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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

120–122

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Stock, Alexander

Titel/Untertitel:

Poetische Dogmatik. Schöpfungslehre. Bd. 2: Menschen

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2013. 421 S. m. Abb. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-506-77784-3.

Rezensent:

Walter Sparn

Der Kosmologie im ersten Band der Schöpfungslehre folgt im zweiten die Anthropologie, in der Alexander Stock, ähnlich wie dort, über den »systematisch verfügten« reduktionistischen Ansatz der zünftigen Theologie hinausgeht, d. h. hier: nicht auf anthropolo-gische Letztdefinitionen zielt, sondern, wie das Vorwort (7–14) an­kündigt, die »lebensweltliche Breite der christlichen Überlieferung (zulässt)« (10). Ohne ihren ontologischen und ethischen Ertrag in Abrede zu stellen, wendet sich S. damit von zwei herrschenden Universalismen ab, nicht nur von der (natur)philosophischen und (tranzendental-)theologischen Thematisierung des Wesens des Menschen, sondern auch vom soteriologisch-missionarischen Universalismus der christlichen Heilsbotschaft (!). Überdies hält S. »das die Gottesebenbildlichkeit mit dem homo peccator verbindende Modell theologischer Anthropologie«, dessen Ge­schichtsmächtigkeit er nicht bestreitet, in seinen Denkmöglichkeiten für »weitgehend ausgeschöpft« (9). Nicht nur der lutherische Leser dürfte umso mehr gespannt sein, wie S. den »faszinierend-schrecklichen Möglichkeitsraum dessen, was die Menschen treiben« erkundet und das ouden deinoteron des Sophokles (7) verifiziert.
Wie schon in der Kosmologie interpretiert S. die »mythische Geschichte« Gen 1 ff., jetzt, um das anthropologisch darin Bedenkenswerte ausfindig zu machen, und greift dabei über Gen 1 f. hinaus zum Bruderzwist und bis zum Turmbau von Babel, schließt also den Menschen als Kind und Geschwister, als homo faber und zôon politikon ein. Unter dem Begriff Genus humanum meditiert dies Teil A (15–145) anhand der (stets exegetisch geklärten) Texte und der sie je auf ihre Weise interpretierenden Bilder; S. wählt sie meist aus dem Fundus der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Malerei aus. Die Aufmerksamkeit der acht Kapitel richtet sich auf den Zusammenhang von Mensch und Erde (15 ff.), auf das Paradies als »Biotop« des Menschen, dessen Spuren und Splitter noch vorhanden sind und (»Wasserströme«) auch noch zukünftige Werke Gottes erwarten lassen (23 ff.). Gott erscheint nicht nur als creator, sondern auch als experimentator in der Erschaffung Evas, auch darin, dass er den Menschen zur paradiesischen Ursprache veranlasst, dem Be­nennen der hinzugebrachten (!) Lebewesen (mit F. Stier, J. G. Ha­mann, W. Benjamin, 27 ff.). Der Sündenfallgeschichte gewinnt S. manche neue Aspekte ab, speziell dem sprechenden (!) Tier, und er korrigiert die Metapher des »Falls« zugunsten eines schleichenden Übergangs zum Vergehen und den Versuchen der Beteiligten, sich davonzustehlen, also im Blick auf das »Ansinnen der Freiheit« (36ff.). Überraschend engagiert klärt S. den Begriff peccatum originale, in Würdigung der Motive der »Paulus verwandten Geister« wie Augustin, Luther, Kierkegaard; mit P. Ricœur und in Kritik der Verschiebung des Lesefocus auf den Erkenntnisbaum und der aufklärerischen Wirkung des Essverbots, in leiser Kritik auch des Tridentinum sieht S. den Erfahrungskern der Erbsündenlehre im innerlich unfreien Willen (48 ff.).
Ausführlich und erhellend bis in ikonographische Merkwürdigkeiten hinein stellt S. sodann das »Paradies der Kunst« dar, einschließlich besonderer Einzelszenen und der Auffassung der Schlange (61 ff.); besonders anregend ist seine Interpretation der Auffassung von »Adam und Eva« durch A. Dürer (Eros und Entscheidung, 76 ff.), B. Grien und Rembrandt (91 ff.). Nicht weniger spannend, welchen Spielraum die Bilder angesichts der theologisch (konfliktscheu) auf die Lichtgestalt Abel hin ausgedeuteten Kain-Geschichte ausmessen, bis in die Moderne (L. Corinth, 96 ff.); S. thematisiert das kulturanthropologische Potenzial der Genealogien der »Kainiten« und Sethiten (122 ff.). Der Mythos des Turmbaus zu Babel wird als genealogisch und als kulturgeschichtlich angelegte Ätiologie erklärt (127 ff.) und durch das »Bilddenken« in den Visualisierungen des Bauwerks durch P. Bruegel und A. Kircher (!) bereichert (136 ff.).
