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Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

745–747

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Neubrand, Maria

Titel/Untertitel:

Abraham - Vater von Juden und Nichtjuden. Eine exegetische Studie zu Röm 4.

Verlag:

Würzburg: Echter 1997. XIII, 329 S. gr.8 = Forschung zur Bibel, 85. Kart. DM 48,-. ISBN 3-429-01978-8.

Rezensent:

Paul-Gerhard Klumbies

Die vorliegende katholische Dissertation geht von der Feststellung der Bedeutsamkeit Abrahams als Identitätsfigur des Judentums aus. Auf der Grundlage der fundamentalen Unterscheidung zwischen Juden und Nichtjuden, die die geläufige Differenzierung zwischen Juden und Christen ersetzt, fragt die Arbeit anhand von Röm 4 nach der Bedeutung Abrahams "auch für die nichtjüdische Jesusanhängerschaft" (1). Die "jüdische Jesusanhängerschaft" wird dieser Gruppe gegenüber vollständig dem Judentum zugerechnet (24). Abrahams Erwählung impliziert neben der Erwählung Israels von Anfang an auch die Ausrichtung auf den Segen der Völker. Seine Vaterschaft für Nichtjuden hebt die leibliche Vaterschaft Abrahams für Juden nicht auf, ergänzt sie vielmehr, so daß sich in Abraham eine zweifach begründete Erwählung ergibt (3-7). Das Argumentationsziel von Röm 4, "die Verankerung der dem Judentum gleichwertigen neuen ,Erwählung aus den Völkern’ in Abraham" (2), wird allerdings erst deutlich, "wenn gegen eine lange (vor allem reformatorisch geprägte) Auslegungstradition das Abraham-Kapitel nicht weiter nur als Schriftbeweis für die Gerechtigkeit aus Glauben (gegen eine angeblich jüdische Werk-gerechtigkeit) gesehen wird" (19).

Fünf Punkte sind laut N. für die paulinische Evangeliumsverkündigung im Römerbrief konstitutiv: 1. Die bleibende Differenz von Juden und Nichtjuden; 2. die beschneidungsfreie Heidenmission und die Evangeliumsverkündigung unter Nichtjuden als besondere Aufgabe des "Apostels der Nichtjuden"; 3. die Aufnahme des "von der Hebräischen Bibel vorgegebenen Horizont(s) ,Israel und die Völker’"; 4. die Begründung der neuen und gleichwertigen Erwählung aus den Völkern durch Tod und Auferstehung Jesu Christi; 5. die Vorstellung des Glaubens als eines gemeinsamen Einheitsbands bei bleibender Differenz von Juden und Nichtjuden (97).

Für Paulus ist der Inhalt des Evangeliums "in der Hebräischen Bibel grundgelegt" und besteht darin, "daß die Gerechtigkeit Gottes und sein Heil nicht nur Israel, sondern auch den Völkern zuteil werden" (102). N. zieht daraus den Schluß, daß "Paulus unmöglich davon ausgehen konnte, daß es ,Gerechtigkeit’ oder die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes grundsätzlich erst seit Jesus Christus gibt. Vielmehr kann er mit der Hebräischen Bibel voraussetzen, daß die Gerechtigkeit und das Heil Gottes Israel so gelten, daß daran auch die Völker partizipieren" (106). Zur Legitimation des nichtjüdischen Sonderweges bezieht sich Paulus auf Tod und Auferstehung Jesu Christi. Allerdings bleibt diese christologische Fundierung seiner Verkündigung nach N. im Blick auf die Vorgaben der Hebräischen Bibel theologisch folgenlos. Paulus bindet "die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes im Evangelium zurück an Gottes Heilshandeln an Israel, dessen nun durch Jesus Christus auch die Völker teilhaftig werden" (109).

