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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

89–93

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Li, Wenchao, u. Wilhelm Schmidt-Biggemann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

300 Jahre »Essais de Théodicée« – Rezeption und Transformation

Verlag:

Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2013. 476 S. = Studia Leibnitiana Supplementa, 36. Geb. EUR 72,00. ISBN 978-3-515-10310-7.

Rezensent:

Michael Albrecht

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Li, Wenchao, Poser, Hans, u. Hartmut Rudolph [Hrsg.]: Leibniz und die Ökumene. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2013. 314 S. = Studia Leibnitiana Sonderhefte, 41. Kart. EUR 52,00. ISBN 978-3-515-10309-1.


2010 jährte sich das Erscheinen der Essais de Théodicée zum 300. Mal. Aus diesem Anlass wurde in Berlin ein internationales Symposium veranstaltet, dessen Beiträge in dem hier anzuzeigenden Sammelband enthalten sind. 2016 wird man des 300. Todestages von Leibniz gedenken.
Die meisten Beiträge des Bandes beschäftigen sich, wie es zutreffend im Titel heißt, mit der »Rezeption und Transformation« der Essais de Théodicée. Der direkten Interpretation des Leibniz-Textes widmen sich sechs Aufsätze: Am Anfang steht der Beitrag von Heinrich Schepers: »Der rationale Kern der Theodizee«, 23–35. Die von Leibniz hier nicht eigens erörterten metaphysischen Grundannahmen sind auf einer Seite (35) übersichtlich zusammengestellt. Folgt man ihnen, so ist in der Tat Leibniz’ Lösung des Theodizee-Problems »überraschend einfach« (29). Auf mehrfache Weise bildeten die Schriften von Pierre Bayle den Anlass für Leibniz’ Théodicée. Da Bayle zwei voneinander unabhängige Grundprinzipien (das Gute und das Böse) für plausibel halte, ordnete Leibniz diesen Dualismus in die Religionsphilosophie des Manichäismus ein – so Brigitte Saouma in »La Controverse entre G. W. Leibniz et P. Bayle sur le Double Principe de Manichéisme«, 71–86. Zu allen Beiträgen ist die detaillierte Einführung der Herausgeber (9–21) von Nutzen. Es folgt »›Politische Theodizee‹ – Leibniz’ Kontroverse mit Pufendorf« (87–96) von Luca Basso. Weil die ewigen Wahrheiten in Gottes Verstand gründen und nicht in Gottes Willen, entspringt aus diesen auch nicht die Gerechtigkeit. Sie ist ein Ausdruck der höchsten Weisheit Gottes. Damit wird das Naturrecht ganz anders begründet als bei Pufendorf, der – im Unterschied zu Leibniz – eine Verbindung zwischen Theologie und Politik ablehne. Juan Nicolás schreibt zu »Die rationalistische Reduktion des physischen Übels bei Leibniz« (137–147). Bekanntlich unterscheidet Leibniz das metaphysische, das physische und das moralische Übel. Auf mindestens vier unterschiedliche Weisen habe er dabei den spezifischen Eigencharakter des moralischen Übels verfehlt, und zwar teils durch Auslassung, teils durch Unterdrückung wichtiger Aspekte. Mit der Übernahme der Valla-›Fabel‹ im Schlusskapitel verleihe Leibniz der poetischen Fiktion eine genuin heuristische Funktion. Das meint Uwe Steiner in »Ästhetische Theodizee – Überlegungen zum Problem der Darstellung in der Theodizee« (189–230). Auch wenn es Äußerungen von Leibniz gibt, die der Fiktion diese Leistung zu­schreiben, so bleibt das doch eine ausgedachte Überbeanspruchung der Poesie. Im sechsten Beitrag »Theodizee nach Auschwitz – Versuch über die Wahrung des menschlichen Lebenssinns« (445–469) stellt Volker Gerhardt angesichts der menschlichen Verbrechen und Leiden gerade im 20. Jh. fest, dass die leibnizsche Theodizee ein Problem des Menschen (und nicht Gottes) war und ist. Zwar sei Leibniz der Beweis gelungen, dass die existierende Welt die beste aller möglichen Welten ist, dennoch seien heute die Zweifel vorherrschend, beginnend mit dem Generalverdacht, jede Rede über Gott sei unwissenschaftlich. Gerhardt hält dem entgegen: Der Theodizee gehe es um »eine Wahrung des Sinns des menschlichen Daseins, das in einer Welt, die an sich sinnlos ist, selbst sinnlos werden würde« (461). »Je fragwürdiger und abgründiger dem Menschen sein eigenes Tun erscheint, umso wichtiger muss es ihm sein, einen durch Gründe versicherten Halt im Ganzen zu haben.« (469) Die Theodizee gibt dem Menschen eine »Zuversicht, die nicht allein auf seine eigene Leistung gegründet ist« (ebd.).