Mit Teil B und unter dem passgenauen Titel Species Christianae (147–347) betritt S. »anthropologisches Neuland«: Er be­schränkt die Anthropologie nun auf das lebensweltlich ihm be­kannte Christentum und fragt nach der »Artenvielfalt«, die diese Religion in der freien Betätigung von Charismen entwickelt hat. Dafür wählt er die Heiligen als exempla fidei aus und sortiert diese in Klassen, der Allerheiligenlitanei (!) folgend; die Quellen dafür sind Bibel und Legenden, Devotionalia, Ikonographie und Liturgie (11 ff.). Das impliziert durchaus die Kritik an der Vereinnahmung und Verschönung jener »Freunde Gottes« durch die Kirche; es beschränkt das anthropologische Interesse an den christlichen »Menschensorten« gleichwohl auf eine »katholische Artenlehre« (14).
Dieses in der Tat neue, so klare wie weiträumige Konzept gibt S. Gelegenheit, seine profunde historische und kirchengeschichtliche, speziell seine liturgie- und bildgeschichtliche Gelehrsamkeit für die Inszenierung einer äußerst vielgestaltig bunten »Wolke der Zeugen« einzusetzen. Zehn Kapitel über: Patriarchen (Joseph als pater, opifex, sakralpolitischer patronus, 147 ff.); Propheten (Johannes der Täufer, 177 ff.); Apostel (Petrus im Gegenüber zu Paulus, aber nicht im Sinne des »katholizistisch« rigorosen E. Peterson, 205 ff.; kurz Johannes, 226 f.); Evangelisten (symbolische und repräsentative Ikonographie, speziell Lukas der Maler, 227 ff.); Märtyrer (als spezifische Ausprägung des zôon politikon: Stephanus; Arnulf Rainers Übermalung des Holzschnittes von G. Doré, 251 ff.); Lehrer (vor allem Hieronymus, auch als von Erasmus, nicht aber von Luther geschätzter Wissenschaftler und Asket, 267 ff.); Mönche und Einsiedler (das Mönchtum, trotz Mt 11,18!, als »Urambition« und »Prägnanzgestalt« des Christentums, 294 ff.; Antonius und seine Spuren in der abendländischen Kultur; Benedikt von Nursia; Luthers und Harnacks Kritik, 320 ff.); Ritter (trotz Abwesenheit in der Litanei und pazifistischer Reduktion Ignatius’ SJ nach Vaticanum II: eine bedenkenswerte Apologie des Gefolgschaftsethos in der ecclesia militans anhand Georgs und Christophorus’, 323 ff.); Jungfrauen und Witwen (Typus virgo 342 ff.; S. gewinnt der »Konstruiertheit« der quatuor virgines capitales Katharina, Barbara, Margareta, Dorothea anthropologisch etwas ab, 350 ff.; nicht mehr in die Litanei aufgenommen: Elisabeth von Thüringen; die erste der Frauen in der Litanei, aber auch noch in Faust II und in Bildern E. Noldes präsent: Maria Magdalena, 358 ff.).
Angesichts dieser imponierenden römischen Fülle atmet der protestantische Leser dann doch auf, dass S. die letzte Anrufung in der Litanei: Omnes sancti et sanctae DeiDei, nicht ecclesiae«) zum Anlass nimmt zu bemerken, dass auch die kirchliche Wahrnehmung von Heiligkeit lückenhaft ist, an F. Stiers Versuch zu erinnern, die »Binnenwelt« des katholischen Heiligenkosmos zu überschreiten, und selber eine freikirchliche (!), befreiungstheologisch inspirierte Invocation of the Saints (Berkeley 1971) abzudrucken. Neben vielen »Heiligen«, die es niemals zur Ehre der Altäre bringen werden, finden sich hier auch Protestanten wie D. Bonhoeffer, M. Luther King oder J. S. Bach (368 ff.) – S. hat eine große ökumenische Chance »freier Katholizität« (371) nur halb wahrgenommen. Hoch verdienstlich gewiss, dass er dem schwachen protestantischen »Ge­dächtnis der Zeugen« aufhilft und ganz nebenbei unsere antithetische Fixierung auf das römische Lehramt oder auf eine »marianische Monokultur« (369) durch ein viel reicheres katho-lisches Christentum zu entkrampfen und uns die bunte Frömmigkeit der katholischen Geschwister besser zu verstehen hilft. Ohnedies ist S. von antireformatorischen Ressentiments frei (z. B. 289!), und auch schon vor dem Schluss, jener Invocation oder dem Ge­dicht Der Mensch von M. Claudius (375) greift er mit Bildern auf die reformatorische Typik von Heiligkeit aus; thematisiert sie allerdings nur, wo sie im Bild offensichtlich ist (O. Runge 175 f., Chris­tophorus Nordhausen, 337 ff.). Jedoch gehören zu diesen species Christianae nicht nur die anonyme Mutter oder die Magd mit ihrem weltlichen Gottesdienst (auch da wäre z. B. bei Rembrandt einiges zu finden), sondern auch die »Heroen des Denkens«, die »Sänger, Dichter, Gestaltenden« (F. Stier). Zu einer derart »neu formierten communio sanctorum« (374) hätte der real existierende protestantische Heiligenkalender ja nicht nur J. S. Bach oder E. Nolde beizutragen; auch solche, die S. gelegentlich »Lehrer der Menschheit« nennt wie I. Kant oder F. Nietzsche (270), waren und sind – obwohl außerhalb der liturgischen Liste und auf welch beschwerliche Weise auch immer – zugleich »Lehrer der Kirche«. S. zögert noch, einen weiteren Band nachfolgen zu lassen (380): Wir bitten darum!