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Ausgabe:

Januar/1999

Spalte:

66–68

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Zöller, Michael

Titel/Untertitel:

Gott weist seinem Volk seine Wege. Die theologische Konzeption des ’Liber Scivias’ der Hildegard von Bingen (1098-1179).

Verlag:

Tübingen: Francke 1997. XXII, 610 S. gr.8 = Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie, 11. Kart. DM 98,-. ISBN 3-7720-2579-X.

Rezensent:

Kurt Flasch

Die Tübinger katholisch-theologische Dissertation von Michael Zöller versucht eine Gesamtdeutung des Liber Scivias der Hildegard von Bingen. Der Autor insistiert auf der Metapher des Weges: Gott selbst weist durch den Mund seiner Prophetin - die als Frau, gemäß 1Tim 2,11 f. zu schweigen hätte - seinem Volk seinen Weg. Die drei Bücher des Werkes entsprächen den drei Personen der Trinität: Im ersten Buch weise Gott den Weg durch die Schöpfung des Vaters, im zweiten Buch durch die Sakramente des Sohnes in der Kirche, im dritten Buch durch die virtutes des Heiligen Geistes.

Das Buch hat drei methodische Besonderheiten: Es beschränkt sich - erstens - auf eine einzige Schrift Hildegards und kann daher jedem Einzelthema und dem Gesamtaufbau sorgfältig nachgehen. Es erklärt den Text nicht aus den späteren Texten Hildegards, sondern aus sich selbst und hebt auf dessen Einheitlichkeit ab. Das Werk habe "das Ganze des Glaubens zum Gegenstand. Dieses Anliegen verbindet das Werk mit der zeitgenössischen Summenliteratur. Dabei führt das Buch das Anliegen der großen Summen fast noch konsequenter durch" (565). Ohne die Differenz zur zeitgenössischen "Scholastik" zu vernachlässigen, betont der Autor Hildegards intellektuelles Niveau sowie die argumentative und thematische Einheit. Ihre Aussagen, Bilder und Erklärungen kommen detailliert zu Wort; globalisierende Redensarten werden vermieden. Der Vf. sucht den "Zugang über die Struktur der literarischen Gattung" (514 Anm. 2) und gewinnt dabei Anschluß an die literaturwissenschaftliche Forschung, vor allem an die von Christel Meier. Ergebnis: Am ehesten gehöre Scivias zur Literaturgattung der "allegorischen Visionsschrift" (568), aber sei auch "göttliche Glaubenskatechese".

Zweitens bringt diese Arbeit im Hauptteil zwei Durchgänge und verteilt sie auf Text und Anmerkungen. Der Text gibt eine möglichst genaue Paraphrase des jeweiligen Abschnittes der Schrift Hildegards; in den Anmerkungen setzt der Autor sich mit der Literatur auseinander, insbesonders mit den Versuchen seiner theologiegeschichtlichen Einordnung. Ein Schlußteil faßt die Resultate noch einmal zusammen. In inhaltsbezogener Zusammenstellung und besonnener Beurteilung der Hildegard-Literatur liegt ein besonderes Verdienst der Dissertation.

Drittens untersucht der Vf. die "Quellen", Anreger, zeitgenössischen Bezugspunkte der Schrift. Er hebt die überwiegende Präsenz der Bibel hervor, geht den patristischen Vorlagen (insbesondere Augustin, Benedikt, Gregor I.) nach und befaßt sich dabei vor allem mit der frühchristlichen Apokalyptenliteratur, insbesondere mit dem "Hirt des Hermas". Gegenüber der These vom Einfluß des Dionysius Areopagita und des Johannes Eriugena (Chr. Meier) verhält er sich vorsichtig zurückhaltend. Hildegard übe Kritik an der Theologie der Kathedralschulen (121-124; 548-550); zu zeitgenössischen Autoren bestünden Anklänge, insbesondere zu Rupert von Deutz, Hugo von St. Viktor, Honorius Augustodunensis und Bernhard von Clairvaux (569).

Die Arbeit ist fast frei von der grassierenden Hildegard-Rhetorik, sei sie mystischer oder ökologischer oder feministischer Art. Etwas großtönend-modernisierend spricht sie von Hildegards "Handlungstheorie" (206). Nur gegen Ende verfällt sie in den Ton des Anpreisens: "großartig angelegtes System" (567 Anm. 42), "kann der modernen Theologie die Richtung weisen" (573), doch bleiben dies folgenlose Schlenker. Der Vf. verläßt glücklicherweise erst zum Schluß die historische Einstellung. Dann aber faßt er in deutlich veränderter Tonart das Werk Hildegards dahin fromm zusammen: "Gott ist immer am Werk. Er braucht nur einen Menschen als Werkzeug. Dazu ruft er uns in die Nachfolge" (574). Wenn dies die Quintessenz wäre, müßte man fragen, wozu das Buch 600 Seiten stark ist, ferner, ob denn jede Glaubensverkündigung schon "Theologie" heißen kann und welcher Begriff von Wissenschaft vorausgesetzt wird.

