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Ausgabe:

März/2015

Spalte:

214–216

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Watts, James W.

Titel/Untertitel:

Leviticus 1–10

Verlag:

Leuven u. a.: Peeters Publishers 2013. XXX, 567 S. = Historical Commentary on the Old Testament, 5. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-90-429-2984-5.

Rezensent:

Thomas Hieke

Als Frucht langjähriger Forschungen zum Buch Leviticus und der biblischen Opferrhetorik legt James W. Watts diesen umfangreichen englischsprachigen Kommentar zu den ersten zehn Kapiteln des dritten Buches Mose vor. Aus dem Vorwort wird ersichtlich, dass W. nicht nur auf den häufigen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen in der internationalen Bibelwissenschaft auf diversen Tagungen (u. a. das Colloquium Biblicum Lovaniensium und die Meetings der Society of Biblical Literature) zurückgreift, sondern auch auf eigene Veröffentlichungen, die in aktualisierter Form in die Einleitungspassagen des vorliegenden Kommentars Eingang gefunden haben. Wer diese Publikationen kennt, weiß, was auf ihn bei der Kommentierung durch W. zukommt, und kann so überprüfen, ob sich W.s rhetorische und ritualtheoretische Grundansätze auch in der durchgängigen Arbeit am fortlaufenden Text bewähren (so viel vorab: Sie bewähren sich!). Wer W.s Positionen noch nicht kennt, erhält einen griffigen hermeneutischen Schlüssel für das Verständnis der Ritualtexte in Lev 1–10. W. setzt ganz auf die rhetorische Analyse des biblischen Texts. Damit will er dem Faktum Rechnung tragen, dass die Rituale seit zwei Jahrtausenden nicht mehr ausgeführt werden (können) und die Texte (vor allem im Christentum) kaum mehr gelesen werden – dennoch wäre es falsch anzunehmen, sie hätten damit ihre Bedeutung verloren. Diese Bedeutung erschließt sich auf der rhetorischen Ebene. Leviticus ist längst Teil eines ritualisierten Systems »Heilige Schrift« und muss von daher interpretiert werden – nicht nur im theologischen Sinne, sondern auch und vor allem in seiner Rezeption als »kanonische«, autoritative, laut vorzulesende Schrift: W. will auch die konkrete Performanz des Textes sowie seine Interpretationen in der Geschichte (Übersetzungen, Paraphrasen, Nacherzählungen, Zitationen) mit in die Auslegung einfließen lassen: »The historical c ommentary on Leviticus therefore addresses the history of its interpretation, and also the history of its influence on performances of both the text and of the rituals described in the text. It evaluates the impact of its iconic ritualization in Torah scrolls and Bibles. Most of all, it explains how and why Leviticus became part of scripture and what its role in that development tells us about the function of scriptures in religious communities« (3).
Die umfangreiche Einleitung zum gesamten Buch Leviticus (4–133) ist nach den drei Stichworten »Contents«, »Contexts« und »Rhetoric« organisiert. Unter dem »Inhalt« verhandelt W. Fragen der Übersetzung, der literarischen Form, der Gattungen und der Ge­samtstruktur. Dabei fällt schnell auf, dass er bestimmte Opferbegriffe anders übersetzt, als man das aus traditionellen Übersetzungen gewohnt ist (z. B. »rising offering« statt »burnt offering/ Brandopfer« oder »commodity offering« statt »cereal offering/Speiseopfer«). Das ist ein normaler Vorgang, denn sobald man sich intensiver mit den hinter den Ritualvorschriften stehenden Konzepten befasst, wird man immer unzufriedener mit den klassischen Übersetzungen, weil sie bestenfalls unverständlich sind, schlimmstenfalls sogar in die Irre führen. Es bleibt nichts anderes übrig, als sich mit den Konzepten selbst auseinanderzusetzen und entsprechende Kommentare zu lesen – eine englische oder deutsche Übersetzung eines Begriffs allein kann es niemals leisten, all das auf den Punkt zu bringen, was in diesen biblischen Kapiteln verhandelt wird. Dennoch ist die Suche nach »passenderen« Wiedergaben der Spezialbegriffe in den modernen Zielsprachen nie aufzugeben; zumindest sollten irreführende Begriffe ersetzt werden.
