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Ausgabe:

März/2015

Spalte:

248–251

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Barth, Ulrich, Danz, Christian, Graf, Friedrich Wilhelm, u. Wilhelm Gräb[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Aufgeklärte Religion und ihre Probleme. Schleiermacher – Troeltsch – Tillich

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2013. XXXVI, 725 S. = Theologische Bibliothek Töpelmann, 165. Geb. EUR 129,95. ISBN 978-3-11-031142-6.

Rezensent:

Hartmut von Sass

Schleiermacher – Troeltsch – Tillich: drei »Helden« liberaler Theologie? Das scheint selbst unter den Herausgebern des hier zu besprechenden Bandes umstritten zu sein, und zwar in zweifacher Hinsicht: Ist es überhaupt angebracht, von Heroen zu reden, wenn man seine theologische Wertschätzung ausdrücken möchte? Und selbst wenn dies unproblematisch wäre, bleibt die Frage, ob jenes Dreigestirn umweglos zur liberalen Theologie zu zählen ist. Friedrich Wilhelm Graf jedenfalls weist es als »gedankenlos« ab, beides ernsthaft zu bejahen. Eine Heldenverehrung sei theologisch ge­nauso unangebracht, wie die zum Teil weitreichenden Differen-zen zu übergehen, die Schleiermacher, Troeltsch und Tillich bei allen tatsächlich vorhandenen Kontinuitäten voneinander trennen (XXVIII; siehe aber 132). Damit scheint er bereits kritisch auf seinen Herausgeberkollegen Wilhelm Gräb zu reagieren, der – vielleicht eher in theologischer Begeisterung, weniger in dogmatischem Ernst – von »unsere[n] drei Helden liberaler Theologie« spricht, »die wir in diesen Tagen hoch leben lassen« (XXXV).
Dieser Dissens findet sich in den Grußworten zu jenem Kongress, der im März 2012 in Berlin stattgefunden hat und auf dem der voluminöse Band beruht. Die drei großen Gesellschaften als institutionelle Sachverwalter des Werkes jener Autoren haben sich folglich zusammengetan, um eine im doppelten Sinn gewichtige Publikation vorzulegen. Obwohl eingangs von den Editoren angedeutet wird, dass die drei »Helden« über die vielfältigen Abhängigkeitsverhältnisse hinaus in theologische Sachfragen, aber auch in gegenwartsdiagnostische Diskurse einzubringen seien, bleibt doch eine wirklich greifbare Fragestellung des Bandes aus: Aufgeklärte Religion und ihre Probleme. Was fiele eigentlich nicht darunter? Haben alle drei »Helden« eine im Gegensatz zu anderen Autoren spezifische Affinität zu jenem Thema? Und wie verhält sich die aufgeklärte Religion zur »liberalen Theologie«, wie wir sie bei Schleiermacher, Troeltsch und Tillich finden könnten?
Doch so berechtigt diese Anfragen auch sein mögen, sie übergehen den schlicht notwendigen Pragmatismus in der Themenstellung, der eine theologische bzw. religionstheoretische Konstellation aufzufinden hatte, mit der sich alle drei Gesellschaften haben verbinden können.
Immerhin sind hier 32 Aufsätze versammelt, die in der Mehrzahl von etablierten Theologinnen und Theologen aus dem deutschsprachigen Bereich stammen, nicht ohne einige Nachwuchskräfte bzw. Vertreter benachbarter Fächer zu Wort kommen zu lassen. Die Beiträge sind wiederum neun Abschnitten zugeordnet, die entweder bestimmte loci aus der Sicht von Schleiermacher, Troeltsch und Tillich adressieren (Themen wie der Begriff der Religion, die Aufklärung der Dogmatik und des Protestantismus, die Entmythologisierung und Dogmenkritik; Kapitel I–III und VII–IX) oder aber rezeptionshermeneutisch angelegt sind (Tillich liest Schleiermacher und Troeltsch und dieser wiederum Schleiermacher; Kapitel IV–VI). Aufgrund der Vielstimmigkeit und des Themenreichtums werde ich versuchen, einen Eindruck des Bandes dadurch zu vermitteln, dass sieben repräsentative Kernprobleme kritisch besprochen werden.
