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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

148–154

Kategorie:

Literatur- und Forschungsberichte

Autor/Hrsg.:

Johannes Wallmann

Titel/Untertitel:

Das »Büro Pfarrer Grüber«

»In der jüdischen Tradition hat das Gedenken an die im Holocaust getöteten Christen jüdischer Herkunft schon lange einen festen Platz. In den christlichen Kirchen dagegen wurden ihre Schicksale bisher kaum wahrgenommen.« Diese Worte von Bischof und Kirchenpräsident der evangelischen Kirchen Hessens im Vorwort zum Band »Getauft, ausgestoßen – und vergessen? Zum Umgang der evangelischen Kirchen in Hessen mit den Christen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus« (Hanau 2013) geben wohl die Erklärung, warum die Geschichte des »Büro Pfarrer Grüber« bisher in der evangelischen Theologie und Kirche wenig beachtet wurde. Im »Büro Pfarrer Grüber« (im Folgenden »Büro« genannt) arbeiteten fast ausschließlich Christen jüdischer Herkunft. Sie ermöglichten mehreren tausend evangelischen Christen jüdischer Herkunft von 1938 bis 1940 die Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Die Mehrzahl der Mitarbeiter des Büros selbst wurde später wie Tausende anderer Christen jüdischer Herkunft Opfer des Holocaust.

In den in vielen deutschen Landeskirchen gebildeten Kreisen für das christlich-jüdische Gespräch bekennt man sich zur Schuld der Kirche gegenüber den Juden und bekräftigt die Absage an jede Form der Judenmission. Aber von der in der Nachkriegszeit lebendigen Erwartung, das Schicksal der Christen jüdischer Herkunft in der Zeit des Nationalsozialismus könne zum Ausgangspunkt der Begegnung zwischen Christen und Juden werden (147), ist nach mehr als einem halben Jahrhundert nichts mehr geblieben. Erst seit einigen Jahren findet eine Neubesinnung statt. Eine ganze Reihe von Kirchen sind dem Beispiel der hessischen Kirchen gefolgt oder werden ihm folgen. Hartmut Ludwigs Geschichte des »Büro Pfarrer Grüber«* ist eine Pilotstudie für das Projekt der jetzt in Gang gekommenen Erinnerung an die Christen jüdischer Herkunft. Aus diesem Grund hat sich der Rezensent bemüht, trotz ihres schon etwas zurückliegenden Erscheinungstermins noch eine Besprechung dieser wichtigen Studie vorzulegen.

Für die Entstehung und Geschichte des Büros, der Hilfsstelle der evangelischen Kirche für die Christen jüdischer Herkunft im Dritten Reich, hat man sich bisher an Heinrich Grübers »Erinnerungen aus sieben Jahrzehnten« (1968) gehalten, in denen über »Das Büro Grüber 1936–1940« gehandelt wird (103–145). L. hat in seiner Habilitationsschrift »Die Opfer unter dem Rad verbinden. Vor- und Entstehungsgeschichte, Arbeiter und Mitarbeiter des ›Büros Pfarrer Grüber‹« (Berlin 1988) eine auf die Quellen zurückgehende erste historische Untersuchung vorgenommen. Da Grübers Darstellung sehr von der persönlichen, die eigene Rolle in den Vorder grund rückenden Erinnerung geformt und ohne Kenntnis der Akten allein aus der persönlichen Erinnerung geschrieben ist, gibt L. Belege aus Grübers »Erinnerungen« nur an wenigen Stellen an. Er stützt sich durchweg auf Quellen, die er einer großen Zahl deutscher und ausländischer Archive entnimmt, vor allem auf Briefzeugnisse, die er durch Korrespondenz mit den Nachkommen der Mitarbeiter Grübers erhalten hat. Für die von der Ev. Hilfsstelle für Rasseverfolgte, in der Grüber nach dem Krieg sein Büro mit den Hilfsstellen für katholische und für konfessionslose Rasseverfolgte zusammenlegte, herausgegebene Veröffentlichung hat L. seine bisher unveröffentlichte Habilitationsschrift zum Druck gegeben, einerseits stark gekürzt, andererseits durch inzwischen erschienene Literatur oder ihm selbst bekannt gewordene weitere Quellenzeugnisse ergänzt, die in den Anmerkungen mit genauer Angabe der Literatur- oder Archivquelle belegt werden. Die Fülle der An­merkungen macht die gedrängte Darstellung nicht so glatt und flüssig lesbar wie Grübers »Erinnerungen«, gibt ihr aber einen ho­hen Grad von Zuverlässigkeit. Zahlreiche Abbildungen von Personen, Häusern und Dokumenten tragen zur Anschaulichkeit bei.