Das Buch ist im wesentlichen eine kommentierte Paraphrase des Liber Scivias; es muß nach der Verläßlichkeit seiner Textbeschreibung beurteilt werden. Dabei fällt auf: Der Vf. bestimmt die Position des Textes Hildegards zum katholisch-dogmatischen System (des 13. Jh.s) sorgfältig, schwächt aber mehrfach das historisch Charakteristische der Aussagen Hildegard ab oder gibt sie tonlos wieder, als verstünden sie sich von selbst. Er registriert die Theorie der Erlösung als Übertölpelung des Teufels durch die Menschwerdung, aber übergeht den göttlichen Respekt vor den wohlerworbenen Teufelsrechten; hier wären endlich die Forschungen von Joseph Turmel heranzuziehen.

Auch die Äußerungen Hildegards zu den Juden werden unterbelichtet. Der Vf. attetiert Hildegard, es gelinge ihr, "die Synagoge heilsgeschichtlich einzuordnen" (212). So kann man es auch ausdrücken, daß die Synagoge sich zur Kirche verhält wie der servus zum dominus (I 5, 8, 184, 99), daß die gegenwärtigen Juden in der Hand des Teufels sind und das ewige Feuer zu erwarten haben: cum synagoga a Deo deserta in vitiis iaceat, I 5,3, 66f. - das ist die Sprache Hildegards, und das findet sich dann auch in der Anmerkung 358, S. 214. Später erst erfährt der Leser, daß Hildegard behauptet, der Antichrist werde die Gebräuche der Juden lehren (500, vgl. auch 554, Anm. 54). Es steht bei Z. alles irgendwo, aber der Tenor der Auslegung bleibt glättend.

Verharmlost wird das spannungsreiche, neoplatonisierende Leib-Seele-Verhältnis; abgeschwächt wird das Verhältnis von Mann und Frau im Sinne einer Gegenseitigkeit, von der in Hildegards Text keine Rede sein kann (193-194) steht doch bei Hildegard klar: ipsa est sub potestate viri ut servus sub domino suo (II 3, 449-450, p. 147). Auch die Sexualethik des Liber Scivias wird freundlich-abmildernd verzeichnet: Einerseits wird behauptet, das Buch zeichne "ein positives Bild von der menschlichen Geschlechtlichkeit" (192, Anm. 210), aber gemeint ist die "Geschlechtlichkeit als solche", nicht die faktische, sinnliche, heutige. Zuvor hieß es noch, der Teufel begründe durch sie seine Macht über den Menschen. Ich muß genauer sein. Z. schreibt: "Der Teufel versucht durch sie seine Macht über den Menschen zu begründen und zu festigen" (183). Bei Hildegard spricht der Vater der Lüge weniger zweideutig als sein Interpret und behauptet:

Mea fortitudo in conceptu hominum est, I 2, 15, 417, 24. Da ist also nicht nur davon die Rede, daß der Teufel seine Macht durch die Sexualität zu begründen versucht. Hildegards Gott sagt selbst über die freilich von ihn einst gut erschaffene Sexualität: diabolus in hoc opere semper persequitur vos (I 2, 22, 574, 29). Dies paßt nicht in heutige Verwertungsabsichten und wird knapp im Kleindruck abgehandelt. Doch bei der Gewissenhaftigkeit, mit der Z. referiert, ist der Widerspruch nicht ganz vermeidbar, so wenn er zusammenfaßt: "Ihre gottgefällige Vollendung findet sie (die Geschlechtlichkeit) in der Keuschheit der Jungfräulichen" (183). Das ist hochstilisiert ausgedrückt, entspräche aber dem Einfall eines Musikkritikers, der von der Uraufführung einer Oper verlauten ließe, sie habe ihre kritikergefällige Vollendung allein in der Pause gefunden. In klarer Sprache hieße das doch, sie sei nichts wert.

Das Buch ist - abgesehen von kleineren Verbrämungsversuchen- ein zuverlässiger Weg zum Liber Scivias; es hätte nicht ganz so dick ausfallen müssen - dazu noch fehlen Register. Auffällig ist die Abwesenheit der nicht-katholischen dogmenhistorischen Forschung; nachteilig wirkt die Nichtbeachtung des Hildegard- und des Honorius-Kapitels in der Geschichte der deutschen Philosophie des Mittelalters von Loris Sturlese. Doch unterscheidet sich dies Buch durch Konzentration, Umsicht und Gelehrsamkeit wohltuend von der Masse der Hildegard-Literatur, die für aufmerksame Leser das Gedenkjahr (1098-1998) zu einer Erprobung ihrer christlichen Geduld macht.