1) Aufklärung und Religion: Obgleich diese Begriffe den gesamten Band betiteln, widmen sich nur wenige Autoren eingehender deren (nochmaliger) Klärung. Ulrich Barth geht komparativ-entwicklungsgeschichtlich vor und vergleicht die Prozesse der Aufklärung(en) in England, Frankreich und im deutschsprachigen Raum (91–112). Martin Riesebrodt unterstreicht, dass eine Aufklärung, die sich als Zustand, nicht als unabgeschlossener Prozess verstünde, ein Selbstwiderspruch sei (5). Daher lädt er dazu ein, »Aufklärung« nicht primär als Inbegriff material gefüllter Auffassungen, sondern als ein »Ethos« zu begreifen (12). Dann aber fungiert »Aufklärung« nicht mehr als eine historiographische Kategorie, wie Lori Pearson indirekt ergänzt, sondern als ein mit Werten aufgeladener Begriff, der das Verhältnis insbesondere des Protestantismus zur modernen Welt terminologisch einfange (450–455). Erst mit der Heraufkunft dieses aufgeklärten Ethos (und nicht schon seit der Reformation) nehme die Moderne an Fahrt auf, so Pearson weiter (449). Interessanterweise vertreten die meisten Autoren dennoch keinen funktionalen Begriff der Religion, sondern einen, der material gefüllt ist. Riesebrodt etwa koppelt die religio an den Glauben an eine wie auch immer geartete divine Intervention (14 f.). Wilhelm Gräb wiederum erkennt in der aufgeklärten Religion eine entkonfessionalisierte Religion der Individualität, die vom religiös-autonomen Bewusstsein ausgehe (137). Auch hier muss Karl Barths kirchlich-dogmatisches »Sondervokabular« der Selbstimmunisierung als Gegenposition herhalten (144.149). Es ist schade, dass diese abgeschliffenen Schematismen einfach wiederholt werden, statt umgekehrt Autoren wie Barth mit jenen »Heroen« ins Gespräch zu bringen. Tillich etwa steht in seiner Reserve gegenüber der »Reli-gion« dem Barth der KD (besonders § 17) viel näher als Schleiermachers Auffassung.
2) Aufklärungsresistenz: Unter diesem Stichwort sei ein ganz spezifisches Problem angesprochen, mit dem jede aufgeklärte Religion zu kämpfen hat. In der Maßgabe, dass die Religion stets aufklärungsbedürftig sei, steckt bereits die These, dass sie niemals vollends aufgeklärt ist. Wenn Riesebrodt nach Elementen der Aufklärungsresistenz innerhalb der Religion fragt, meint er jedoch mehr als ein semper reformanda. Hier kommt noch einmal der materiale Begriff der Religion zum Tragen, der dazu führt, einen Rest, der jenseits der Aufklärung liege, anzunehmen (13, 22). Doch Riesebrodt geht noch weiter in der Behauptung, die Religion müsse sich zu einem gewissen Grad als ihrer eigenen Aufklärung unzugänglich erweisen (24). Eine deskriptive Feststellung scheint hier in ein präskriptives Votum überzugehen. Es ist schön und sachgemäß, dass es in diesem Band auch Stimmen gibt, die gleichsam dekonstruktivistisch die Unmöglichkeit finaler Aufklärung als Bedingung ihrer Möglichkeit ausweisen.
3) Kritik der Aufklärung als aufgeklärte Theologie: Genau dieser selbstbezügliche Gestus im Modus von Affirmation trotz Selbstkritik wird von weiteren Beiträgen vertieft. Dietrich Korsch verhandelt unter dem doppeldeutigen Titel einer »Theologie der Gegenwart« einerseits die theologische Analyse gegenwärtiger Theologie und andererseits eine lediglich gegenwartsbezogene Theologie als eines ihrer kritischen Gegenstände, jenem nämlich, der den Bezug zur Vergangenheit eingebüßt habe (39). – Jörg Dierken und Georg Neugebauer machen deutlich, dass insbesondere Tillich Motive der »Dialektik der Aufklärung« vorweggenommen habe (168 bzw. 478. 490). Während sich Dierken – dabei nur indirekt auf Adorno eingehend – auf die logische Struktur der Negativität im Selbstbewusstsein konzentriert, zeichnet Neugebauer die »Arbeitsgemeinschaft« mit Max Horkheimer kenntnisreich nach (491–508). – Hingegen kann die Kritik der Aufklärung auch die Theologien treffen, die sich als bereits aufgeklärt präsentieren. So gehen Friedemann Voigt und Christopher Zarnow hart, aber begründet mit Tillich ins Gericht, weil dieser mit der Annahme einer immer schon vorhandenen Substanz der Kultur bzw. dem zeitlos gedachten »protestantischen Prinzip« »erneut in den semantischen Dunstkreis der dogmatischen Methode und des Antihistorismus« geraten sei (so Voigt, 255; vgl. Zarnow, 335 f.). Beide deuten an, dass der Kulturtheologe Tillich an diesem Punkt keiner gewesen sei und sich Korrekturen einer relecture von Schleiermacher und Troeltsch verdanken könnten (228 bzw. 340).
