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Ausgabe:

März/2015

Spalte:

183–184

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Brumlik, Micha

Titel/Untertitel:

Messianisches Licht und Menschenwürde. Politische Theorie aus Quellen jüdischer Tradition

Verlag:

Baden-Baden: Nomos Verlag 2013. 286 S. = Studien zur Politischen Soziologie, 22. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-8487-0102-5.

Rezensent:

Helena Zawal

In seiner 2013 erschienenen Arbeit »Messianisches Licht und Menschenwürde – Politische Theorie aus Quellen jüdischer Tradition« entfaltet der emeritierte Erziehungswissenschaftler und Publizist Micha Brumlik ein Netz aus Politikwissenschaft, Philosophie und jüdischem Denken rund um Kernbegriffe der politischen Theorie. Diskutiert werden politische Konzepte von der Antike bis zur Gegenwart unter anderem in Verbindung mit rabbinischen und deutsch-jüdischen Perspektiven. Einzelne Essays betrachten hierbei unterschiedliche Aspekte des Politischen und formen in der Zusammenstellung ein umfassendes und anspruchsvolles philosophisches und gesellschaftspolitisches Lesebuch.
Judentum, Politik und Sexualität: B.s Themenwahl erscheint auf den ersten Blick unkonventionell. Im Rahmen dieser drei Themenkomplexe wird die politische Theorie von der Antike zur Postmoderne in einen neuen Kontext gesetzt. Zu Beginn der Arbeit untersucht B. im Themenfeld »Judentum« in acht Essays das deutsch-jüdische Denken des 19. und 20. Jh.s. Unter anderem am Beispiel von Adorno, Hannah Arendt und Walter Benjamin wird sowohl die Wechselwirkung mit dem jeweiligen zeitgenössischen Denken betrachtet als auch, inwiefern sich in ihrem Denken messianische Grundideen wiederfinden lassen. Besondere Aufmerksamkeit widmet er hierbei der Frage, welche Unterschiede hieraus und jeweils auf gesellschaftspolitische Idealvorstellungen entstehen konnten. Daran anschließend setzt sich der Abschnitt »Politik« in weiteren acht Essays mit dem Begriff der Menschenwürde auseinander. Ausgehend von den Erfahrungen der Shoa entwickelt B. einen geistesgeschichtlichen Werdegang der politischen (Post-) Moderne. Behandelt werden sowohl die theoretischen Grundlagen des Antisemitismus, Totalitarismus und Genoziden als auch die Konzepte des Neoleninismus, Konservativismus sowie der De-mokratie in ihrer jeweiligen zeitgenössischen Interpretation. Ab­schließend behandelt der Themenbereich »Sexualität« die Logik von Narrativen ausgehend von der sprachlichen Verwandtschaft des hebräischen Wortes »Geschichten« (toledot) und »Gebären« (laledet) ebenso wie die politisch aktuelle Debatte über die Idee einer »kindlichen Sexualität«.
Ein wesentliches Element bildet B.s Untersuchung zu einem rabbinischen Verständnis der Wahrheit in Verbindung mit dem Konzept der modernen demokratischen Konsensbildung. In beiden Fällen beschreibe »Wahrheit« einen pragmatischen und relativen Wahrheitsbegriff, welcher allein im Rahmen einer Interpretationsgemeinschaft Geltung finden könne. Eine im Judentum wurzelnde »Kommunikationstheorie theologischer und religiöser Wahrheit« finde sich in der Interpretationsbedürftigkeit der Tora selbst begründet. Die stets erneute Auslegung der vorherigen Interpretationen setzt diese Lesarten zueinander in Bezug. Die zentrale Referenz der Auslegung bliebe jedoch stets die Tora. Analogien sieht B. hierbei zu modernen demokratischen Rechtsstaaten. Wahrheit bedürfe hier der Auslegung und des Diskurses und gründe schließlich in ihrer eigenen Voraussetzung – der Verfassung. Dass es sich jedoch sowohl bei der Interpretationsgemeinschaft der rabbinischen