Unter »Kontexten« versteht W. die Begegnung von Menschen (aus Judentum und Christentum) in Geschichte und Gegenwart mit dem Pentateuch und dem Buch Leviticus. Hier verortet W. sowohl die aktuelle akademische Diskussion um die Bibel und den Text von Leviticus als auch die Interpretationsgeschichte in der jüdischen und christlichen Tradition. Freilich kann dies nur schlaglichtartig und ausschnitthaft geschehen. Gleichwohl ist sein Überblick über die Auslegungsgeschichte in der Einleitung äußerst informativ.
Die Sektion »Rhetoric« untersucht den persuasiven Charakter des Leviticustextes in verschiedenen Kontexten. Hier zeigt sich W.s spezifischer Ansatz und seine Deutung der biblischen Konzepte. Sein hermeneutischer Schlüssel ist die Deutung des Textes als Rhetorik einer Priesterdynastie zur Zeit des Zweiten Tempels, die wiederum das Fundament für das normative Verstehen legt, das spätere religiöse Traditionen maßgeblich beeinflusst.
An diesen Linien entlang entwickelt W. seine Einleitung. Die Kommentierung selbst ist ähnlich gegliedert. Dabei erhalten die Kapitel 1–7 und 8–10 jeweils eigene Einleitungen, die auf frühere Publikationen von W. zurückgehen. Damit hat man die grundsätzliche Position des Kommentators auf wenigen Seiten griffig zugänglich. So fasst er zu Lev 1–7 seine Sicht der Gattung »Ritualtext«, die rhetorischen Elemente und die pragmatischen Ziele dieser Texte zusammen. Er zeigt mit Recht auf, dass die Texte zum laut hörbaren Vortrag vorgesehen waren und mit dieser Performanz die höchste Autorität und Gesetzgebungskraft dieser »Tora« (vor allem hinsichtlich des Kults am Heiligtum) insinuiert habe n– es geht somit nicht nur um ritualtheoretische Instruktionen, sondern um die Normativität und Autorität aller Vorschriften des Pentateuchs.
Die Behandlung der einzelnen Kapitel (W. fasst dabei Lev 4–5 und 6–7 sinnvollerweise zusammen) geht in folgenden Schritten vor: Auf eine neue englische Übersetzung folgen als »Essentials« grundsätzliche Überlegungen zu Inhalt, Kontext und Rhetorik. Es schließen sich unter der Überschrift »Exposition« textorientierte Untersuchungen an (eine Spezialbibliographie, die Strukturanalyse mit philologischer Akribie und Sinn für sprachlich-syntaktische De­tails, Überlegungen zu geschichtlichen Entwicklungen). Bei der »Exegesis« geht W. dann Vers für Vers vor, wobei die Übersetzung abschnittsweise wiederholt wird. Bisweilen werden einzelne Verse über mehrere Seiten hinweg erläutert, der Kommentar erweist sich somit als sehr detailliert. Viele Spuren für weitere Untersuchungen von spezifischen Einzelfragen werden gelegt, etwa dadurch, dass intertextuelle Bezüge zu anderen alt- und neutestamentlichen Texten aufgezeigt und Rezeptionslinien von der Qumranliteratur bis hin zu den Kirchenvätern, zum Speculum Humanae Salvationis und zur Biblia Pauperum angedeutet werden. Wo es nötig ist, wirft W. auch einen Blick in die Septuaginta und die anderen antiken Versionen. Auch die rabbinische Literatur (vor allem Mischna und Talmud) werden von Fall zu Fall zu Rate gezogen. Die Detailtiefe führt dazu, dass beispielsweise die 17 Verse von Lev 1 auf 71 Seiten (155–225) kommentiert werden.
Man kann viel Wissenswertes aus W.s Kommentar über Leviticus entnehmen und erhält einen dem modernen Denken entsprechenden hermeneutischen Lesevorschlag, der nahe am Text und unter Berücksichtigung der antiken Entstehungsverhältnisse entwickelt wurde und somit eine solide Basis hat. Die Entstehungs- und Kompositionsgeschichte des Buches selbst ist weniger das Ziel des Kommentars, das Adjektiv »historical« bezieht sich mehr auf die generelle geschichtliche Verankerung der Literatur in der Perserzeit und dann vor allem auf die Geschichte der Interpretation und der rhetorischen Wirksamkeit dieses Textes in der Spätantike. Mit der Akzentuierung des »Rhetorischen« bekommt die Kommentierung eine spezifische Richtung, die immer durchklingt. Sie ist aus Sicht des Rezensenten der Sache angemessen und ein guter heuristischer Ansatz; teilt man diese hermeneutische Position gar nicht, wird man mit bestimmten Ausführungen des Kommentars Schwierigkeiten haben. W.s Interpretation von Lev 1–10 ist in sehr hohem Maße fundiert wie profiliert und gehört in die erste Reihe der Tora/Pentateuch-Kommentare.