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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

116–118

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Rüegger, Hans-Ulrich; Dueck, Evelyn, u. Sarah Tietz[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Abschied vom Seelischen?Erkundungen zum menschlichen Selbstverständnis. M. Beiträgen v. Th. Buchheim, M. Lenz, L. Muehlethaler, H. Müller-Pozzi, H.-U. Rüegger, S. Tietz, J. Zumstein, P. Bühler, F. Drews, E. Dueck, H.-J. Glock, D. Hell, H. Holzhey, B. Janowski, H. Krug

Verlag:

Zürich: vdf Hochschulverlag 2013. 304 S. = Zürcher Hochschulforum, 51. Kart. EUR 42,00. ISBN 978-3-7281-3424-0.

Rezensent:

Dirk Evers

Bei dem zu besprechenden Sammelband handelt es sich um die Referate einer Reihe von Vorträgen von 2011, die von der Hochschule Zürich und der Universität Zürich veranstaltet wurde. Interdisziplinär ist die Anlage des Bandes nicht nur dadurch, dass die Beiträger aus verschiedenen Disziplinen stammen, sondern auch, weil jeder Vortrag durch einen kurzen, fachfremden Response ergänzt wird. Das eröffnet mitunter eine überraschende Perspektive von anderer Seite, vor allem dann, wenn die Rekonstruktion historischer Positionen mit aktueller Forschung verbunden wird und etwa der Psychoanalytiker den Beitrag über die Seelenkonzepte von Platon und Aristoteles kommentiert. Alle Beiträge sind über die Seelenthematik locker miteinander verbunden, wobei naturalistische Positionen fehlen. Theologische Bezüge spielen dabei eine gewisse, aber keine durchgängige Rolle.
Die Anordnung der 14 Beiträge folgt zunächst der ideengeschichtlichen Entwicklung. Danach folgen Beiträge zu heutigen systematischen Fragestellungen vor allem in Psychologie und Philosophie. Dabei steht weniger die Frage im Vordergrund, ob es »die Seele« gibt, sondern was jeweils die Seelenvorstellung zum menschlichen Selbstverständnis beiträgt. Eine Übersicht über alle Beiträge in Form von Abstracts zu Beginn des Bandes erlaubt die schnelle Orientierung. Einige Beiträge, die das Interesse des Rezensenten in besonderer Weise gefunden haben, seien hervorgehoben.
Der Tübinger Alttestamentler Bernd Janowski zeigt, dass das hebräische Wort nefesch, das immer wieder mit Seele übersetzt wurde, nicht in einem dualistischen Sinne gemeint ist, und plädiert dafür, auf diese Standardübersetzung eher zu verzichten. Das Alte Testament kennt keine den Körper verlassen könnende Seele wie etwa bei den Pythagoräern, sondern versteht unter nefesch ein Vitalprinzip, in dem Angewiesensein, Begehren, Individualität und Personalität zusammenkommen. Die Replik des Psychiaters Daniel Hell macht geltend, dass es auch für eine solche Seelenauffassung in der abendländischen Tradition Parallelen gibt, und plädiert auch für die alttestamentlichen Texte für ein Festhalten am Seelenbegriff, insofern dieser sich auf die Dimension persönlichen Erlebens und personaler Intentionalität bezieht und darin unersetzbar erscheint.
Einen sehr schönen und instruktiven Beitrag hat der Münchner Philosoph Thomas Buchheim zum Seelen-Bild bei Platon und Aris­toteles beigesteuert. Er macht für Platon deutlich, dass bei dem bekannten Bild des zweispännigen Wagens nicht das Gefährt, sondern die Kraft, die dynamis den Vergleichspunkt bildet, die zusammengewachsen ist aus den beiden begehrlichen Vitalkräften und zugleich von der dritten Seelenkraft als ihrem Lenker bestimmt werden muss. Dagegen erscheint Aristoteles’ Auffassung der Seele als Form (energeia) überaus prosaisch, doch auch sie wird auf ihre Weise als Tätigkeit oder Vollbringung verstanden. Während Platon die Seele eher im Bereich der Vermögen verortet, beschreibt Aristoteles sie als Verwirklichung durch Tätigsein. Gerade in der differenzierten Bestimmung, worin denn nun der eigentliche Beitrag der Seele für komplexe, relativ geschlossene, organisierte Systeme besteht, sieht Buchheim einen auch unter dem Vorzeichen der Naturwissenschaften tragfähigen Ansatz zu einer empirisch reichhaltigen Bestimmung des Seelischen.
Eher auf erkenntnistheoretische Zusammenhänge hebt der Beitrag des Gräzisten Friedemann Drews ab, wenn er bei einer Analyse des frühen Werkes von Augustinus Über den freien Willen herausarbeitet, dass die Seele bei jeder Wahrnehmung dadurch tätig ist, dass sie Bestimmtheiten physischer Erscheinungen »herausfasst«, wie etwa Gestalt oder Klang, dass sie sich darüber hinaus im Falle des Menschen reflexiv auf das Denken selbst wenden und damit immaterielle Gegenstände wie Zahlen erkennen kann, und dass sie endlich Individualität und Personalität konstituiert. Es schließen sich an diesen Beitrag Darstellungen zur Selbstwahrnehmung in der arabischen Philosophie bei Avicenna und zur nominalistischen Umformung der Seele bei Duns Scotus an, für den die Herausforderung darin bestand, wie die Seele überhaupt etwas erkennen kann, wenn doch gerade das Wesen der Dinge für sie unerkennbar ist.
