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Ausgabe:

März/2015

Spalte:

234–236

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Fuhrmann, Sebastian, u. Regina Grundmann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Martyriumsvorstellungen in Antike und Mittelalter. Leben oder sterben für Gott?

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2012. VI, 324 S. = Ancient Judaism and Early Christianity, 80. Geb. EUR 125,00. ISBN 978-90-04-22630-2.

Rezensent:

Ekkehard Mühlenberg

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Hartmann, Nicole: Martyrium. Variationen und Potenziale eines Diskurses im Zweiten Jahrhundert. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2013. XI, 216 S. = Early Christianity in the Context of An-tiquity, 14. Geb. EUR 52,95. ISBN 978-3-631-62180-6.


Die Studie von Nicole Hartmann ordnet sich in die Frage nach der ECCLESIA CATHOLICA, wie es Hans Lietzmann formulierte, ein. Als Studenten lernten wir noch mit Adolf von Harnack, dass die Institutionalisierung mit den drei B (Bibel, Bekenntnis, Bischof) die Vielfalt des 2. Jh.s beendete. Danach wurden die ersten beiden B (Kanonfrage, Apostolisches Bekenntnis) historisch zerbröselt. Man konnte eine Kapitelüberschrift wie »Der Durchsetzungskampf der Großkirche« hören, oder man begnügte sich mit »Mehrheitskirche«. Nach der Erfindung des Diskurses begann die Suche nach Identitätsbildung und -konstruktion. Hierzu bietet H. eine neue Anregung. Sie stellt dar, wie die Fremdbezeichnung »Christianoi« über Martyriumsliteratur zur identitätsstiftenden Selbstbezeichnung geworden sei. Ihre neuen Instrumentarien sind der Begriff der Kontingenzbewältigung und die Konzeption von Kommunikationsstrategien. Sie werden zur Analyse von drei Martyriumstexten (Ignatiusbriefe, Polykarpmartyrium, Brief über Christenverfolgung in Vienne/Lyon) eingesetzt; wegen des bestimmbaren Kommunikationsraumes sei ein Martyriumsdiskurs gegeben.
Die befolgte religionswissenschaftliche Methode ist deutlich beschrieben (13–16). H. will in ihrer Analyse von drei Martyriums­texten »einen Beitrag zum Verständnis christlicher (Selbst-)Konzeptualisierung« leisten (13). Und sie formuliert eine Gemeinsamkeit ihrer Texte: Sie bestehe »unter anderem in der Begründung, weshalb die Protagonisten den Tod in Kauf nehmen: zum einen geht es um die vorgestellte Notwendigkeit des Sterbens, mit der die Wahrheit der geglaubten Auferstehung Jesus’ von den Toten bezeugt werden soll und zum anderen um die Zukunftserwartung, selbst nach diesem hingenommenen gewaltsamen Tod unmittelbar unsterblich zu sein« (2).
Da der Begriff der Kontingenzbewältigung der Zugang ist, muss auf historische Weise die Kontingenz festgestellt werden, zuerst allgemein innerchristlich und gesamtgesellschaftlich (Diversität der »Jesus-Anhänger«, römische Machthaber, Hinrichtungen als Schauspielinszenierungen) im Referat der jüngeren Literatur (2–10), dann für jeden der Texte, auch im Einklang mit der Mehrheit der Forschungsliteratur (die Ignatiusbriefe sind also echt). Die Kontingenz ist in jedem der drei Fälle, dass ein Mensch zu einem schändlichen Tod verurteilt und hingerichtet wird, weil er zugegeben hat, »Christianos« zu sein – und die Textschreiber deuteten das Ereignis in eine triumphale Wahrheitsbezeugung um. Dadurch handelt sich H. ein Problem ein. Sie will zwei Wirklichkeiten unterscheiden, nämlich die sozusagen erfahrene Außenwirklichkeit der Kontingenz auf der einen Seite, welche historisch rekonstruiert wird, und deren Bewältigung durch Umdeutung auf der anderen Seite, deren Wirklichkeit nur der mit Text beschriebene Papyrus ist. Krass erscheint die doppelte Wirklichkeit bei der Behandlung der Ignatiusbriefe; denn für sie wird zwischen dem Brief-Ich »Ignatius« und der realen Person, deren »persönlicher Erfahrungshorizont von unmittelbarer