Der Christologie kommt damit lediglich akzidentielle Bedeutung zu, ein Ansatz, der N.s Bestimmung des paulinischen Evangeliums unter Ausblendung der Christologie erklärlich macht. Folgerichtig wird auch Glaube unabhängig von der Christologie definiert: "Jeder Mensch, ob Jude oder Nichtjude, (wird) im Glauben gerechtfertigt ... - unabhängig davon, ob er den Weg des Judentums oder den Weg der Völker geht" (138/139). Während jüdische Identität jedoch bleibend an Beschneidung und Gesetz gebunden ist (233), müssen Nichtjuden nicht "in den Bund Gottes mit Israel eintreten, d. h. Juden werden, um gerechtfertigt zu werden" (229). Die nichtjüdische Jesusanhängerschaft gehört auch zum ÛÚÌ A,ÚÌ, ohne daß sie auf Beschneidung und Gesetz verpflichtet wird (218.292). Den Grund dafür sieht N. in "der Sündenvergebung durch den Sühnetod Jesu Christi" (223).

Paulus macht Abraham zur Identitätsfigur auch der glaubenden Nichtjuden (240.264. 269.291). Damit stärkt er zum einen die "Identität der nichtjüdischen Jesusanhängerschaft in Rom" (292), zum anderen zielt er auf die gegenseitige "Anerkennung der je unterschiedlichen Erwählung von Juden und Nichtjuden in Abraham" (292/293). Im Ergebnis resultieren daraus zwei Wege, die nebeneinander herlaufen, mit der Gemeinsamkeit, daß sie sich beide auf Abraham beziehen können (290).

N. nimmt ihre Bestimmung der paulinischen Position programmatisch aus der Perspektive und im Horizont der Hebräischen Bibel vor. Dementsprechend gibt es keine Reibungsflächen zwischen alttestamentlich-jüdischem Abrahamverständnis und der paulinischen "relecture" der Abrahamgeschichte. Zugleich gewinnt die Vfn. damit ein Kriterium, um antijudaistische Tendenzen in der Forschung aufzudecken. Antijudaismus liegt überall dort vor, "wo - gegen die Aussagen der hebräischen Bibel - ,Gerechtigkeit aus Glauben’ nur für die Jesusanhängerschaft ... reserviert bleibt" (14). Das paulinische Anliegen wird von der Zielgruppe der "Nichtjuden" her bestimmt. Aus dem Apostel Jesu Christi wird bei N. der "Apostel der Nichtjuden", der Christusbezug eine Missionsstrategie im Blick auf "Nichtjuden". Die theologische Tradition Israels ist bei Paulus extra controversiam gestellt.

Das Antijudaismus-Verdikt als heuristisches Prinzip, von N. bei der Darstellung der Forschungspositionen (7-17.32-79) zur Geltung gebracht, birgt das Risiko der neuerlichen Fixierung Israels auf ein Bild in sich. Auch ist angesichts des Anspruchs der Vfn., "Antijudaismus" exegetisch auszuschließen, zu fragen, ob die Selbstaneignung der identitätsstiftenden Abrahamfigur durch Paulus sich mit dieser Programmatik verträgt. Die Wirkungsgeschichte der paulinischen Mission spricht gegen das von N. aus Röm 4 erhobene Modell einer harmonischen Koexistenz zwischen dem Judentum und zwei "Jesusanhängerschaften" als Weiterführung einer mit der Erwählung Abrahams vorgezeichneten Linie. Die Etablierung paulinischer Gemeinden vollzog sich in Auseinandersetzung mit judenchristlichen bzw. jüdischen Positionen auch als Ablösungsprozeß vom Judentum. Die Konflikte zwischen judenchristlichen Autoritäten bzw. Juden und Paulus beruhten dabei kaum auf einem Mißverständnis seiner Position.

Die Möglichkeit, daß Paulus sich mit der Tradition, der er entstammt, in einen kritischen Dialog begibt, methodisch a priori auszuschließen, verengt im Ansatz die sachgerechte Diskussion über die paulinische Verhältnisbestimmung von Christusglauben und jüdischem Glaubensverständnis. Der besondere Beitrag von Christen im christlich-jüdischen Dialog wie in anderen interreligiösen Gesprächslagen besteht im Gefolge des Paulus in der Entfaltung des am Bekenntnis der Offenbarung Gottes in Jesus Christus ausgebildeten Verständnisses der menschlichen Situation vor Gott.