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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

135–137

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Gruber, Judith

Titel/Untertitel:

Theologie nach dem Cultural Turn. Interkulturalität als theologische Ressource

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2013. 258 S. = ReligionsKulturen, 12. Kart. EUR 36,90. ISBN 978-3-17-022963-1.

Rezensent:

Henning Wrogemann

Bei der Arbeit handelt es sich um eine im Jahr 2012 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg eingereichte Dissertationsschrift. Nach einer Einleitung (9–14) gliedert Judith Gruber ihr Buch in zwei Hauptteile, nämlich zunächst »Teil I: Theologie Interkulturell – Versuch einer historischen Verortung« (15–82) sowie »Teil II: Systematische Annäherungen an die Interkulturalität des Christentums« (83–226). Das Buch endet mit dem Abschnitt »Ein Rückblick als Ausblick: Thesen zur Systematisierung von Theologie interkulturell« (227–230).
Bereits an den Überschriften ist mit dem Begriff Theologie Interkulturell die Agenda gesetzt, die als Reflexion auf das Programm des an der Universität Salzburg befindlichen Zentrums Theologie Interkulturell und Studium der Religionen gelesen werden kann. In der Einleitung hält die Vfn. fest, es gehe beim Thema der Interkulturalität darum, dass durch einen »diskurskritische[n] Blick auf die Christentumsgeschichte […] die unhintergehbare Pluralität und Hybridität christlicher Identität freigelegt« werden müsse. Dies aber »suspendiert nicht von der theologischen Verantwortung des universalen Anspruches, der im Glauben für das Evangelium Jesu Christi erhoben wird.« (10–11) Universalität und kulturell-kontextuelle Partikularität stehen in einem ebenso facettenreichen wie dynamischen Spannungsverhältnis, welches zu analysieren ist (12). Die Vfn. will die Pluralität des Christlichen als »erkenntnistheologische Ressource« verstanden wissen. Die »nach dem Cultural Turn sichtbar werdenden Brüche und Differenzen christlicher Identität erhalten theologische Qualität; mit ihnen kann die immer in pluralen Partikularitäten entzogene Universalität Gottes im Sprechen von Gott sichtbar gemacht werden.« (14)
Die Vfn. liefert in Teil I eine Skizze zu missionswissenschaftlichen Ansätzen, in die sie das Programm Theologie Interkulturell als einen aus ihrer Sicht besonders geeigneten methodologischen Zu­gang einzeichnet. Im Unterkapitel »1. Missionswissenschaft« (17–33) werden in kühnen Strichen Linien besonders römisch-katholischer Diskussionen nachgezeichnet. Als Leitmetapher wird (sehr schematisch) »Akkomodation« ausgemacht. Es werden zu einlinige Verhältnisbestimmungen von Evangelium und Kultur/en kritisiert, ebenso ein essentialistischer Kulturbegriff. Als Lösung für diesen »Problemüberhang« wird unter anderem auf ein neueres Verständnis von Missionswissenschaft als »Vergleichende Theologie« (A. Exeler), aus dem protestantischen Bereich als Xenologie (Th. Sundermeier) oder als »Grenzwissenschaft« (K. Hock) verwiesen (33). Im Abschnitt »2. Kontextuelle Theologien« (34–53) will die Vfn. die Entwicklung kontextueller Theologien »zentral in der Krise der Missionswissenschaft verorten« (34). Diese doch sehr eurozentrische These überrascht, da es Missionswissenschaft über lange Jahrzehnte in vielen Gebieten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas so gar nicht gegeben hat. Wieso also sollte ein Phänomen der westlichen Kirche (»Krise der Missionswissenschaft«) Auslöser kontextueller Theologien gewesen sein? Die Vfn. jedenfalls ordnet dem Begriff der Kontextuellen Theologie als »Leitmetapher« den Begriff der In­kulturation zu. Im dritten Abschnitt »3. Theologie Interkulturell« (54–82) hebt die Vfn. darauf ab, dass hier »durch die adverbiale Syntax von Theologie interkulturell« die »Forderung, den je eigenen Kontext nicht zu verabsolutieren […] performativ eingeholt« werde. (69) Leitmetapher sei der Begriff »Interkulturation«, der gegenüber dem Begriff »Inkulturation«, der »das Verhältnis von Kultur als linearen, eindimensionalen Vorgang fasst«, unter anderem den Vorteil mit sich bringe, auch verborgene und nichtintentionale Interaktionen abbilden zu können. (79)
