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Ausgabe:

März/2015

Spalte:

224–227

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Klaiber, Walter

Titel/Untertitel:

Der Galaterbrief

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2013. 240 S. = Die Botschaft des Neuen Testaments. Kart. EUR 14,99. ISBN 978-3-7887-2713-0.

Rezensent:

Thomas Söding

Der Galaterbrief hat es in sich. Er ist prall gefüllt mit paulinischer Theologie und Biographie. Er fährt seine Stacheln gegen »falsche Brüder« mit so viel Polemik aus, dass man den Apostel um Gnade für seine Gegner bitten möchte. Er ist im Streit entstanden und hat immer wieder für Streit gesorgt, nicht zuletzt seit der Reformation: Die einen sehen in Paulus, der Petrus beim antiochenischen Streit »ins Angesicht widersteht«, ein Vorbild Luthers, der auf dem Reichstag zu Worms Kirche und Reich herausgefordert habe: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders […]«. Die anderen sehen in Paulus, der Häretikern die rote Karte zeigt und die Christen auf die Einheit der Kirche mit Petrus eingeschworen habe, einen Anwalt des rechten katholischen Glaubens und der entschiedenen christlichen Moral. Im Zeitalter der Ökumene sind diese Ideologisierungen zwar – jedenfalls im Ansatz – überwunden. Aber gleichzeitig löst der Galaterbrief neue Kontroversen aus: Ist er nicht antijüdisch, wenn er das Gesetz nur mit dem Fluch, nicht aber mit dem Segen Gottes in Verbindung bringt und in einer allegorischen Exegese ausgerechnet die Juden, die Jesus ablehnen, mit der Sklavin Hagar und ihren Kindern, die Christen aber, ob sie aus dem Judentum stammen oder aus dem Heidentum, mit Sara und den Kindern der Verheißung?
Walter Klaiber stehen die Herausforderungen deutlich vor Augen. Seit seiner Dissertation bei Ernst Käsemann über »Rechtfertigung und Gemeinde« (1982) ist er mit der paulinischen Theologie im Allgemeinen und dem Galaterbrief im Besonderen bestens vertraut. Im Vorwort schreibt er in sympathischer Offenheit, wie seine persönliche Geschichte mit dem Galaterbrief gelaufen ist: dass er durch die Lektüre als Jugendlicher in seinem protestantischen Eifer gegen die katholische Leistungsfrömmigkeit und das jüdische Zeremonialgesetz Feuer gefangen habe, während er heute gelernt habe, wie viele kritische Rückfragen und andere Leseweisen es gebe, mit denen man sich konstruktiv auseinandersetzen müsse, um den Brief besser zu verstehen. Das Ergebnis dieser neuen Nachdenklichkeit und Aufgeschlossenheit ist ein Kommentar in der von K. initiierten und zuverlässig belieferten Reihe »Die Botschaft des Neuen Testaments«. Diese Reihe soll auf dem Stand der Wissenschaft nicht nur das akademische Publikum, sondern eine breitere Leserschaft erreichen; sie verzichtet deshalb auf einen umfassenden wissenschaftlichen Apparat; sie bietet aber genügend Raum, um eine differenzierte, begründete, kritische Exegese zu liefern, die verlässliche Informationen zu Hintergrund und Aussagegehalt eines Textes mit akzentuierten Interpretationen verbindet, so dass nicht nur die historische, sondern auch die aktuelle Bedeutung des Textes einleuchten kann.
Dieses Programm auszuführen, macht K. beim Galaterbrief sichtlich Vergnügen. Er referiert kurz die Daten der Einleitungsfragen: In der notorischen Kontroverse, ob der Brief an Gemeinden in der »nordgalatischen« Landschaft oder in der »südgalatischen« Provinz gerichtet sei, referiert er die Argumente, legt sich aber nicht fest, weil der Unterschied für die Auslegung keine allzu große Bedeutung habe (während er für die Geschichte des frühen Chris­tentums wichtig ist). Auch die Datierungsprobleme sind K. geläufig – wobei das Zeitfenster zwischen 50/51 und 55 für antike Verhältnisse ohnedies außerordentlich klein ist. Eine ganz leichte Präferenz für das spätere Datum (und damit auch für eine nördliche Adresse) schimmert durch. Entscheidend ist ohnedies der Anlass: dass durch andere Missionare die Heidenchristen zur Beschneidung und zur Einhaltung wenigstens der Grundregeln des Gesetzes genötigt worden seien – was Paulus zu einer scharfen Intervention nötige. Für die gesamte Einleitung braucht K. nicht mehr als viereinhalb Seiten; aber das reicht, dass man sich informiert fühlt.
