der Aufklärung geprägt ist; das Luthertum, das auf die deutschsprachige Welt verweist; sowie eine amerikanische Strömung mit den Evangelikalen. Zur evangelischen Tradition gehört ein Schwerpunkt auf der Theologie. In den Synoden zum Beispiel wird sehr viel Theologie getrieben. Zudem gehören die Lutheraner und die Reformierten oft zu den Intellektuellen der Gesellschaft. Diese theologische Tradition wird aktuell durch die evangelikalen Protestanten in Frage gestellt. An einigen Details zeigt sich jedoch, dass der Vf. die evangelische Theologie nicht bis in die Fingerspitzen kennt: Er spricht von H. Bosc statt H. Bost, M. Bouttier wird als Systematiker eingeordnet, dabei ist er Exeget. Zudem zeigt sich in diesen Ausführungen am meisten, dass die Schrift schon etwas älter ist. Ein ganzer Generationenwechsel im französischen Protestantismus konnte von dem Vf. nicht mehr wahrgenommen werden.
Es handelt sich um ein Essay, nicht um einen Traktat. Eine sehr genaue Analyse lässt sich in diesem Buch nicht finden. Aber gerade die Einzelanalysen und Beobachtungen sind sehr relevant, so dass sich das Buch allen empfiehlt, die sich für Theologie in Europa interessieren.