L. nimmt die Geschichte des »Büro Pfarrer Grüber« aus dem Rahmen der Biographie Heinrich Grübers heraus und stellt sie in den Rahmen der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Diese ist nach L. zeitlich in vier Phasen zu unterteilen (20). Diese Unterteilung erlaubt es, vom Versagen und von der Schuld, die die evangelische Kirche im Dritten Reich auf sich geladen hat, konkret zu reden, und nicht, wie es heute gewöhnlich geschieht, unbestimmt die Schuld von den verantwortlich Handelnden auf die zweitausendjährige Geschichte der christlichen Judenfeindschaft oder, wie es angesichts des bevorstehenden Reformationsjubiläums zuweilen geschieht, auf die angebliche Prägung der evangelischen Chris­tenheit durch Martin Luthers antijüdische Spätschriften abzuschieben.

Die erste Phase, die von 1933 bis 1935 reicht, nennt L. die Zeit der Entrechtung der Juden und der aus rassischen Gründen als Juden angesehenen »Nichtarier«. Sie beginnt mit dem Judenboykott vom 1. April 1933 und der Ausstoßung der Juden aus allen bürgerlichen Berufen durch das »Gesetz zur Wiederherstellung des nationalen Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933. Für die Christen jüdischer Herkunft kommt hinzu der in vielen Kirchen eingeführte Arierparagraph. In dieser ersten Phase ist das Schicksal der Christen jüdischer Herkunft beklagenswerter als das der Glaubensjuden. Denn diese hatten Rückhalt an ihren Organisationen und konnten weiterhin den Gottesdienst in den Synagogen besuchen. Die Christen jüdischer Herkunft fühlten sich von der Kirche im Stich gelassen, und ihnen wurde häufig der Gottesdienstbesuch verwehrt.

Die zweite Phase (1935 bis Herbst 1938) führte zur Isolierung der Juden und Nichtarier durch die »Nürnberger Rassegesetze« vom 16. September 1935. Sie ist durch die während der Olympiade zeitweilig zurückgehende, nach dem Anschluss Österreichs stark an­schwellende Emigrationswelle gekennzeichnet. In dieser Phase mahnten Elisabeth Schmitz und Marga Meusel die Kirche vergeblich zu einem Eintreten für die Juden. In diese Phase fällt auch die Denkschrift der Bekennenden Kirche vom 1936, die einzige Denkschrift, in der die Kirche gegen die Verletzung der Menschenrechte und die Erziehung zum Antisemitismus durch den NS-Staat protestiert hat. Aber zu einer kirchlichen Betreuung der Christen jüdischer Herkunft, wie in der Schweiz und in Schweden, kam es in dieser Zeit nicht.

Die dritte Phase bezeichnet L. als die der Forcierten Vertreibung. Diese Phase beginnt mit dem Judenpogrom vom November 1938, der »Reichskristallnacht«, und dauert bis in die Anfänge des Zweiten Weltkrieges 1941. Da die Konferenz von Evian 1938, statt die Emigration der in Deutschland verfolgten Juden zu fördern, durch Einreiseverweigerung der meisten Länder eine starke Behinderung der Ausreisebewegung brachte, forcierten die Nationalsozialisten, die Deutschland »judenfrei« machen wollten, die Vertreibung. Wer nach dem Judenpogrom vom November 1938 ins KZ kam, wurde entlassen, wenn er die Bewilligung seiner unmittelbar bevorstehenden Ausreise nachweisen konnte. Kurze Zeit nach dem Pogrom vom November 1938 und während des Jahrs 1939 glückte der Transport tausender jüdischer Kinder nach England und in andere Länder, woran heute Denkmäler in Berlin und an weiteren Orten erinnern; für den zweiten Transport verzeichnet L. übrigens 50 christliche Kinder. Die Phase der forcierten Vertreibung, in der wohl an die Auslöschung des Judentums in Deutschland, aber noch nicht an die physische Vernichtung der Juden gedacht wurde, reicht bis in die Anfänge des Zweiten Weltkriegs. Bis Anfang 1941 konnten unter erschwerten Bedingungen Rasseverfolgte noch auswandern.

