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Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

741–743

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Klauck, Hans-Josef

Titel/Untertitel:

Die antike Briefliteratur und das Neue Testament. Ein Lehr- und Arbeitsbuch.

Verlag:

Paderborn-Wien-Zürich: Schöningh 1998. 367 S. 8 = UTB für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher, 2022. Kart. DM 39,80. ISBN 3-506-99496-4.

Rezensent:

Martin Karrer

Leicht lesbare, informative und didaktisch vorzüglich aufgebaute Fach- und Lehrbücher sind selten. Hier ist eines anzuzeigen: Briefe sind Elemente einer klar analysierbaren Kommunikation, und K. bietet die Information nicht minder klar dar (in 8 Kapiteln von der Grundlegung über die äußeren Briefvorgänge und die Brieftheorie bis zu den Briefen des Frühjudentums und Neuen Testaments). Briefe sind zu lesen; K. fügt gut ausgewählte Beispiele von den Apion-Briefen (30 ff.) über Herrscherbriefe (82 f.,86 ff.; neu übersetzt PLond 1912 mit dem Brief des Claudius nach Alexandria Herbst 41) und literarische Briefe (Epikur, Cicero, Seneca usw. 121 ff.) bis zu frühjüdischen Briefen (199 ff.) ein. Briefe müssen selbständig analysiert und interpretiert werden; K. geleitet dazu durch Aufgaben am Ende jedes Kapitels (Auflösungen 331-351).

Greifen wir - da der Raum nicht erlaubt, alles zu referieren - einige Momente heraus: Die antiken Theoretiker benennen zentrale Sachverhalte, namentlich das kommunikative Beziehungsgeflecht des Briefschreibens und das Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit (der Dialog, den sie vergleichen, ist eine aus dem Mündlichen hervorgegangene schriftliche Äußerung). Andererseits sind sie so stark durch die Perspektive der Freundschaftskommunikation besetzt, daß ihre brieftheoretische Verallgemeinerung an Grenzen stößt (bes. 148-152, zu Mündlichkeit/Schriftlichkeit auch 167 f.; K.s Hinweise bleiben knapp). Die Klassifikation ist schwierig. A. Deißmanns Unterscheidung von Brief und Epistel lebt bei aller Kritik in der heutigen Unterscheidung von literarischen und nichtliterarischen Briefen fort (73). K. gesellt als dritte Kategorie die diplomatischen und Herrscherbriefe bei (71 f., 80-93). Einzelformen (Briefsorten) sind unter die Klassen nicht einfach zu subsumieren (vgl. Enteuxis [nichtliterarische, gleichwohl amtliche Eingabe] 335 etc.). Aber auch die antiken Briefsteller (bes. Pseudo-Demetrius) bieten weithin nur aus nachträglicher Beobachtung eine Hilfe. K. bespricht sie auffällig spät (157-164), kommt jedoch um die Aufnahme einzelner ihrer Typen nicht umhin (Empfehlungsbrief 75-79; Bezüge zu den Typen des ironischen, apologetischen, anklagenden und Vorhaltungen machenden Briefs im 2Kor [235] usw.).

Die Differenzen zwischen griechischem (ähnlich lateinischem) und vorderorientalischem Briefformular erleichtern, eine Geschichte der Briefe zu schreiben. Durchdringungen und Konvergenz laufen trotz mancherlei Widerständen bis zum 2. Jh. allmählich auf die griechische Praxis zu (226 nach der Behandlung der Bar Kochba-Briefe). Briefe sind Sprachhandlungen. Insofern gewinnt die Rhetorik in der jüngeren Forschung zu Recht an Boden. Dennoch dürfen antike Konturen nicht verwischt werden. Erst in der Spätantike konvergieren Linien der mündlichen Rede und des schriftlichen Briefs zu einer eigenen Briefrhetorik. Erfreulich differenziert begrenzt K. die Rhetorik darum auf die Erhellung der Argumentationsstruktur und sprachlichen Gestaltung von Briefen innerhalb von deren schriftlichen Gattungsgrenzen und -eigentümlichkeiten (165-180 u. ö.), wendet sie dort indes intensiv an (paradigmatisch 1Thess 284-291). K. beurteilt die Schreibfähigkeiten um die Zeitenwende optimistisch. Trotzdem sind Schreiber und Sekretäre so beliebt, daß nicht die Fremdbeteiligung, sondern die Eigenhändigkeit bei Briefen außergewöhnlicher ist (auch bei Paulus; 61-65). Letztere signalisiert im kulturellen Usus bes. sensible und private oder intime Themen (vgl. z. B. 131 für Cicero). Umgekehrt drängt sich der (von K. für einzelne Briefe angedeutete: 270, 333 f.) Schluß auf, Paulus habe seine Briefe (gegebenenfalls vor einem eigenhändigen Schluß: Gal 6,11) nicht nur von vornherein öffentlich, sondern auch für die Mitwirkung der Schreiber bzw. Mitarbeiter offen konzipiert. Die Formulierung "aus der Hand des Paulus" ist zumindest, wo ein Schreiber genannt ist (wie Röm 16,22), nicht ganz präzis (230 nach 228). Noch komplexer wird der Sachverhalt dadurch, daß K. Querlinien zwischen den Präskripten der hellenistischen Herrscherbriefe und Paulus konstatiert (Adresse an ein Kollektiv; gegebenenfalls Mitabsender; 82). Vertiefen sie den Öffentlichkeitsanspruch, was die Deuteropaulinen nützen (245 zu den Past), oder sollten wir sie weniger hervorheben?