Zwei kritische Anmerkungen mögen an dieser Stelle erlaubt sein: So reizvoll die systematische Dreierkonstellation von Akkomodation, Inkulturation und Interkulturation auch ist, so schematisch ist sie. Die Vfn. bietet damit zwar eine übersichtliche, jedoch auch eine nicht wenig verzeichnende Sicht. So hätte für den Begriff der Inkulturation schon der Blick auf das Werk von Leonardo Boff (Gott kommt früher als der Missionar, 1992) zeigen können, dass ganz unterschiedliche Konzepte unter Inkulturation gefasst werden. Bei Boff etwa wird die Kultur selbst als agens gesehen, welches sich das Evangelium (alles andere als linear) in komplexen Prozessen immer wieder neu aneignet. – Wenigstens kurz angemerkt sei, dass sich die verschiedensten Theologien, die insbesondere seit den 1960er Jahren weltweit entstanden sind, schwerlich in ein Schema pressen lassen, und sei es »Kontextuelle Theologie«. – Recht zu geben ist der Vfn. allerdings darin, dass etliche hermeneutische Ansätze den Faktor der Macht unterschätzen (74).
Eine zweite Anmerkung betrifft das Oszillieren der Vfn. zwischen der Dimension des Universalen einerseits und des Partikularen andererseits. Wie schwer es ist, Anwalt bzw. Anwältin beider Dimensionen zu sein, zeigen Aussagen wie die folgende: »In der christlichen Tradition gibt es mit dem Kanon der Schriften und den Dogmen Sprachformen, die in Prozessen diskursiver Grenzziehungen normativ gesetzt wurden. Sie sind fixierte Texte, die eine verbindliche theologische Grammatik vorgeben und in ihrer kulturellen und his­torischen Bedingtheit gleichzeitig vor eine prekäre Interpretationsbedürftigkeit gestellt sind. Die Verbindlichkeit dieser Texte machen die westliche Tradition – und vorher noch die der jüdischen und griechischen Kultur – zu unausweichlichen und unverzichtbaren Koordinaten christlicher Identität; ihr geschichtlicher Vorsprung bleibt unüberspringbar und uneinholbar.« (75)
Die Vfn. setzt damit in einer erstaunlichen Ungebrochenheit ein dogma-tisches Axiom, welches trotz ihres Hinweises, dass diese Tradition in andere kulturelle Kontexte übersetzt werden müsse, beim kritischen Leser Erstaunen auslösen mag. Der Grund: Beim Thema Kontextualität geht es in interkulturellen Auseinandersetzungen sehr oft genau um die Frage, ob ein vorgängiges Prä der westlichen Tradition gerechtfertigt ist. Die dort umstrittene Frage ist für die Vfn. offensichtlich längst entschieden. Die weitreichenden Implikationen dieses Konfliktes hätten wenigstens angedeutet werden sollen. Die Vfn. setzt aus römisch-katholischer Perspektive die Weltkirche als hermeneutischen Raum voraus, das ist völlig legitim, denn jeder Zugang zum Thema Interkulturaliät ist selbst vielfach kulturell, konfessionell und wie auch immer bedingt. Wie aber sind »Hybridisierungen« auf Grundlage der o. g. dogmatischen Axiomatik möglich? Handelt es sich hier um mehr als bloße Rhetorik? Da im Buch so gut wie keine konkreten Beispiele gegeben werden, ist diese Frage schwerlich zu beantworten. – Interessant ist, dass von der Vfn. einerseits hohe Ansprüche postkolonialer Sensibilität gestellt werden, andererseits finden jedoch unkritisch Metaphern wie »Grammatik« oder aber »Übersetzung« (79) Verwendung, die, ganz anders als Metaphern wie etwa »Diskursfeld« oder »Aushandeln« Assoziationen der Implementierung eines eher statischen Inhaltes wecken. Jedenfalls gibt es innerhalb der Diskurse um Inkulturation, Kontextualisierung usw. lebhafte Debatten um die Frage, ob die Metaphern Grammatik oder Übersetzung angemessen sind.