Die vierte Phase beginnt mit der Wannseekonferenz vom Januar 1942 und umfasst den ganzen Zweiten Weltkrieg. Nach L. vollzieht sich hier der entscheidende Wechsel in der Strategie der na-tionalsozialistischen Rassenpolitik. Es gibt keine Auswanderung mehr, und an die Stelle der Vertreibung tritt das Programm der planmäßigen Ausrottung und Vernichtung des Judentums.

Vor dem Hintergrund dieser vier Phasen ist das Büro eindeutig und allein der dritten Phase zuzuordnen. Die ersten beiden Phasen gehören zur Vorgeschichte, die von L. summarisch mitbehandelt wird. In die vierte Phase fällt Grübers Entlassung aus dem Konzentrationslager, die nur in seine Biographie gehört. Über die Zeit des Krieges erfährt man nur, dass der Oberregierungsrat Franz Kaufmann zusammen mit seinen Freunden bis zu seiner Verhaftung im August 1942, der die Ermordung im KZ Sachsenhausen folgte, ein umfangreiches Netzwerk zur illegalen Hilfe für Juden aufbaute. Nach L. hat er die Arbeit des Büros mit neuen Mitteln fortgesetzt. Dass Wilhelm Jannasch, wie Eberhard Bethge sich erinnert, nach Schließung des »Büro Pfarrer Grüber« das Goßnersche Missionshaus Berlin-Friedenau zu einem Versammlungsort der Christen jüdischer Herkunft machte und von hier aus Eberhard Bethges Nachfolger Horst Symanowski illegal für Verstecke der Verfolgten in ostpreußischen Pfarrhäusern sorgte, wird von L. nicht mehr behandelt. Ähnlich wie diese Aktivität wird man die neuerdings stark beachteten verschiedenen Pfarrhausketten, die baden-württembergische Pfarrhauskette und das Bockenheimer Netzwerk in Hessen, die ebenfalls für Verstecke von Juden und Christen jüdischer Herkunft sorgten oder ihnen mit gefälschten Papieren die Flucht ins Ausland ermöglichten, nur im weiteren Sinn zur Ge­schichte des »Büro Pfarrer Grüber« zählen können.

