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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

132–133

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Klose, Britta

Titel/Untertitel:

Diagnostische Wahrnehmungskompetenzen von ReligionslehrerInnen

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2014. 234 S. m. 15 Abb. u. 28 Tab. = Religionspädagogik innovativ, 6. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-17-022950-1.

Rezensent:

Theresa Michalik

Schon seit Längerem sehen viele Modelle professionellen Unterrichts in der diagnostischen Wahrnehmungskompetenz eine zentrale Komponente erfolgreichen Unterrichtens. Jetzt liegt mit der von M. Rothgangel und M. Hasselhorn betreuten und in der Kohlhammerschen Reihe »Religionspädagogik innovativ« erschienenen Dissertation von Britta Klose erstmals eine Untersuchung vor, die empirisch-quantitativ erhebt, ob Religionslehrer und Religionslehrerinnen über diagnostische Wahrnehmungskompetenz verfügen und diese Anforderung tatsächlich im Unterrichtsalltag um­ setzen können.
Die Bedeutung der Wahrnehmungskompetenz fußt auf der Annahme, dass eine optimale Wirkung pädagogischen Handelns nur dann erzielt werden kann, wenn eine hinreichende Passung zwischen »tatsächliche[n] Merkmalsausprägungen und diagnos-tischem Lehrerurteil« (119) vorliegt und darauf aufbauende, schülerorientierte Maßnahmen eingeleitet werden können. Bisher be­schränkte sich dieses Maß der Übereinstimmung innerhalb der pädagogischen Psychologie vor allem auf die diagnostische Urteilsgenauigkeit von Leistungen. K. erweitert dies nun für die Religionsdidaktik auf die Wahrnehmungskompetenz von Einstellungen und Werthaltungen (vgl. 189). Dazu nimmt sie einen interdisziplinären Brückenschlag zwischen Psychologie und Religionsdidaktik vor. K. vermeidet eine Engführung des Passungsbegriffs, indem sie diesen »lediglich als Ausgangspunkt pädagogischer und d idaktischer Reflexionen« (190) verwendet und den psychologischen um den phänomenologischen Wahrnehmungsbegriff an­hand der Symboldidaktik Peter Biehls erweitert.
Das Buch gliedert sich in drei Teile: Der erste Teil legt die theoretische Grundlage, indem er die Wahrnehmungskompetenz im Forschungskontext interdisziplinär verortet (17–59), den Inhalt der Studie (60–95) konkretisiert und Fragestellung bzw. Methode (96–108) bestimmt. Der zweite Teil umfasst Aufbau, empirische Erhebung und Auswertung der beiden Hauptstudien (109–187). Im dritten Teil werden die empirischen Ergebnisse vor dem Hintergrund der Theorie diskutiert (188–212) und daraus Konsequenzen für die Schulung diagnostischer Kompetenzen abgeleitet (213–216).
Methodisch vergleicht die Studie mittels Fragebogen die Einschätzungen der Lehrkräfte mit den Aussagen der Schüler zu den inhaltlichen Themenbereichen »Werthaltungen« und »Theologie und Naturwissenschaft«. Leitend sind acht Forschungsfragen, die Aufschlüsse darüber liefern sollen, wie gut Schüler und Schülerinnen sowohl individuell als auch kategorial zu den beiden Themen eingeschätzt werden können, welche Prädikatoren seitens der Lehrkräfte und der Schüler die Wahrnehmung beeinflussen, welche Bedeutung die Wahrnehmungskompetenz für schülerorientierten Unterricht besitzt und ob Lehrkräfte ihre Kompetenz ad­äquat einschätzen können. Der messtheoretische Aufbau und die Weiterentwicklung des komplexen Messinstruments werden verständlich erklärt und auch Probleme, etwa die Formulierung reliabler und valider Items, nicht geschönt, wodurch das Vorgehen transparent wird.