Die Seiten 227-266 bieten eine kurze, instruktive Einleitung in die Briefe des NT. Hervorzuheben sind die Ordnung der ältesten Pastoralbriefesammlung aufgrund der Präskripte und Abschlüsse zu Tit; 1Tim; 2Tim (243-246) und die Diskussion über die Entstehung der Paulusbriefsammlung (mit Kritik an D. Trobisch; 248 ff.). Ausgewählte Analysen gelten 1/2Thess (267-307; beim 2Thess könnte man Vorschläge zur Frühdatierung ergänzen), 2Petr und der Apg (315-321 erörtern die Züge offiziösen Schreibens im Aposteldekret Apg 15,29 und entscheiden sich am Ende für deren luk Gestaltung). Eindrücklich ist die These, es gebe eine Affinität zwischen Evangelium und Brief, da das Evangelium kommunikativ sei und initiativ kommunikativ wirke (329 nach H. Weder).

Einige weitere interessante Details: K. erschließt wegen der Schwierigkeit, Briefüberbringer zu finden, aus der paulinischen Korrespondenz zu Recht dichte Beziehungen zwischen den paulinischen Gemeinden (69). Er beobachtet die Nähe des neutestamentlichen "charis-" zum griechischen "chairein-"Gruß (44), was dazu reizt, in den neutestamentlichen Brief-Salutationen besonders die Freude der Gnade zu hören. Er findet in Cicero, fam. XIV 4,1 eine Parallele zu den Tränen in 2Kor 2,4 (132). Er erkennt hinter der kynischen Briefproduktion u. a. die Technik der Prosopopoiie (des Schreibens gemäß dem "Antlitz" einer bekannten, zentralen Person der Vergangenheit; 144), was zu Vergleichen mit dem späten Urchristentum lockt und die Erwägungen zur neutestamentlichen Pseudepigraphie 300-305 noch vertiefen könnte. Bestandsaufnahmen über die vorhandenen Quellen (griechisch-lateinisch 95-120, Frühjudentum 181-198) schaffen ein Handbuch für Theologen und Altertumskundler (95-109, 148, 157 f. aktualisieren R. Herchers Epistolographi Graeci).

Eine allgemeine (15-21) und Teil-Bibliographien (bei den einzelnen Abschnitten) sichern den Forschungsstand umfangreich und signalisieren gleichzeitig Forschungslücken (so zum Himmelsbrief 265). Viele Ergebnisse dienen aufgrund der Kontinuitäten bei Kommunikationsform, Briefsorten, Rhetorik und Theorie gleichfalls der allgemeinen Literaturwissenschaft (K. beginnt folgerichtig mit Seitenblicken auf neuere Autoren [7,23 f.] und bietet immer wieder Verweise). Die Studie ist durch ausführliches Inhaltsverzeichnis, Quellen- und Namenregister gut erschlossen (dazu eine hilfreiche Tabelle zum Briefaufbau 54). Wünschen würde man sich nur noch eine Zusammenfassung über Paulus als Briefschreiber (mit den theologischen Nuancen, die sein eigentümliches Briefpräskript, seine Danksagung, Corpusabschlüsse etc. setzen) und Sachregister, um Details leicht zu finden (z. B. das Brieftempus [den Aorist für Gegenwarts-Aussagen] 32, 325 u. ö., die Danksagung/das Gebetsgedenken 35 [Lit.], 212, 271, 282 u. ö., Entwicklungen bei der Eigenhändigkeit 195, 225 f. u. ö., Freundschaftsmotivik 81, 121, 138 f., 152 ff., 159 f., 232, 238, 245 u.ö., die charakteristischen Besuchswünsche und ihre Gestaltung als apostolische Parusie bei Paulus 50, 155 f., 241, 281, 304 usw.). Das Buch verdient weite Verbreitung!