Akademien als auch in der demokratischen Antike um Diskurse einer exklusiven Elite handelte, wirft die Frage auf, wie der Gedanke einer »Demokratie als Lebenskonzept« in concreto interpretiert werden möchte. Eine notwendige Bedingung für diese Überlegungen: der Prozess der Selbstreflexion des gesellschaftlichen Systems auf sich selbst und ein politisch-artistisches Ge­schick, liberale Freiheiten und Inklusion zu bewahren und zueinander in Bezug zu setzen. Einen hilfreichen Anfang schafft möglicherweise die diskursive Selbstreflexion im Hinblick auf Grundbegriffe der politischen Philosophie im Sinne von B.s Untersuchung eines »relational[en], aktivisch[en] und dialogi­sch[en]« Begriffs der Wahrheit.
B. greift für »Messianismus und Menschenwürde« seinen soziologischen Hintergrund auf, um theoretische Grundlagen der politischen Moderne zu diskutieren. Anschließend an seine vorherigen Publikationen setzt sich auch diese Arbeit mit dem deutschen Judentum auseinander. Darüber hinaus kann der vorliegende Band aber außerdem als ein Versuch verstanden werden, seinen derzeitigen gesellschaftspolitischen Fokus mit jüngeren philosophisch und erziehungswissenschaftlich orientierten Arbeiten in Bezug zu setzen.
Dies fällt nicht immer leicht. Eine eindeutige Verbindung von »politischer Theorie« und den »Grundlagen jüdischer Tradition« findet sich nur in wenigen der Essays. Politik- und/oder Rechtswissenschaft, Geschichtsphilosophie oder der Bezug zum Einfluss einer jüdischen Tradition dominieren die Essays meist ausschließlich und lassen nicht immer Raum für Verbindungen untereinander. Dies kann hinsichtlich des Titels zu Verwirrungen führen. Sowohl politische Theorien als auch politische Theorie in Verbindung mit jüdischen Traditionen finden sich in B.s Arbeit wieder; politische Theorie aus den Quellen jüdischer Tradition wird jedoch selbst nicht entwickelt. Zum Teil verhindern zudem leichtere orthographische Fehler ein flüssiges Lesen der Essays.
Trotz dieser kleineren formalen Hürden ist B.s Arbeit jedoch inhaltlich eine äußerst gelungene Zusammenstellung und Untersuchung unterschiedlicher Aspekte der Menschenwürde. Die Qualität liegt im Anspruch und der Genauigkeit der Recherche sowie den präzise durchdachten Argumentationen zu Kernelementen der politischen Theorie. B. wählt für »Messianismus und Menschenwürde« die Form des Essays. Hierdurch gewinnen die jeweiligen Beiträge an einer Ausschnitthaftigkeit, die der Komplexität des Themas gerecht werden kann, ohne gegenüber dem zu untersuchenden Themengebiet an Genauigkeit einzubüßen. Auffällig ist zudem die fehlende Bündelung der Inhalte zu einem konzeptionellen Ganzen. Die jeweiligen Untersuchungen verbleiben für sich, da ein einleitender sowie abschließender Kommentar ausgelassen wurde. Hierdurch verzichtet B. auf eine absolute Position und lässt Raum für einen weiterführenden Diskurs auf der Grundlage der einzelnen Beiträge. Verstehen wir den Diskurs als einen wesentlichen Aspekt der jüdischen Tradition(en), schafft B. durch die Ausschnitthaftigkeit und fehlende Kommentierung der Beiträge formal ebendiese Perspektive auf einflussreiche politikformende politische Theorien des 20. und 21. Jh.s. Verstanden in der Funktion eines Plädoyers für eine stets wiederkehrende Auseinandersetzung mit der Idee und Wirklichkeit des Begriffes der Menschenwürde bietet B.s Arbeit eine detaillierte und vielschichtige theoretische Basis, welche eine darüber hinausgehende Auseinandersetzung uneingeschränkt fördert und – ob der Ausschnitthaftigkeit der je­weiligen Essays – möglicherweise sogar gerade herausfordert.