4) Impulse aufgeklärter Theologie: Wie diese relecture aussehen mag, verdeutlicht wiederum Wilhelm Gräb, der dafür plädiert, eine entdogmatisierte Theologie zur Religionshermeneutik fortzuschreiben, welche die zeitgemäße Version einer liberalen Theologie sei (138 f.). Sie setze nicht nur auf die religiöse Ansprechbarkeit des Menschen, sondern auch auf dessen »Sinndeutungsproduktivität« (150); sie reflektiere und interpretiere die Glaubenssprachen und münde so in eine selbstkritische Glaubenseinsicht (153). – In eine andere Richtung führt Christian Danz, der nach einer »aufgeklärten Christologie« fragt. Seine Antwort: Die Christologie sei »als eine theologische Theorie der Religion« auszuführen (177). Tillich erweise sich für dieses Unternehmen als überaus hilfreich, da sich bei ihm der christologische Umschlag von einem isolierten Lehrstück in eine theoretische Reflexion des Glaubens als Glaubensakt vollzogen habe (186), so dass die Frage nach dem historischen Jesus in den Hintergrund tritt (dazu auch die Beiträge von Dorothee Schlenke und Alf Christophersen) und die Christologie zur »Be­schreibung und Darstellung des religiösen Aktes« (178) transformiert werde. – Daran knüpfen indirekt Notger Slenczkas Erwä-gungen zur Trinitätslehre besonders bei Schleiermacher an. Die Behauptung, die Trinitätslehre bilde in der Glaubenslehre keine Marginalie, sondern deren »Schlußstein« (674 mit Bezug auf GL § 186), ist so spannend wie genauerer Begründung bedürftig. Ge­nauso sieht es meiner Ansicht nach mit der These aus, die Trinitätslehre dürfe (gegen Rahner und Jüngel) nicht ökonomisch reduziert werden (682–684), zumal für das religiöse Selbstbewusstsein die Rede von der Aseität Gottes unverzichtbar sei (684).
5) Justierungen der Subjektivitätstheorie: Diesen klassischen Rahmen verlassen Jörg Dierken und Michael Moxter, wenn sie Momenten des Negativen bzw. des Fragil-Ambivalenten im religiösen Bewusstsein nachgehen. Dierken lokalisiert die Negativität als Antagonist im Selbstverhältnis dogmatisch in der Harmatiologie (156). Sie sei ein Grundelement endlicher Geschöpflichkeit, könne als solche vor moralistischen Verkürzungen schützen und gebe Anlass zu einem realistisch gebrochenen Optimismus (173). Schade nur, dass Dierken das, was er christologisch andeutet (163), nicht konkretisiert – nämlich die Frage, wie es um die »Negativität im Selbstverhältnis« bei Jesus Christus stehe. In Moxters Beitrag geht es hingegen weniger um Formen des Negativen als vielmehr um eine erschütternde Erfahrung, die sich wiederum einer Ent-Täuschung am Gebrochenen verdanke; sie »führt näher an die Realität des Unbedingten heran als die ungebrochene und darum unkritische Bindung an das Gegebene« (302). Dabei kommt ein Moment der Überbietung hinzu, sofern gelte, dass Gott immer noch unbedingter gedacht werden müsse, als er als »uns unbedingt angehend« schon gedacht werde (298; hier klingt Anselm, Proslogion, Kapitel 15, an).
6) Religionsdiagnostik: Ein Band zur aufgeklärten Religion kommt nicht ohne Bestandsaufnahmen gegenwärtiger religiöser Orientierungen aus, und diese wiederum nicht ohne konkrete Beispiele. So untersucht die Kulturwissenschaftlerin Monika Wohlrab-Sahr die »forcierte Säkularität« (47) im Osten Deutschlands, um sie als konflikthafte Zuspitzung der generellen Spannung zwischen Wissenschaft und Religion zu charakterisieren (48.64). Darin könnte man eine Reduktion der Ursachenforschung erkennen, wenn nicht auch andere Hintergründe erzwungener Kirchenferne be­leuchtet würden, die – wie schon Lucian Hölscher betont hat – zum Teil tief in die Nazi-Zeit hineinreichen (50). Friedrich Wilhelm Graf hingegen bleibt seinem Programm der Theologie als normativer Religionsdiagnostik treu, wenn er sich der kritischen Analyse kreationistischer Strömungen widmet. Sein bestens geschriebener Essay mündet in die Forderung, »Schöpfungsreflexion von jeder kosmologischen Spekulation zu entkoppeln« (133).
