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Ausgabe:

März/2015

Spalte:

194–196

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Alehegne, Mersha

Titel/Untertitel:

The Ethiopian Commentary on the Book of Genesis. Critical Edition and Translation

Verlag:

Wiesbaden: Otto Harrassowitz Verlag 2011. XIX, 722 S. =Aethiopistische Forschungen, 73. Geb. EUR 138,00. ISBN 978-3-447-06430-9.

Rezensent:

Rainer Voigt

Die einheimischen äthiopischen Kommentare zu Büchern der Bibel, die über Übersetzungen ins Amharische hinaus auch exegetisches Material enthalten, ziehen erst seit wenigen Jahren das allgemeine äthiopistische Interesse auf sich. Die Arbeit enthält die Edition des amharischen Kommentars zum Buch Genesis nach fünf Handschriften mit leicht kommentierter Übersetzung. Ihre Einleitung umfasst 41 Seiten und behandelt verschiedene wichtige Aspekte der andəmta-, d. i. exegetische Literatur und kann als Einführung ins Thema gelten. Nach äthiopischer Tradition, die aber von anderen nicht geteilt wird, geht die Übersetzung (und Kommentierung) des Alten Testaments bis auf die Zeit Salomos (10. Jh. v. Chr.) zurück. Wichtig sind die Erläuterungen der drei Kommentar-arten, die in der äthiopischen Literatur bezeugt, aber editorisch bei Weitem noch nicht angemessen erschlossen sind.
a) Übersetzungen von griechischen, syrischen und arabischen Kommentaren zu Schriften der Bibel: Bei der Liste von acht altäthiopischen Werken wird nicht in allen Fällen vermerkt, aus welcher Sprache sie übersetzt wurden. Auch die nötigen bibliographischen Angaben fehlen in den meisten Fällen. Der hier verwendete Begriff tərgwame bezeichnet nicht nur die Übersetzung, sondern auch den Kommentar, die Exegese. Ein Hinweis auf den Targum, die aramäische Übersetzung des Alten Testaments, und das hebräische Verb tirgem, das im Äthiopischen als tärgwämä »übersetzen« erscheint, wäre angebracht gewesen.
b) Einheimische Kommentare in altäthiopischer Sprache: Hier werden sechs Werke genannt, von denen nur eines bislang veröffentlicht wurde. Bei zwei Werken werden Manuskripte angegeben; bei drei Werken fehlen die Angaben. Es werden einige Fachausdrücke erläutert, die in den Kommentaren regelmäßig vorkommen. So werden Bemerkungen, Argumente bzw. Gegenargumente von anderen Gelehrten mit den Worten bo zä-ybe »es gibt jemanden, der sagt/bemerkt/einwendet« eingeführt. Für die Verwendung dieser altäthiopischen Ausdrücke wird dankenswerterweise jeweils ein altäthiopisches Beispiel geboten, allerdings nur in äthiopischer Schrift ohne Übersetzung. Es wird also vorausgesetzt, dass der zukünftige Leser dieser Arbeit altäthiopische und, wie wir sehen werden, amharische Texte lesen und verstehen kann. Die Anzahl der möglichen Leser wird dadurch erheblich eingeschränkt.
c) Die größte Bedeutung heute haben die Übersetzungen und Kommentare in amharischer Sprache (andəmta). Es besteht eine reiche einheimische Tradition, die die Neuorganisation und För-derung dieser einheimischen exegetischen Wissenschaft Kaiser Isayu II († 1755) zuschreibt. Vier von ihm ernannte Gelehrte, die im Einzelnen angeführt werden, gelten als Väter der amharischen andəmta-Tradition, die sich danach in vier Gruppen aufteilt: Altes Testament, Neues Testament, Bücher der Wissenschaftler, Bücher der Mönche.