In den ersten beiden Phasen ist es nicht Grüber, sondern es sind andere, die sich in der Kirche für die rassisch Verfolgten einsetzen. L. berichtet hiervon nur summarisch. Der Erste ist Freiherr Wilhelm von Pechmann, ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Evangelischen Kirchentags, dessen Antrag vom 25. April 1933 im Deutschen Evangelischen Kirchenausschuss, die evangelische Kirche solle ein Wort zu der Lage der Christen jüdischer Herkunft, aber auch der Juden sagen, durch den mecklenburgischen Bischof Rendtorff vereitelt wird – der schwarze Tag in der Geschichte der evangelischen Kirche, wenn sie ihres Versagens und ihrer Schuld gegenüber den Juden am Beginn des Dritten Reiches gedenkt. Es sind in der ersten Phase nur wenige Einzelne gewesen, neben Dietrich Bonhoeffer ein Friedrich Siegmund-Schultze, eine Elisabeth Schmitz, eine Marga Meusel und der Heidelberger Pfarrer Hermann Maas, die die Kirche, leider vergeblich, an ihr notwendiges Eintreten für die wegen ihrer Rasse Verfolgten gemahnt haben. Die Bekennende Kirche hat gegen die Übernahme des Arierparagraphen gestritten, aber die aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossenen Christen jüdischer Herkunft ihrem eigenen Schicksal überlassen. Auf eigene Initiative haben diese im Sommer 1933 den »Reichsverband christlich-deutscher Staatsbürger nichtarischer oder nicht rein arischer Abstammung« gegründet, der seinen Namen 1934 in Paulus-Bund geändert hat. Der Literaturwissenschaftler Heinrich Spiero, ein Christ jüdischer Herkunft, war sein Vorsitzender. Der Paulus-Bund ist in den ersten beiden Phasen der Judenverfolgung der Vorläufer des Büros. Er gab ein Mitteilungsblatt heraus und bemühte sich u. a. durch Fremdsprachenkurse um die Vorbereitung auf eine erfolgreiche Emigration. Als Bischof George Bell aus Chichester Anfang 1937 nach Berlin kam, um sich um die Ausreise von Juden zu bemühen, traf er im Hotel »Fürstenhof« nicht mit Heinrich Grüber, der zu dieser Zeit noch keinen kirchlichen Auftrag bekommen hatte, sondern mit Heinrich Spiero zusammen. Mehrere Mitarbeiter Spieros wurden später Mitarbeiter im Büro. So der als leitender Verwaltungsangestellter zwangspensionierte Dr. Richard Kobrak (1 890–1944), stellvertretender Vorsitzender des »Paulusbundes« 1936–1937, der nach dem im Februar befohlenen Ausschluss der Volljuden aus dem »Paulusbund« von 1939–1940 Mitarbeiter im »Büro Dr. Heinrich Spiero« war und von 1939–1940 Leiter der Wohlfahrtspflege im »Büro Pfarrer Grüber« wurde. Für die ersten beiden Phasen der nationalsozialistischen Rassenverfolgung, in denen es noch keine kirchliche Reaktion gibt, zeichnet L. mit dem Paulusbund die Vorgeschichte des Büros. Es gab schon Hilfsstellen für die katholischen Christen jüdischer Herkunft und eine Hilfsstelle der Quäker für die nicht zur jüdischen Gemeinde gehörenden konfessionslosen Juden, ehe sich die evangelische Kirche zur Einrichtung einer Hilfsstelle entschloss.

Bei der Geschichte des »Büro Pfarrer Grüber« unterscheidet L. wiederum zwischen verschiedenen Phasen. Die erste ist die des Aufbaus der kirchlichen Hilfsstelle 1938. Nach Erhalt seines Auftrages stürzte sich Grüber in die neue Aufgabe und sorgte über die Bekennende Kirche in allen deutschen Landeskirchen für Vertrauensleute und Betreuungsstellen. Eine Abbildung der Liste von Vertrauensstellen des Büro Grüber im Reich (46) zeigt Namen und Adressen von über zwanzig Vertrauensleuten. Die Hilfsstelle beginnt im Dezember 1938 mit der Anmietung von Räumen in der Oranienburger Straße 20, wo heute eine Gedenktafel an die Familienschule, den einen Schwerpunkt der Arbeit des Büros, erinnert. In der Familienschule wurden die aus den staatlichen Schulen vertriebenen christlichen Kinder jüdischer Herkunft, auch katholische Kinder, unterrichtet, bis die Schule geschlossen wurde und die Kinder auf eine jüdische Schule gehen mussten.