Helmut Holzhey, Emeritus für Philosophie aus Zürich, zeichnet dann das Verschwinden der Seele aus den Diskursen der Neuzeit nach. Er unterscheidet vier Stationen: die Vergeistigung der Seele durch Descartes, die Entsubstanzialisierung der Seele durch den Empirismus, die materialistische Seelentheorie der französischen Aufklärung und die erkenntnistheoretische Destruktion durch Kant. Als Fazit hält er fest, dass diese Austreibung des Seelenbegriffs für philosophische Diskurse vermutlich auf lange Zeit unumkehrbar sei, dass aber Bilder und Redewendungen die Erinnerung an die Seele wachhalten und damit im Reden von der Seele ein Thema präsent gehalten wird, das als solches philosophisch noch nicht erledigt ist. Daran schließt sich der folgende Beitrag an, der das Seelische im Werk Joseph von Eichendorffs behandelt und damit ein Beispiel für die nicht-diskursive Bewahrung des Seelenthemas vorstellt. Mit dem Aufsatz des Zürcher Systematikers Pierre Bühler zu Martin Bubers dialogisch-relationaler Anthropologie, in dem Bühler das Seelische als Bewegung vom Es zum Du, als Dimension der Begegnung und als Hinweis auf das ewige Du versteht, schließt die Reihe der Beiträge, die historische Positionen vorstellen, und es folgen thematische Erörterungen aus unterschiedlichen Disziplinen.
Heinz Müller-Pozzi beschreibt die Arbeit der Psychoanalyse anhand von Freud, Lacan und Laplanche als ein Deuten, bei dem der Analysand der Hermeneut ist, ohne dass allerdings der Bezug zur Seelenthematik so recht deutlich würde. Es schließt sich ein interessanter Beitrag der Philosophin Sarah Tietz zur Frage nach mentalen Fähigkeiten bei Tieren an. Sie fragt zunächst nach den Gründen, die Descartes dazu bewogen hatten, Tieren eine Seele abzusprechen und sie als komplexe Maschinen zu verstehen: Sie bestehen weder den Sprach- noch den Handlungstest. Dagegen macht Tietz geltend, dass Tiere sehr wohl so handeln, dass die naheliegendste Beschreibung der Bezug auf komplexe Klassifikationsleistungen ist. Und in Bezug auf die Sprache hat Descartes nur gezeigt, dass Sprache hinreichend für Denken ist, nicht aber, dass es sich um eine notwendige Bedingung dafür handelt. Tietz plädiert dafür, dass Denken im Vollsinn und also im Sinne eines kategorialen Urteilens auch ohne Sprache möglich ist, und sie kommt zu dem Fazit, dass es jedenfalls das Denken nicht sein kann, was den Menschen wesensmäßig vom Tier unterscheidet – wenn es denn überhaupt ein Wesen des Menschen gibt.
Es folgt eine Auseinandersetzung mit dem Verfahren der tiefen Hirnstimulation aus ärztlicher Sicht, die auf die Schwierigkeit aufmerksam macht, die einige Menschen damit haben, das Erleben technischer Einflussnahme auf die eigenen Hirnvorgänge in ihre Selbstkonzeption und ihr Ich-Erleben zu integrieren. Hier tut die kritische Auseinandersetzung mit einem neurobiologisch geprägten ›Menschenbild‹ not. Sehr einfühlsam liest sich die darauf antwortende Response des Philologen und Theologen. Ein weiterer Beitrag zu Psychiatrie und Psychotherapie kehrt nun ausdrücklich zum Seelenbegriff zurück und macht auf die Widerständigkeit seelischen Erlebens gegenüber einem empirisch kontrollierten Zu­griff aufmerksam. Auf den Seelenbegriff, so das Plädoyer, kann in der Psychiatrie nicht verzichtet werden, auch wenn er keinen Leitbegriff des naturwissenschaftlich-technischen Zugangs darstellt. Der Schlussbeitrag stammt vom Herausgeber, dem Philologen und Theologen Hans-Ulrich Rüegger, der den semiotischen Wurzeln der Vernunft nachgeht. Er parallelisiert die klassische anthropologische Trichotomie von Körper, Geist und Seele mit den drei Grunddimensionen der Semiotik, um von dort dann zur Entstehung und Bedeutung poetischer Rede überzugehen. Den An­schluss zur Wissenschaft findet Rüegger über die Figur der Entdeckung, die durch semiotisch vermittelte Ähnlichkeit jedenfalls befördert wird. Damit schließt ein interessanter, facettenreicher und dialogisch gehaltener Aufsatzband, der zwar nicht konsequent beim Seelenthema bleibt, aber für die Beschäftigung damit vielfache Anregung bietet.