Es kommt zur Herausbildung von zwei Schulen, die »oberes Haus« (Lay bet) und »unteres Haus« (Tačč bet) genannt werden. Wichtig sind die kurzen Ausführungen zu dem unterschiedlichen Ansatz und Stil der beiden Schulen. Ganz allgemein kann man sagen, dass »oben« und »unten« sich auf die Elaboriertheit der Argumentation und Erklärung und auf eine stärkere Berücksichtigung des Altäthiopischen bezieht. Wir werden über die weitere Entwicklung und die bedeutendsten Wissenschaftler seit dem 18. Jh. bis in die Gegenwart unterrichtet. Der Vf. hat noch bedeutende andəmta-Theologen befragen können. – Es versteht sich von selbst, dass die einheimische exegetische Tradition nicht auf den hebräischen bzw. griechischen Text der Bibel Bezug nimmt.
In dem Forschungsbericht wird die bisherige andəmta-Literatur besprochen, wobei den Arbeiten von R. Cowley naturgemäß ein besonderer Rang zukommt. Wichtig ist die Zusammenstellung von 54 andəmta-Texten, von denen etwa die Hälfte publiziert ist. Leider fehlen nähere Angaben zu den einzelnen Werken und Editionen. Man wundert sich über den Eintrag, dass z. B. das Werk Haymanotä abäw »Glaube der Väter« unpublished sei. Insbesondere hätte man gern mehr über die Edition des Pentateuch-Kommentars erfahren, der 2006/7 erschienen ist. Er wurde für die vorliegende Ausgabe nicht mehr berücksichtigt, wie man in einer Fußnote erfährt, weil »more than 85 percent of the edition« schon erarbeitet war. Die Doktorarbeit von B. A. Edele: A critical edition of Genesis in Ethiopic (Durham, NC/Ann Arbor, Mich.) wird zwar im Literaturverzeichnis erwähnt, aber ebenfalls in der Arbeit nicht beachtet. In der Liste fehlen auch bereits veröffentlichte Textausgaben, wie Tənbitä Ermiyas »Jeremia« (2004/5) und Sirak »Sirach« (Mäṣaḥəftä Sälomon wä-Sirak, 1995/6).
Der Vf. erwähnt (zu) kurz die Problematik der Anwendung der textkritischen Methode auf den vorliegenden Text; nichtsdestotrotz will er einen »Urtext« aufstellen. Um die Abweichungen unter den fünf zugrunde gelegten Manuskripten, die später be­schrieben werden, zu verdeutlichen, werden einige Textpassagen in den verschiedenen Versionen miteinander verglichen. Dabei wird nicht klar, um welchen Text (übrigens ohne Übersetzung) es sich handelt. Aus den verschiedenen Varianten wird eine Best reading-Variante erarbeitet. Die Kriterien, die dabei gelten, werden nicht erläutert; es wird ein Versuch unternommen, ein Stemma zu zeichnen – auf der Grundlage einer tabellarischen Übersicht, in der die »shared external features between Mss.« gezählt werden; da­nach gäbe es drei Handschriftenfamilien. Dies wird alles nur mit wenigen Worten dargestellt.
Den Hauptteil der Arbeit stellen die Edition des Textes mit zahlreichen Varianten im Apparat (43–382) und die Übersetzung mit leichter Kommentierung (383–659) dar. Bei dem altäthiopischen Bibeltext wird nicht auf die bisherigen Texteditionen (Dillmann, da Bassano) eingegangen. Die Übersetzung des altäthiopischen Bibeltextes soll »as literal as possible in an attempt to preserve to the flavour of the original« sein – das Gegenteil ist der Fall, was sich fast auf jeder Seite zeigen lässt.
Gen 42,1 (611) wird übersetzt »grain for sale in Egypt«, besser wäre wörtlich »Getreide, das man verkauft im Lande Ägypten«, weil eine Verbalform vorliegt. Es folgt »Get you down thither, and buy for us from thence«. Diese Übersetzung ist allzu frei: statt »get down« kann es einfach heißen »geht« (ḥorä ist das normale Verb für »gehen«); »thither« steht nicht da und auch nicht »from thence«; dafür ist ənkä »also« nicht übersetzt. Dies ist übrigens der genaue Wortlaut der King James Version! Da hat es sich der Vf. etwas zu leicht gemacht. Was man erwartet, ist nicht eine stilistisch glänzende Übersetzung (hier von 1611), sondern eine getreue Wiedergabe des Textes, wenn dies mit der Sprachstruktur und dem Stil der Sprache vereinbar ist, in die übersetzt wird.
