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Ausgabe:

März/2015

Spalte:

204–206

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Wischmeyer, Oda [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Lexikon der Bibelhermeneutik. Begriffe – Methoden – Theorien – Konzepte. Unter Mitwirkung v. E. Angehrn, E.-M. Becker, M. Habermann, U. H. J. Körtner, J. A. Loader, Ch. Lubkoll, K. Pollmann, M. Schöller, G. Stemberger. Red.: S. Luther.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2013. = De Gruyter Studium. LXX, 695 S. Kart. EUR 39,95. ISBN 978-3-11-029274-9.

Rezensent:

Michael Moxter

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Wischmeyer, Oda [Hrsg.]: Lexikon der Bibelhermeneutik. Begriffe – Methoden – Theorien – Konzepte. Red.: S. Luther. Berlin u. a.: De Gruyter 2009. LXX, 695 S. Lw. EUR 169,95. ISBN 978-3-11-019277-3.


Das Lexikon der Bibelhermeneutik, 2013 auch in einer preisgünstigen Paperback-Ausgabe erschienen und von der Neutestament-lerin Oda Wischmeyer als Gesamtherausgeberin verantwortet, identifiziert völlig zu Recht ein Desiderat und entwirft ein an­spruchsvolles Forschungsprogramm, wie dieses zu erfüllen sei: Das Le­xikon will inter- und transdisziplinär »Begriffe, Methoden, Theorien und Konzepte der Bibelhermeneutik aus der Perspektive der textbezogenen wissenschaftlichen Disziplinen« darstellen (V) und zugleich »die Bibel und ihre Hermeneutik […] der scientific community« erschließen (XV). Sein Gegenstand ist also ein »Hauptreferenzpunkt des abendländischen Denkens« (XIX), ein »Buch der Menschheitskultur« (XXI), ein »ungeheuer große[r] Intertext« (XXV), ja ein »Super-« und »Hypertext« (vgl. XVIII mit 272 f.). Dieser soll mit allen »gegenwärtig angewendeten Methoden und Theorien des Verstehens von Texten« (XXI) erfasst werden und dabei sollen die »klassische theologische Binnenperspektive und die geistes- und kulturwissenschaftliche Außenperspektive […] miteinander in Beziehung« (XXVI) gesetzt werden.
Das sind Ankündigungen, bei denen man sich ein wenig an Antragsprosa, weit mehr jedoch an Antragslyrik erinnert fühlt. Bei aller Sympathie für die Aufgabe bleibt jedoch offen, warum das überanspruchsvolle Forschungsprogramm und die weit dimensionierte Kulturaufgabe in die Form eines Lexikons gebracht wurden.
Es stimmt gewiss: Kaum etwas wäre so hilfreich wie die Erneuerung einer Hermeneutik, die binnentheologisch relevant und kulturwissenschaftlich vermittelt (und vermittelbar) den biblischen Texten diejenige Aufmerksamkeit verschaffte, die sie verdienen. Auch gilt (nicht nur für die exegetischen Disziplinen), dass sich in der hermeneutischen Aufgabe historischer Textbezug, kulturelle Enzyklopädie und rezipienten- bzw. interpretantenbezogene Be­deutungsdimensionen verschränken. Und wiederum: dass Alternativen zu Bultmanns existentialer Interpretation und zu Childs Canonical Approach (XXII) an der Zeit wären. – Alles das leuchtet ein, nur realisiert sich ein ambitioniertes Projekt, das der Leserschaft eine »Idee« (XXI ff.), ein »Programm« (XXIV f.), einen »Entwurf« (XXV), eine »Positionierung« (XXVI) und einen »Plan« (XXVII) einleitend ausbreitet und auch gleich den »Erkenntnisgewinn« (XXIX) markiert, den Benutzer davontragen, nun einmal nicht durch eine invisible hand hinter dem Rücken von 311 Autorinnen und Autoren und dem, was diesen beim Schreiben der häufig kleinteiligen Artikel und Einträge wichtig ist oder einfällt.
Einige Beispiele mögen die Divergenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit belegen. Die Einleitung legt großen Wert auf die Entwicklung einer Theorie des Verstehens, die als Theorie eines eminenten Textcorpus und zugleich als Theorie der Text- und Kulturwissenschaft in Frage kommen soll. Die Erwartung jedoch, unter dem Lemma »Theorie« finde sich eine Erklärung, kritische Reflexion und Begründung des vorausgesetzten Theoriebegriffs, erweist sich als irrig. Knappe anderthalb Spalten rekapitulieren Begriffsgeschichtliches zur griechischen theoria, zum naturwissenschaftlichen Gegensatz von Theorie und Experiment, zur aristotelischen Differenz zwischen vita contemplativa und vita activa sowie natürlich zu