Ausführlicher ist der Schluss, der die »Botschaft« des Galaterbriefes zusammenfassen soll (197–221). Hier werden die Einleitungsfragen noch einmal aufgegriffen, dann aber vor allem die Antworten des Paulus rekapituliert. Stichworte sind: »Wahrheit des Evangeliums«, »neue Identität« (hier wird die Rechtfertigungslehre verhandelt), »Leben in Freiheit« (hier findet die Ethik einen Ort); es fällt auf, dass weder die Christologie noch die Ekklesiologie eigens reflektiert werden, obwohl der Galaterbrief auf beiden Gebieten eine große Orientierungsleistung erbracht hat. Im dritten Teil, der die Aktualität betont, kommt allerdings beides heraus: das solus Christus, gegen alle Zusätze zu seiner Heilsmittlerschaft, und die »Kirche der Freiheit«, die der Gotteskindschaft der Gläubigen eine Heimat bietet. Den Schluss bildet – ganz von der paulinischen Selbstdarstellung aus gedacht – ein Appell, dass die Einigung in der Rechtfertigungslehre die Abendmahlsgemeinschaft zur Folge habe müsse – was ohne Zweifel richtig ist, aber den Handschlag beim Apostelkonzil in Jerusalem, die Anerkennung der jeweiligen Apostolizität, voraussetzt (und da liegt der Hase im Pfeffer).
Den Hauptteil bildet selbstverständlich die Exegese des kano-nischen Textes. Auf gut 170 Seiten liegt ein kompakter, problemorientierter, gut zu lesender Kommentar vor, der sich auf die Re­konstruktion des paulinischen Gedankengangs konzentriert und so zu einem kleinen Kompendium paulinischer Rechtfertigungstheologie wird. Über Einzelfragen der Auslegung wird immer gestritten werden können, über Interpretationsakzente, Perspektivenwechsel, Schwerpunktbildungen. Das ist nicht so sehr ein Problem des akademischen Wissenschaftsbetriebes, sondern systembedingt: Ein Brief ist nie das letzte Wort zur Sache, sondern immer der Auftakt zu einer Interpretation, die ohne Kreativität und Diskussion schnell fad wird. Was ein Kommentar leisten muss, ist, dieser Debatte ein stabiles Argumentationsfundament zu geben und ein tragfähiges Argumentationsgerüst aufzubauen: durch Wort-erklärungen, Hintergrundklärungen, Kontextanalysen etc. Das g­e­schieht in K.s Galaterkommentar auf hervorragende Weise. Wer den Kommentar studiert, kann immer sicher sein, nicht auf eine falsche Fährte geführt oder von den Obsessionen eines Exegeten belästigt zu werden, sondern den Blick für den Text, seine Probleme und Potentiale geschärft zu bekommen.
Da K. mit vollem Recht die ökumenische Bedeutung des Briefes betont, ist die Deutung der Rechtfertigungsthese in Gal 2,16 ein Prüfstein für die Qualität des Kommentars (70–75). K. erschließt den inneren Zusammenhang zwischen Freispruch und Gerechtmachung; er integriert das forensische Moment in die Neuschöpfung; er unterscheidet klar zwischen Paulus und Luther, ohne einen künstlichen Gegensatz heraufzubeschwören; er nimmt die Impulse der »neuen Paulus-Perspektive« auf, indem er die soziologische Funktion der Beschneidung wie der Speisevorschriften als boundary markers aufnimmt, ohne sich davon abbringen zu lassen, die Rechtfertigungslehre auch anthropologisch zu deuten; er integriert die Kategorie der Partizipation (also der koinonia) in die Soteriologie; er diskutiert die Frage, ob der Glaube Christi oder der an Christus rechtfertige – und entscheidet sich (wegen Röm 4) für die klassische Interpretation. All das zeigt eine beispielhaft differenzierte, problembewusste, integrationsfähige Exegese, die exegetisch