Die Stichprobe der ersten Studie umfasst 225 Schüler der 7. und 10. bis 12. Klasse und sechs Religionslehrer, die der zweiten Studie 808 Schüler der 10. bis 12. Klasse und 41 Religionslehrer und wurde an Gymnasien in ländlicher bis städtischer Umgebung in der Mitte Deutschlands durchgeführt. Die Studie ergab sehr komplexe, vielfältige und nicht immer eindeutige Ergebnisse. Die wichtigs­ten Ergebnisse seien an dieser Stelle kurz benannt:
Der Studie zufolge können Lehrkräfte einzelne Schüler generell einschätzen, wobei traditionell-beziehungsorientierte Schüler, die am stärksten im Religionsunterricht angesprochen werden, am treffendsten wahrgenommen werden. Ebenso werden ganze Gruppen tendenziell richtig verortet, jedoch wird die Schülerwerthaltung eher im Sinne der eigenen Position überschätzt. Es überrascht, dass diese beiden Kompetenzen jedoch unabhängig voneinander sind und somit keinen Einfluss aufeinander besitzen (vgl. 200). Zudem wurde deutlich, dass Wahrnehmungskompetenz keine »umfassende Zentralkompetenz« (213) darstellt, sondern do-mänenspezifisch von inhaltlichen Thematiken abhängt (vgl. 201).
Bezüglich des Einflusses von Personenmerkmalen auf die Ur­teilsgenauigkeit zeigte sich, dass ältere Lehrkräfte mit mehr Unterrichtserfahrung Werthaltungen besser diagnostizieren können. Hingegen sind jüngere Lehrer und Lehrerinnen im Themenbereich »Theologie und Naturwissenschaft« im Vorteil, was an der verstärkten Thematisierung in der Ausbildung liege. Eine Beziehungsorientierung der Lehrkräfte wirkt sich generell positiv auf die Diagnose aus.
K. vertritt die These, wonach »eine gute Wahrnehmungskompetenz […] Auswirkungen auf die Schülerorientierung des Religionsunterrichts« (194) besitzt. Ihre Untersuchung lieferte das Ergebnis, dass eine »höhere Zufriedenheit der SchülerInnen […] als signifikanter Prädikator« (181) für eine zutreffende Diagnose gelten kann. Indem K. den Umkehrschluss zieht, nimmt sie eine Deutung vor, wonach folglich Schüler, die durch die Lehrkraft »zutreffender« eingeschätzt werden, auch zufriedener seien (181). Fraglich ist, ob dieser Umkehrschluss zur Bestätigung ihrer These methodisch möglich und logisch ist, zumal weitere Einflussfaktoren nicht vorab ausgeschlossen werden können. Zudem bleibt vage, was sie unter dem Konstrukt »Zufriedenheit« versteht.
Von besonderem Interesse sei das Ergebnis, so K., dass Lehrkräfte ihre eigenen Fähigkeiten nur unzureichend einschätzen können und in diesem Bereich unsicher sind, wodurch der Fortbildungsbedarf auf diesem Gebiet deutlich werde.
Daraus leitet K. Konsequenzen für die Schulung diagnostischer Kompetenzen ab, die recht kurz gehalten sind und vor allem Anregungen und Impulse bieten. Wer konkrete Methoden, praktische Handlungsanweisungen oder Material zur Schulung der eigenen Diagnosefähigkeit sucht, wird hierbei nicht fündig. Vielmehr richten sich die Anregungen an die akademische Forschung.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass K. durch ihre Ar­beit den Fokus der Religionsdidaktik auf das empirisch noch wenig bearbeitete Gebiet der Wahrnehmungskompetenz gelenkt hat. Bisher wurde eine Schülerorientierung des Religionsunterrichts vorwiegend postuliert. Mit dieser Arbeit wurde nun eine konkrete, empirische Arbeitsbasis gelegt, die es zu konkretisieren gilt, um diese Forderung zu realisieren.