Todesnähe überhaupt erst Anlass und Inhalt der Texte« vorgab, unterschieden (35). Infolgedessen vermischen sich auf der Textebene zwei Dimensionen, nämlich die der Umdeutungen mit deren Anlässen wie Traumatisierung und Ängsten. Da H. aber das Text-Ich in einen modernen Hagiographen transformiert hat, kann sie die zwei Dimensionen als Interpretationsschere benutzen. Sie meint beschreiben zu können, wie das Text-Ich seine eigene Identität konstruiert – in Umdeutungen und durch Kommunikationsstrategien. Dieser Interpretationszugang scheint dadurch zu gelingen, dass der Kontingenzbewältigung eine kognitive Dimension zugewiesen wird und deren Übernahme ins existentielle Leben als psychologische Dimension (Traumatisierung, Ängste) gewertet ist. Zu diesem Zweck ist die Kontingenzbewältigung in modernes Be­wusstsein hineinprojiziert: »Er selbst leidet und will mit seinem eigenen gewaltsamen Sterben das leibliche Sterben des Christus bezeugen. Hierin zeigt sich der Kern seiner Kontingenzbewältigung, welchen Sinn er in seinem Tod sieht: ein Mensch ist zum Ertragen eines solchen Leidens fähig, wenn er im Glauben an die Kreuzigung und Auferstehung Jesus von Nazareths seine eigene Auferstehung nach dem Tod erwartet« (67). Entsprechend soll die Verurteilung zur Tierhetze eine »Probe seines Glaubens« (61) sein und von seiner »Standhaftigkeit« (62.70) abhängen. Ein direkter Textbeleg wird für diese (Um-)Deutung nicht präsentiert. Mittels Umdeutung erreicht H. auch, dass der Text-Ignatius seinen Tod mit der »Notwendigkeit« eines Beweises für »die Wahrhaftigkeit seiner Lehre« auflädt (69 f.). Aber wie H. es selber sieht, zeigt sich bei dem Brief-Ignatius nirgends eine Alternative zu seinem Tod. Folgerichtig wird Kontingenzbewältigung zur freiwilligen Entscheidung für den unausweichlichen Tod, um »Herr seines Todes zu sein« (80). Das ist mir eine zu moderne und nicht-antike Psyche, wie in dem Verweis auf Nietzsche (80) auch zugegeben wird. Es bleibt also die Frage, was der Mitteilungswille dieser Texte ist.
Einfacher macht es sich H. beim Polykarpmartyrium, auch wenn ihre Angabe, die Verfasser hätten den erniedrigenden Tod ihres Bischofs »verarbeiten« wollen und deswegen seine Umwandlung in ein »Evangelium« (106), in eine »frohe Botschaft« (110) literarisch gestaltet, eine ungedeckte Vermutung ist. In Kapitel 4 (Das Christenspektakel von Lyon – eine ›Demokratisierung‹ des »Martyriums«) finde ich keinen Erkenntnisfortschritt. In Kapitel 5 (»Märtyrer« als Christianoi – zur Frage der Identität) wird behauptet, dass die Selbstbezeichnung »Christen« sich durch die Kommunikationsstrategien von 1. Märtyrerautorität, 2. Evangelium und 3. Zitierung anerkannter Schriften in der »or­thodoxen« Rezeptionsgemeinschaft durchgesetzt habe. Zu Christianos sind Di­dache 12,4 und Basilides (Clem. Al., Strom. IV 81,2) unberücksichtigt geblieben. Kapitel 6 (»Märtyrer« als »Opfer«) ist lesenswert. Bibliographie (191–208) und Stellenregister (209–216) beschließen die Studie, die gleichsam schulbuchartig Einblick in die Religionssoziologie (K. v. Stuckrad, Katharina Waldner) gibt.
Wenn man den Beitrag im Anschluss an meine Eingangssätze werten will, dann ergibt sich Folgendes: Das Bekenntnis ist auf »Ich bin Christ« geschrumpft, die Bibel ist mit der Berufung auf Evangelium und anerkannte Schriften präsent, und an die Stelle des Bischofs ist die Autorität des Märtyrers getreten. Ein Martyriumsdiskurs soll das Werden der ECCLESIA CATHOLICA erhellen, wo­möglich begründen.