Die zweite Phase ist die der Konsolidierung und Erweiterung. Das »Büro Pfarrer Grüber« bekam 1939 neben den Räumen in der Oranienburger Straße in der nahe dem Schloss gelegenen Stechbahn im Hause einer früheren jüdischen Bank umfangreiche Räumlichkeiten, in denen es sich auf seine Hauptarbeit, die Betreuung der um Ausreise aus Deutschland bemühten Christen jüdischer Herkunft, konzentrieren konnte. Deren Betreuung war nicht illegal, sondern geschah mit Wissen und in Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen. Die dem Innenministerium zugehörige »Reichsstelle für das Auswanderungswesen« arbeitete mit Grüber sehr freundlich zu­sammen, denn gemeinsam war ihnen das Ziel der Auswanderung möglichst vieler Rasseverfolgter. Grüber bekam eine Bescheinigung, um mit ausländischen Stellen über die Aufnahme und Un­terbringung christlicher Nichtarier zu verhandeln, und durfte nach Amsterdam und London fliegen. Das Reichssicherheitshauptamt und die Gestapo, mit denen Grüber ab 1939 verhandeln musste, waren sehr viel unangenehmere Partner. Die staatlichen Stellen verhandelten jedoch mit dem Büro nicht als einer Institution der Kirche, sondern nur mit einer Stelle, für die der mit energischer Furchtlosigkeit auftretende Kaulsdorfer Pfarrer Grüber seinen Namen hergab. Heinrich Grüber verhandelte im Reichssicherheitshauptamt selbst mit Adolf Eichmann, der sich wunderte, wie ein Christ sich für Juden einsetzen konnte. Während Grüber Wert darauf legte, dass er sich um nichtarische evangelische Christen kümmere, wurde dieser Sprachgebrauch von den Nationalsozialisten, die nur von Juden sprachen, nicht akzeptiert. In dem Jahr 1939 müssen im Büro hunderte von Ausreiseanträgen bearbeitet worden sein. Da Grüber wegen seiner Pfarrstelle in Kaulsdorf häufig abwesend war, wurde ab November 1939 die Hauptarbeit von Werner Sylten, seinem ständigen Stellvertreter und engsten Mitarbeiter, geleistet.

Die dritte Phase ist die der Einschränkung und Schließung des Büros 1940/41. Die am Anfang noch freundliche, am gemeinsamen Ziel der Auswanderung orientierte Zusammenarbeit des Büros mit den staatlichen Stellen stieß ab 1939 auf wachsende Schwierigkeiten und Behinderung. Die Betreuung der evangelischen Christen jüdischer Herkunft wurde zusammen mit dem St. Raphaels-Verein integriert in die »Reichsvereinigung der Juden in Deutschland«, in der 1939 durch Gesetz die Juden mit allen durch die Nürnberger Gesetze betroffenen Nichtariern zusammengeschlossen wurden. Nur mit Mühe gelang es Grüber, eine Sonderstellung der christlichen Hilfsstellen zu erreichen. Im März 1939 lud Grüber die Vertrauensleute nach Berlin ein, um sie über die nicht von ihm gewünschte Neuorganisation zu informieren. So verlor das Büro, das zu Kriegsbeginn in Berlin 30 Mitarbeiter und im Reich noch 22 Beratungsstellen hatte, seine Selbständigkeit und wurde eine Einrichtung in der »Reichsvereinigung der Juden in Deutschland«, die nominell in dem Rabbiner Leo Baeck ihren Vorstand hatte, praktisch aber ein verlängerter Arm des Reichssicherheitshauptamtes war. Die Ausreise aus Deutschland wurde nach Kriegsbeginn im­mer schwieriger; sie war nicht mehr in europäische Länder, nur noch nach Südamerika und Shanghai möglich. Mit einer Sondergenehmigung Eichmanns, der einzig an der Erhöhung der Zahl von Ausreisenden interessiert war, konnte Grüber im März 1940 noch einmal nach Genf fahren und sich um die Hilfe ökumenischer Stellen für Ausreisewillige zu bemühen. Gegen die ersten ihm bekannt gewordenen Deportationen von Juden aus Stettin protestierte Grüber im Februar 1940. Als er sich um die ins Lager Gurs in Südfrankreich Deportierten kümmern wollte, kam es im Dezember 1940 zur Schließung des »Büros«. Grüber wurde verhaftet und ins KZ Sachsenhausen, später ins KZ Dachau verbracht. Werner Sylten konnte kurze Zeit Grübers Nachfolger werden und musste als Liquidator das Büro Grüber vollständig in die »Reichsvereinigung der Juden« überführen. Er wurde im Februar 1941 verhaftet, ins KZ Dachau gebracht und später ermordet. Während die »Reichsvereinigung der Juden« noch bis 1943 existierte, bestand das »Büro Pfarrer Grüber« nur bis zum Februar 1941, also in der vierten Phase nicht mehr.