15: »it means work« (das Personalsuffix der 2. m. sg. -h »dein« ist nicht berücksichtigt),
2712: »My father peradventure will feel me, and I shall seem to him as a deceiver« (= King James), richtig: »und wenn vielleicht mein Vater mich berührt, werde ich vor ihm sein wie einer, der ihn betrügt«,
4227: »And as one of them opened his sack to give his ass provender in the inn« (= KJ), lies: »einer (von ihnen) öffnete seinen Sack dort, wo sie wohnten, um ihren Eseln Futter zu geben«,
4228: »it is even in my sack« (= KJ), richtig: »ich fand es in meinem Sack«,
451: »Then Josef could not refrain himself before all them that stood by him« (= KJ), richtig: »und als Josef sich nicht (mehr) zurückhalten (konnte), wenn alle vor ihm standen«,
4515: »Moreover he kissed all his brethren« (= KJ), richtig: »und er küsste sie alle«,
4519: »Now you art commanded, do this« (vgl. KJ: Now thou art command-ed, this do ye), richtig: »und du (was dich betrifft), befiehl so deinen Brüdern«,
4520: anstelle von »your stuff« (= KJ) muss es heißen: »ihren Hausrat und das, was ihre Augen sahen«.
Mit einer solchen Aufzählung könnte man endlos fortfahren. Nach dieser Vorgehensweise werden alle Besonderheiten des äthiopischen Textes, der in großen Teilen auf die Septuaginta zurückgeht und in etlichen Fällen von unserer auf dem Hebräischen basierenden Übersetzung abweicht, eliminiert. Von der Edition kann also nur einer, der des Altäthiopischen und Amharischen mächtig ist, einen Nutzen ziehen.
Die Kommentare beschränken sich auf die Fußnoten zur Übersetzung. Hier hätte wesentlich mehr gesagt werden können. Der Vf. hat offensichtlich die exegetische Literatur nicht studiert, weil sich in den Fußnoten kaum Hinweise auf solche Werke finden. So wird gleich am Anfang (Gen 11) zu Orit »Thora« der amharische Kommentar gegeben, dass er »narrates the story of Titus, the false Messiah« – was nicht weiter kommentiert wird.
In der Bibliographie mit meist englischen Titeln wird viel Literatur genannt, deren Eingang in die Arbeit jedoch fraglich ist. Im Anhang wird eine Liste von Fachausdrücken zusammengestellt, die in der andəmta-Literatur vorkommen. Diese führt in der Tat weiter, denn der besondere andəmta-Stil, der auch poetische Elemente enthalten kann, ist noch nicht näher untersucht worden. Drei Seiten umfasst eine Liste von archaischen amharischen Wörtern mit ihrer modernen Entsprechung, leider alles auf Amharisch und auch ohne Erörterung bei der betreffenden Textstelle; doch verdient diese Liste Beachtung. Die dritte Liste (681–722) ist ein nützliches Inventar von andəmta-Handschriften, die in Handschriftenkatalogen erfasst sind.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Verdienste der Arbeit darin bestehen, eine empfindliche Lücke in der Reihe der andəmta-Kommentare geschlossen zu haben. Die teilweise um­fangreichen Abweichungen in Handschriften werden minutiös verzeichnet. Für sprachkundige Äthiopisten kann die Ausgabe mit Gewinn herangezogen werden; alle anderen sollten sich nicht auf die englische Übersetzung verlassen, da in ihr nicht der authentische altäthiopische Text übersetzt wird. Einen großen Nutzen besitzt die Einleitung, die aber wegen nicht-umschriebener bzw. nicht-übersetzter Wörter und Sätze von Nicht-Äthiopisten nur teilweise erschlossen werden kann.