Im zweiten Teil werden zunächst unter »1. Christliche Identität: nach dem Cultural Turn« (85–132) Grundlinien der kulturwissenschaftlichen Debatten der letzten Jahrzehnte nachgezeichnet (Edward Said, Homi Bhaba u. a.). Unter »2. Christliche Identität: theologisch« arbeitet die Vfn. die Sprachform des Zeugnisses als ein Medium heraus, in dem Partikularität grundlegend ist, jedoch auch Prozesse der Evaluierung einfordert werden (138–195). Der Ab­schnitt »3. Theologie nach dem Cultural Turn: interkulturell« (196–208) fasst die These der Vfn. nochmals prägnant zusammen: Nach dem Cultural Turn nehme Theologie »die in kritischen Ge­nealogien freigelegte Interkulturalität christlicher Identität« wahr und an, sie nehme diese als »konstruktiv-kritisches Moment in christliche Gottesrede« auf, halte die Sprachform des Zeugnisses ebenso wie die eigene Auslegungsbedürftigkeit fest und mache so »reflektierte Interkulturalität« zum »erkenntnistheoretischen[] Ort einer Theologie, die [… nicht] hinter die Epistemologie des Cultural Turn und seine Partikularisierung der Wissensformen zurückfällt.« (204) Abschnitt »4. Exemplarisch: Der Kanon als Theologie interkulturell« sucht die Thesen anhand des Themas Kanonbildung zu erläutern (209–226).
Im letzten Abschnitt »Ein Rückblick als Ausblick: Thesen zur Systematisierung von Theologie interkulturell« (227–229) stellt die Vfn. heraus: »Theologie interkulturell ist der fundamentaltheologische Versuch, die Universalität des Jesus-Christus-Ereignisses als Integral ihrer pluralen und partikularen Bezeugungen zu denken. […] Es geht dabei nicht um eine Fragestellung der Ökumene oder einer Theologie der Religionen, sondern um die fundamentaltheologischen Verhältnisbestimmungen von Partikularität und Universalität des Evangeliums, um Einheit und Differenzen in Theologien, um Normativität und Kontingenz christlicher Gottesreden.« (227) Damit ordnet die Vfn. das Unternehmen Theologie interkulturell ganz offensichtlich der Systematischen Theologie zu, was nach dem Einzeichnen des Themas in den Bereich der Mis-sionswissenschaft und der Kontextuellen Theologien in den An­fangskapiteln überrascht. Theologie interkulturell scheint damit weniger als Fach, sondern als Querschnittsaufgabe gedacht zu sein, denn dass man etwa bei neutestamentlichen Forschungen auf die Inter-Kulturalität der in der frühchristlichen Zeit entstandenen Glaubenszeugnisse (Literaturen usw.) verweist, ist nichts Neues.
Etwas verwirrend ist, dass die Vfn. feststellt: »Theologiegeschichtlich lässt sich der Entdeckungszusammenhang der Interkulturalität des Christentums und seiner Theologien in den Mis-sionswissenschaften und Kontextuellen Theologien […] verorten«. (228) Meint die Vfn. damit den Begriff der Interkulturalität oder aber das zu beschreibende Phänomen? Wurde diese Interkulturalität jedoch nicht auch schon von den biblischen Wissenschaften um die Wende zum 20. Jh. sehr deutlich gesehen? – Wie auch immer diese Aussage gemeint war: Die Vfn. hat einen interessanten systematischen Beitrag zum Themenfeld Cultural Turn und Interkulturalität vorgelegt, der einen bedenkenswerten Lösungsvorschlag bietet, zu kritischen Rückfragen einlädt und viele Fragen offen lässt. Letzteres sicher ganz im Sinne der Verfasserin.