Überblickt man L.s Geschichte des Büros, so gibt es eine nicht unwesentliche Differenz zu den »Erinnerungen« Grübers. Sie betrifft die Gründung des »Büro Pfarrer Grüber«. Die Anfänge der Hilfsstelle datiert Grüber zwei Jahre früher in die zweite Phase und sieht in ihr eine Auswirkung der Nürnberger Rassegesetze. Als nebenamtlicher Pfarrer der holländischen Gemeinde seit 1934 sei er schon früh gebeten worden, Auswanderungswilligen zu helfen, und es sei ihm klar geworden, dass die Auswanderung der Verfolgten durch eine kirchliche Organisation unterstützt werden müsse. Im Spätsommer 1936 habe er deshalb eine Versammlung von sechs Theologen der Bekennenden Kirche einberufen. Grüber gibt als Ort der Zusammenkunft das Gemeindehaus der Martin-Luther-Kirche in Berlin-Lichterfelde an und nennt die Namen der Versammelten: Superintendent Albertz, Superintendent Diestel, Pfarrer Maas aus Heidelberg, Pastor Braune aus Lobetal und Assessor D. Perels. Er selbst, Grüber, habe vorgeschlagen, eine Hilfsstelle der evange-lischen Kirche zu gründen. Sein Vorschlag habe allgemeine Billigung gefunden. Als Leiter habe er Pfarrer Maas aus Heidelberg vorgeschlagen. Maas wollte aber seine Arbeit in Heidelberg nicht aufgeben. Trotz eifrigen Suchens habe man keinen geeigneten Mann gefunden, so dass die Leitung schließlich in Grübers Hände gefallen sei. Er habe sie im Herbst 1936 in der Oranienburger Straße aufgenommen. Grübers Erinnerungen wird bis heute gefolgt. In Berlin-Lichterfelde hängt in der Hortensienstraße 18 eine Gedenktafel: In diesem Haus gründete Pfarrer Heinrich Grüber (1891–1975) im Jahre 1936 die Hilfsstelle für evangelische Rasseverfolgte »Büro Grüber« genannt.

L. kann Grübers Darstellung nicht bestätigen. Die Quellen sprechen für die Jahre 1936 und 1937 nirgendwo von der Hilfsstelle, sondern widersprechen sogar einer Einrichtung im Jahr 1936. L. setzt sich mit Grübers Darstellung nicht auseinander, sondern ignoriert sie einfach. Nach L. war Hermann Maas, der schon im August 1935 bei der Tagung des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen in Chamby-sur-Montreux auf die notwendige Unterstützung für die deutschen Nichtarier aufmerksam gemacht hatte, derjenige, der eine solche Hilfsstelle vorschlug.

Ende Mai 1938 sei Hermann Maas nach Berlin gefahren, um die Leitung der Bekennenden Kirche zu bewegen, sich endlich aktiver um die Christen jüdischer Herkunft zu kümmern. Maas habe mit Albertz, dem reformierten Mitglied der vorläufigen Leitung der Bekennenden Kirche, die überfällige Einrichtung einer Hilfsstelle besprochen. Albertz habe Maas zugestimmt und sich bereit erklärt, die Fäden in der Hand zu behalten. Da er jedoch selber überlastet sei und Maas nicht für längere Zeit nach Berlin kommen konnte, habe man den politisch unbelasteten Berliner Pfarrer Grüber aus Berlin-Kaulsdorf zur rechten Hand von Albertz erhoben. Dies kann L. in allen Einzelheiten durch Briefstellen belegen. Wilhelm Jannasch ist vermutlich auch beteiligt gewesen. Eine briefliche Bemerkung von Maas, sein Besuch habe dazu geführt, dass sich die Bekennende Kirche endlich der rassisch Verfolgten annehmen wolle, widerlegt geradezu Grübers Datierung. Auch dass Bischof Bell bei seinem Besuch im Januar 1937 mit Heinrich Spiero und nicht mit Grüber zusammentraf, ist zu bedenken. In der Erinnerung Grübers werden wohl die entscheidenden Personen genannt, aber in eine falsche Zeit gesetzt und die eigene Rolle wird in den Vordergrund gerückt. Genaue zeitliche Angaben über die Beauftragung Grübers durch die Kirchenleitung der Bekennenden Kirche fehlen. Es muss die Mitte des Jahres 1938 angenommen werden. Bleibt das Datum der Gründung des »Büro Pfarrer Grüber« – in der Literatur wird zuweilen 1937 angegeben – im Dunkeln, so ist der Ort des Geschehens nach L.s Angaben klar: »Das spätere ›Büro Pfarrer Grüber‹ entstand im Pfarrhaus in Berlin-Kaulsdorf« (28). Inge Jacobson, seine spätere Sekretärin an der Stechbahn, half ihm hier bereits im Gästezimmer des Pfarrhauses. Allein wegen dieser Klarstellung ist der vorliegende Band wichtig.