7) Rezeptionslinien: Zahlreiche Beiträge sind detaillierten Fragen der Entwicklung und der Rezeption gewidmet, d. h. sowohl Problemen der Werkgeschichte als auch der Verarbeitung des Schleiermacherschen Erbes in den Lektüren von Troeltsch und Tillich. Ein aufschlussreiches Beispiel für jenen ersten Typus ist der Artikel von Andreas Arndt. Darin zeichnet er nach, wie sich der Kirchenvater des 19. Jh.s auf Kants Theologiekritik einstellt, nämlich äußerst kritisch, insbesondere was die Postulatenlehre angehe, da sie die Religion vornehmlich funktionalisiere. Von hier aus werde erst verständlich, warum Schleiermacher, der um 1789 selbst zu den Verächtern der Religion gehört habe, zehn Jahre später so engagiert für die eigene »Provinz« des religiösen Gefühls eintrete (648; siehe auch die Beiträge von Jörg Lauster zu Troeltsch und Martin Ohst zu Semler und Schleiermacher). Ein Beispiel für den zweiten, auf Rezeptionsprobleme fokussierten Typus stellt wiederum Moxters Aufsatz dar. Er macht deutlich, dass Schleiermacher für Tillich erst relevant geworden sei, als dieser bereits zu einer gefestigten Position gefunden habe (293). Von dieser aus habe Tillich Schleiermacher und Barth kritisiert, weil beide in einem je unterschiedlich strukturierten »erschütterungsfreie[n] Raum« (297) das ganz Andere nicht mehr haben denken können. Letztlich zeige Tillich grö-ßere Affinitäten zum offenbarungstheologischen Ansatz, um eine Gotteslehre abzuweisen, die sich allein auf die Analyse des frommen Selbstbewusstseins beschränke und daher den normativen Charakter der Dogmatik verfehle (295 f.).
Der Band ist im Ganzen betrachtet sehr lesenswert, obgleich einiges im Altbekannten versandet und bereits an anderem Ort zu lesen war. Dennoch handelt es sich ganz und gar nicht um eine »heilige Leere« (wie sich Tillich in einem anderen Kontext ausdrückt, dazu 361) – und so seien drei wesentliche Momente potentieller Konkretisierungen eigens hervorgehoben: Erstens sind vor allem diejenigen Passagen des Bandes aufschlussreich, die gleichsam dekonstruktivistisch den Brüchen innerhalb und zwischen den Werken der drei Heroen nachgehen, um somit vor jeder vor-eiligen Harmonisierung und erneut selbstimmunisierenden Schul­bildung den Raum für ein Gespräch mit gegenläufigen Stimmen zeitgenössischer Theologie zu öffnen. Zweitens wird der Band teils explizit, teils latent von der Frage durchzogen, wie eine liberale Theologie samt ihrer Tendenz zur Entdogmatisierung zugunsten eines rein deskriptiv-hermeneutischen Zuschnitts ihren normativ-kritischen Anspruch als Gotteslehre beibehalten könnte. Und drittens mögen jene weiterführenden Ansätze ausgebaut werden, die das prekäre Dual von aufgeklärter Religions- und Theologiekritik sowie einer normativ orientierten Gotteslehre an klassisch dogmatischen Lehrstücken erproben, so dass Christologie und Trinitätslehre nicht angeblich liberal eliminiert, sondern wahrhaft hermeneutisch interpretiert werden.
In Umfang, Casting und Themenstellung verrät der Band zweifelsohne einen Anspruch, den ernst zu nehmen bedeuten könnte, in ihm nicht nur ein Gespräch mit Schleiermacher, Troeltsch und Tillich zu sehen, sondern auch den Versuch einer Selbstverständigung der deutschsprachigen Theologie insgesamt. Vielleicht ist es dann doch ganz angebracht, von den »Helden der liberalen Theologie« zu sprechen, enthält diese Note doch das so sympathische wie entlastende Eingeständnis, selbst kein heros zu sein.