fundiert und theologisch brisant ist. Wenn überhaupt Kritik geübt werden kann, dann sei erwähnt, dass der Glaubensbegriff blass bleibt: Dass die Christologie in die Vollen gehen muss, damit die Rechtfertigung überhaupt gedacht werden kann, ist für K. keine Frage, wird aber in der Deutung der Rechtfertigungslehre nur dann klar, wenn der Glaube auch als Bekenntnis und Erkenntnis gesehen wird, und zwar nicht nur individuell, sondern auch ekklesial, wenn anders Paulus in der 1. Person Plural schreibt: Wir glauben; dass der Glaube seine rechtfertigende Kraft durch Jesus Chris­tus gerade so entfaltet, dass er in der Liebe wirksam ist (Gal 5,6), ist für K. gleichfalls klar (wie die Auslegung des Verses auf S. 155 f. zeigt), braucht dann aber eine Klarstellung, wie sehr er als Glaube die Beziehungen zu den »Hausgenossen des Glaubens« und darüber hinaus zu allen Menschen prägt, auch in der Ethik. Nebenbei sei nur bemerkt, dass die Kritik der scholastischen Theologie auf S. 155 etwas zu schnell geht, weil deren Formel fides caritate formata Glaube als verständige Zustimmung zur Wahrheit des Evangeliums und caritas als Einheit von Gottes- und Nächstenliebe versteht; das ist offenkundig nicht das Ergebnis einer Galaterexegese, aber vielleicht eher schon von 1Kor 13 inspiriert.
Da K. mit gleichfalls vollem Recht die Brisanz im jüdisch-christlichen Dialog hervorhebt, sei die Frage gestellt, welche Rolle der Galaterbrief im Kontext einer Biblischen Theologie spielt, die nach dem Zusammenhang der beiden Testamente in der einen Heiligen Schrift fragt. Ein Prüfstein ist die Deutung der Rolle, die dem Gesetz zukommt. Bei der Auslegung von Gal 3,24 verabschiedet K. sich von der berühmt-berüchtigten Übersetzung von paidagogos als »Zuchtmeister« in der Lutherbibel, die merkwürdigerweise auch die (alte) Einheitsübersetzung beeinflusst hat, kann sich aber auch nicht für »Erzieher« entscheiden, sondern schreibt »Aufpasser« und begründet dies philologisch wie soziologisch mit der Aufgabe, die Pädagogen in einem antiken Haushalt hatten: Kinder zur Schule zu bringen, aber nicht selbst zu unterrichten. Wie aber lässt sich eine solch restriktive Rollenbeschreibung damit in Einklang bringen, dass die Tora für Paulus Heilige Schrift ist, durch deren Exegese – in christologischer Hermeneutik – entscheidende Orientierung in der christlichen Lehre gewonnen werden kann? Wie ist die christologische Finalisierung zu deuten, die Paulus vornimmt? Dass die Zeit des Gesetzes beendet wäre, oder dass es nicht mehr unter der Sünde gefangen gehalten wird? K. bleibt bei seiner Skepsis gegenüber einer Befolgung des Gesetzes, auch wenn er in Gal 5,13 f. die Kategorie der »Erfüllung« bedenkt und sie weniger auf den Gehorsam gegenüber den Geboten als auf das Handeln Gottes in Liebe deutet (165). Entsprechend vermeidet er bei der Auslegung von Gal 5,22 f. – bewusst? – den Begriff »Tugenden« und deutet – auf seine Weise konsequent – den Schluss: »dagegen ist das Gesetz nicht« nur so, dass das Gesetz niemanden verurteile, der »Werke« als »Frucht des Geistes« bringt, nicht aber so, dass dadurch das Gesetz erfüllt wird (164 f.). Eine solche Auslegung muss vor der Kritik geschützt werden, die bleibende Bedeutung der Tora für die Gläubigen doch nicht konsequent zu denken und Paulus zugleich von einer philosophischen Tradition abzuschneiden, ohne die aber eine Kommunikation des Evangeliums (damals wie heute) schwer wird. Doch das sind Rückfragen, die ihrerseits Rückfragen auslösen und nur das Profil der Exegese K.s kenntlich machen sollen.
Der Galaterkommentar ist ein Glücksfall. Er bündelt die Exegese, führt an den Ursprungsort der wirkmächtigsten Theologie, die das Christentum hervorgebracht hat, und öffnet den Text für heutige Debatten über Rechtfertigung und Freiheit, Einheit und Vielfalt, Wahrheit und Glaube.