Die in Teil I (1–86) dargestellte Geschichte des »Büro Pfarrer Grüber« wird ergänzt durch einige von dem herausgebenden Verein für Rasseverfolgte veranlasste Zufügungen. Sie lösen die Geschlossenheit von L.s Darstellung auf und machen den Band zu einem komplizierten Mixtum compositum. Teil II »Zum Gedenken an die er­mordeten Mitarbeiter des ›Büros Pfarrer Grüber‹ und der Familienschule« (87–139) erfüllt die heute von den Kirchen geforderte Aufgabe des Gedenkens an die im Holocaust getöteten Christen jüdischer Herkunft. Hier findet man 14 Lebensläufe von Christen allesamt jüdischer Herkunft, die in Berlin am Büro Grüber mitgearbeitet haben. Sie stammen aus den verschiedensten Berufen, sind überwiegend Akademiker. Die von L. und einigen Mitarbeitern durch gründliches briefliches Forschen bei Verwandten zusammengestellten Lebensläufe geben einen erschütternden Eindruck von dem Leben dieser Christen im Dritten Reich. Manche von ihnen haben sich vergeblich um die Ausreise bemüht, andere weigerten sich auszureisen. Der aus Breslau stammende Richard Kobrak und seine Ehefrau Charlotte geb. Stern – eine Schwester von Rudolf Stern, Vater des bekannten Historikers Fritz Stern – hatten von den Verwandten bereits das Affidavit zur Ausreise nach den USA, jedoch nicht vollständig die Passagekosten erhalten, erhielten den erforderlichen Zuschuss durch Genf erst, als die Emigration bereits verboten war. Im Oktober 1944 wurden beide nach Auschwitz deportiert.

Genau angegeben sind die Berliner Häuser, in denen die aus ganz Deutschland stammenden Mitarbeiter des »Büro Pfarrer Grüber« zuletzt gewohnt hatten. Es sind gewissermaßen literarisch erweiterte Stolpersteine. Doch werden in Spannung zu der zuvor dargestellten Geschichte des »Büro Pfarrer Grüber« Mitarbeiter, die emigriert sind, die wegen privilegierter Mischehe überleben konnten wie Heinrich Spiero, oder wie der an der Familienschule, nach dem Krieg an der Kirchlichen Hochschule in Berlin-Zehlendorf lehrende Erwin Reisner nicht jüdischer Herkunft waren, nicht genannt. Es folgt ein Teil III (140–160), der der »Evangelischen Hilfsstelle für ehemals Rasseverfolgte seit 1945« gewidmet ist, den wiederum L. geschrieben hat. Den von L. geschriebenen Teilen folgt ein umfangreiches Nachwort von Walter Sylten (160–180), Sohn des ermordeten Werner Sylten. Der langjährige Vorsitzende der Hilfsstelle in der Nachkriegszeit fügt aus seiner Erinnerung Einzelheiten aus der Arbeit im gespaltenen Berlin bei. In einem Verzeichnis werden 33 Vorstandsmitglieder der Evangelischen Hilfsstelle seit 1950 genannt und mit ihrer Tätigkeit vorgestellt (181–184). Das ausführliche Verzeichnis der Quellen und Literatur gibt die Archive und Veröffentlichungen an, woraus L. geschöpft hat (184–189). Angesichts der unzähligen angeführten Personen bedauert man das Fehlen eines Personenregisters.