Ganz anders ist das Thema Martyrium in dem von Sebastian Fuhrmann und Regina Grundmann herausgegebenen Band behandelt, der die Beiträge einer Tagung in Münster (2010) sammelt. Die Frage: »Leben oder sterben für Gott?« ist originell, wie sich vor allem an dem Zusatz »in Auseinandersetzung mit dem Gebot der Lebenswahrung« ablesen lässt. In 15 Beiträgen werden Texte, die Martyriumsvorstellungen in Bezug auf die Leitfrage verdeutlichen können, von Fachvertretern ausgewertet. Die herangezogenen Traditionen reichen von der hebräischen Bibel über Frühjudentum, pagane Literatur und Philosophie, rabbinische Literatur bis hin zur islamischen Tradition. In der Einleitung werden alle Beiträge mit je ca. zehn Zeilen resümiert (1–3). Ich werde auf Gedanken verweisen, die nach meinem Urteil zu einer differenzierten Diskussion über das Allerweltswort »Martyrium« nützlich sind. Allgemein wird die Definition von Martyrium als »der gewaltsame Tod aus Bekenntnis- bzw. Glaubensgründen« (5, Anm. 1) oder »a martyr is a person who prefers a violent death to compliance with an oppres-sive demand from hostile foreign authorities« (J. W. van Henten, 93 f.) von keinem der Beiträge bestritten. Aber lesenswert sind die Beiträge gerade deswegen, weil sie sich unabhängig voneinander bei ihren Text- und Traditionsanalysen nicht daran halten. J. W. v. Henten sieht »Martyrium« als einen Sonderfall unter der Ober-kategorie »noble death« (Heldentod?) mit zwei Unterschieden, nämlich erstens dem religiösen Motiv und zweitens der imitatio Christi. Dieser strukturelle Zugang der Religionswissenschaft lässt nicht nur die Niveauunterschiede der Belegstellen verschwinden, sondern auch die eigentliche Bezeichnung verschwimmen. Ich hätte zumindest beim Vergleich zwischen 2Makk 6–7 und der Um­interpretation in 4Makk angefangen. J. Sievers vergleicht 1Makk 2 mit 2Makk 7 unter dem Gesichtspunkt von passiver Hinnahme des Todes für die Einhaltung der überlieferten Gebote Gottes (2Makk 7) und gewaltsamen Widerstand gegen die frevelnden Machthaber (1Makk 2). Er weist auch darauf hin, dass beide Formen als Sühne verstanden wurden, die den Zorn Gottes abwendeten. In der As­sumptio Mosis sieht er eine Lösung zugunsten des gewaltlosen Widerstandes. Allerdings geht er nicht auf die Frage ein, welche Auswirkung die Begründung mit dem Zorn Gottes auf die literarische Gestaltung der Erzählung von der Mutter und ihren sieben Söhnen gehabt haben könnte. Die vier Beiträge über die rabbinischen Erörterungen zeigen die Vielfalt der Fragen angesichts der Erzählungen über Hingabe des Lebens für die Tora. Einerseits wurde Dtn 6,5 gegen Lev 18,5 gesetzt; es wurden die Gebote gegen Götzendienst, Mord und Unzucht festgelegt, für die Hingabe des Lebens gefordert sei, und es wurde die Theodizee problematisiert ( D. Börner-Klein, R. Grundmann). Im Mittelalter trifft Moses Mamoinides Rechtsentscheidungen über die Grenzen des Kiddusch ha-Schem (K. E. Grötzinger). Der Komplex der Rezensionen der »Geschichte von den Zehn Märtyrern« bleibt rätselhaft (G. Reeg). Die neutestamentlichen Texte (Paulus von H. Löhr, die Evangelientexte von S. Fuhrmann) werden als offen für Martyriumsdeutungen, aber nicht als Aufforderungen zum Lebensgewinn durch Martyrium interpretiert. B. Dehandschutter trägt über Polykarp und Ignatius eine abgewogene Auslegung vor. Es fehlen die Diskussionen der Christen über das Martyrium im 2. und Anfang des 3. Jh.s, wie auch fast nichts über den Ausdruck »Martyrium«, der so universal eingeschlagen hat, zu finden ist. W. Spickermann erweist den ganzen »Peregrinus« von Lukian als Satire, und R. Thiel zeigt, wie in der neuplatonischen Philosophie in Bezug auf die Trennung der Seele vom Körper neben dem physischen Tod auch der vorsätzliche Tod (»Philosophentod«) auftaucht. A. M. Schwemer führt die christliche Umdeutung der Zersägung des Propheten Jesaja vor. Die islamischen Überlieferungen mit Schwerpunkt auf den mittelalterlichen Rechtsgelehrten und dem späten Um­schwung in Aufforderung zum Bekenntnisakt durch Märtyrertod stellt J.-P. Hartung dar.
Es gibt zu jedem Beitrag eine Bibliographie, in den Anmerkungen leider ohne Jahreszahlen zitiert; es gibt auch ein Stellenregister.