Horkheimers und Habermas’ Varianten einer Kritischen Theorie (Tilo Wesche, 600 f.). Alles durchaus richtig, aber nichts, was nicht in jedem beliebigen anderen fachwissenschaftlichen Lexikon genauso oder doch so ähnlich längst schon geboten würde. Der Artikel »Zeichen« des Mitherausgebers Emil Angehrn führt in seiner Knappheit elegant von Peirce zu Saussure und erwähnt sogar Karl-Otto Apel (wenn auch in unvollkommener Schreibung) und Josef Simon – er vergisst aber Anlass und Programm der Bibelhermeneutik vollständig. War da nicht etwas mit den Zeichen, die von Engeln den Hirten gegeben und von Jesus manchmal verweigert wurden? Würde man nicht, geleitet vom Wunsch, die Bibel zu verstehen, darüber etwas erfahren wollen? Oder – um eine kategorial anders gelagerte Frage zu stellen: Hätte nicht der an der Fachwissenschaft Interessierte an dieser Stelle erwarten dürfen, dass die texttheoretischen Ansprüche dieses Lexikons in ein nachvollziehbares Verhältnis zur Semiotik gesetzt würden? Welche Funktion hätte ein zeichentheoretisches Paradigma der Exegese im Horizont des hermeneutischen Unternehmens?
Schlägt man zur Gegenprobe den Artikel »Semiotik« auf, wird man wiederum über vieles sachgemäß informiert, ja man erfährt jetzt unter diesem Lemma sogar, dass es in der Bibel Zeichen gibt, »die (wie z. B. der brennende Dornbusch, Ex 2,23–4,18) eine Verbindung zum Bereich des Göttlichen versprechen«, bleibt aber nicht nur angesichts der Frage ratlos, wie sich das hermeneutische Programm zur Semiotik als einer Methode der Bibelauslegung verhält, sondern auch angesichts der anderen, ob diese Paraphrase der Dornbuschszene das Wesentliche trifft.
Das Lexikon der Bibelhermeneutik zeichnet sich schließlich dadurch aus, dass es die Praktische Theologie als eine für Auslegungsfragen irrelevante Disziplin begreift. Denn es strukturiert seine Artikel nach alt- und neutestamentlicher Wissenschaft, Kirchen- und Theologiegeschichte sowie Systematischer Theologie und zieht zusätzlich Altphilologie, Judaistik, Islamwissenschaften, Philosophie und Literaturwissenschaften hinzu. Gibt es angesichts dieses Ausfalls eines gesamten theologischen Faches wenigstens einen Artikel »Praktische Theologie«, in dem man etwas über die hermeneutische Bedeutung und bibeltheologische Fragestellung dieser Disziplin erfahren könnte?
Antworten wir diplomatisch: Es findet sich immerhin ein Artikel »Predigt«, dessen sogenannter Systematisch-Theologischer Teil vom Rostocker Praktischen Theologen Thomas Klie geschrieben wurde (entsprechendes Asyl wird dem Fach beim Lemma: »Gottesdienst« gewährt).
Freilich nimmt sich das Verhältnis von Bibelhermeneutik und Ethik ebenfalls prekär aus. Ob oder ob nicht der ethische Sinn der jüdisch-christlichen Religion mit dem Verständnis des Bibeltextes in einem inneren Zusammenhang steht, wird nicht gefragt. Wer auf der Suche nach Auskünften ist, könnte allenfalls das Lemma »Ethical turn« nachschlagen. Dieses besteht freilich nur aus dem Eintrag: »Siehe Cultural turn«. Dort findet sich zu einer solch naheliegenden Frage verständlicherweise nichts. Der einzige inhaltlich mit ihr befasste Artikel: »Liebe« wird im exegetischen Abschnitt ausschließlich durch das Neue Testament vertreten. Da auch ein jüdischer Beitrag fehlt, kommt beim Gebrauch des Werkes durchaus ein Bibelverständnis zustande – nur eben ein defizitäres: Wollte man die Bibel als ethischen Text verstehen, prägte sich einzig die Liebe ein und zwar als eine exklusive Angelegenheit des Christentums. Solche Fehlorientierungen werden auch durch einen noch so extravaganten Textbegriff nicht kompensiert.
Fazit: Das »Lexikon der Bibelhermeneutik« ist ein programmatisches Werk, das bei so manchem Artikel staunen lässt, wie meis­terlich es gelingen kann, Prägnantes knapp darzustellen (etwa: Gamm über ›Postmoderne. philosophisch‹, Großhans über ›Semiotik. Systematisch-theologisch‹ oder Horn über ›Hoffnung, neutes­tamentlich‹ – Letzteres ein Artikel auf Augenhöhe mit dem Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament). Das Lexikon leistet also manches von dem, was man von einem solchen Werk erwartet, aber zu wenig von dem, was es verspricht.