Die im Untertitel des Bandes angegebene Zusammenfügung der Ge­schichte des »Büro Pfarrer Grüber« mit der der »Ev. Hilfsstelle für Rasseverfolgte« verdeckt einen wesentlichen Unterschied zwischen beiden. Bei dem von 1938 bis 1940/41 existierenden »Büro Pfarrer Grüber« handelt es sich um eine Hilfsstelle für evangelische Rasseverfolgte. Grüber betonte wiederholt, dass es ihm allein um die Betreuung evangelischer Christen jüdischer Herkunft gehe. Um die katholischen Rasseverfolgten kümmerte sich der St. Raphael-Verein, mit dem er zusammenarbeitete. Bei der nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten Hilfsstelle ging es um die Unterstützung von Rasseverfolgten, die Christen waren, außer evangelischen auch ka­tholische. Grüber wollte, dass bei den durch die amerikanische Militärregierung in Absprache mit jüdischen Organisationen be­triebenen Wiedergutmachungszahlungen nicht nur jüdische, sondern auch diese Rasseverfolgte berücksichtigt werden. Er hielt den den nichtjüdischen Rasseverfolgten schließlich zugebilligten Anteil von 10 % der Zahlungen für zu gering und verlangte 30 %. Beim evangelischen Hilfswerk beklagte Grüber die mangelnde Bereitschaft, sich der Rasseverfolgten besonders anzunehmen. Die in Berlin eingerichtete Hilfsstelle für Rasseverfolgte, die heute unbeachtet am Rand der kirchlichen Diakonie steht, sorgt vor allem für die seelsorgerliche und soziale Betreuung der Rasseverfolgten, z. B. in Altersheimen.

Nachtrag: Nach Fertigstellung meiner Rezension habe ich mir anhand eines Exemplars der Habilitationsschrift von 1988 ein Bild machen wollen, wie weit die Neufassung von 2009 über die Arbeit von 1989 hinausführt. Dabei musste ich zu meiner Verwunderung feststellen, dass L. in die vorliegende Neufassung seiner Geschichte des »Büro Pfarrer Grüber« zwar eine Fülle neuer Erkenntnisse eingearbeitet hat, andererseits so starke Kürzungen vorgenommen hat, dass nur eine Epitome zum Druck kam. Gegenüber dem Gewinn neuer Erkenntnisse bedeutet die Kürzung eher einen Verlust. Die Solida Declaratio seiner Forschungen zur Vorgeschichte und Geschichte des »Büro Pfarrer Grüber« bleibt uns vorenthalten. Die Habilitationsschrift gibt ein sehr viel anschaulicheres Bild der Vorgeschichte – etwa der Bemühungen von Bischof Bell und seiner Schwägerin Laura von Livingstone – und der Geschichte des »Büro Pfarrer Grüber« – etwa eine ausführliche Schilderung der Auslandsreisen Grübers und der Zusammenarbeit mit den Vertrauensstellen im Reich. Wie man vom Autor hört, war es ihm wegen einiger anderer Projekte noch nicht möglich, eine geplante größere Neufassung seiner Habilitationsschrift fertigzustellen. Man kann nur wünschen, dass es L. gelingt, die zweite Fassung seiner Habilitationsschrift bald zum Druck zu bringen.

Fussnoten:

* Ludwig, Hartmut: An der Seite der Entrechteten und Schwachen. Zur Geschichte des »Büro Pfarrer Grüber« (1938 bis 1940) und der Ev. Hilfsstelle für ehemals Rasseverfolgte nach 1945. Hrsg. v. d. Ev. Hilfsstelle für ehemals Rasseverfolgte nach 1945. Erw. Aufl. Berlin: Logos Verlag 2009. 195 S. m. Abb. Kart. EUR 14,00. ISBN 978-3-8325-2126-4.