14 Aufsätze befassen sich nun mit dem Essais de Théodicée; sie seien hier, angeordnet nach der Chronologie der Anlässe, kurz vorgestellt.
1) Schon 1728 erschien das Werk Philosophiae Leibnizianae et Wolffianae usus in theologia von Israel Gottlieb Canz, übrigens ein Beleg dafür, dass der Wolffianismus ein Leibniz-Wolffianismus war. Canz wollte die ›mathematische‹ (wissenschaftliche) Methode auf die Hauptpunkte des christlichen Glaubens anwenden. Der einleitende Discursus praeliminaris de rationis cum revelatione harmonia legitimoque eiusdem in theologia usu schließt sich an Leibniz’ Einleitung (Discours préliminaire de la conformité de la foi avec la raison) an. Mit einer starken Verschiebung des Akzents betont Canz allerdings die Mangelhaftigkeit der menschlichen Vernunft, so dass diese auf die Gnade Gottes angewiesen ist, um erfolgreich wirken zu können (Hanns-Peter Neumann, »Israel Gottlieb Canz’ gnadentheologische Hermeneutik und Leibniz’ Discours de la conformité de la foi avec la raison«, 97–114).
2) Diese Welt ist die beste Welt, weil Gott sie unter allen möglichen Welten als die vollkommenste erkannt und deshalb erschaffen hat. Dass Gott die Welt erschaffen hat, wird dabei vorausgesetzt. Die Theodizee ist also kein Gottesbeweis, sondern die Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel in der Welt. Freilich kann man, wenn man diese Rechtfertigung für undurchführbar hält, an der Existenz Gottes zweifeln. Dies geschieht z. B. in einem anonymen lateinischen Text von ca. 1736, den Stefan Lorenz, »Schwierigkeiten mit dem Optimismus« (37–70), mitteilt und analysiert. Er gipfelt in den Worten: »Ergo non datur Deus« (67).
3) In den Absätzen 91 und 397 der Theodizee wird das Problem der Präexis­tenz der Seele gelöst, aber auf unterschiedliche Weise. Eine anonyme Abhandlung von 1738 möchte diese Divergenzen aufheben und bietet eine neue, obschon an Leibniz angelehnte Lösung an. Dadurch wurden weitere Schriften von Johann Gustav Reinbeck und Johann Friedrich Bertram provoziert. (Arnaud Pelletier, »Physiologie de la Théodicée – Les Essais de Théodicée dans le débat sur l’origine de l’âme et la génération des corps, à l’occasion des Anonymi Dilucidationes [1738–1751]«, 321–342).
4) Joachim Böldicke veröffentlichte 1746 sowohl einen Abermaligen Versuch Einer Theodicee als auch eine Fortsetzung des vom Laurentius Valla angefangenen und vom Leibnitz fortgeführten Gesprächs von der Freyheit oder der Gerechtigkeit Gottes. Damit befasst sich Martin A. Völker in »Joachim Böldicke – Theodizee und Narrativität« (149–170). Böldicke wurde wegen seiner partiellen Leibniz-Kritik von den Zeitgenossen als Leibniz-Gegner wahrgenommen (152) und es erschienen Schriften, die sich gegen ihn richteten. Böldicke lenkte die Theodizee-Problematik in Richtung auf das Individuum und seine Verantwortung.
5) Bei Lessing, Lavater, Herder und Jean Paul können »alternative Theodizeen« festgestellt werden, so z. B. bei Jean Paul die ästhetische Theorie, die ebenso wie Leibniz’ Theodizee den Zufall ausschalten will (Eugenio Spedicato, »Theodizeegedanke und Desavouierung der Zufälligkeit – mit besonderem Bezug auf Jean Paul«, 171–188).
6) Christian Leduc, »Maupertuis et le système leibnizien des Essais de Théodicée« (285–298), befasst sich mit Maupertuis, der sich besonders in seinen Schriften von 1756, aber auch in mehreren Briefen mit leibnizschen Gedanken auseinandersetzt. Sein Prinzip der kleinsten Wirkung wird durch eine Leibniz-Kritik gerechtfertigt. Dieses Prinzip werde nämlich nicht durch eine systematische Beweisführung gestützt, sondern durch empirische Beobachtungen.
7) 1759 erschien Voltaires Candide, den Roberto Celada Ballanti, »Job au Siècle des Lumières – Voltaire et la Crise de la Théodicée« (271–284), in Voltaires Überzeugung von der Kluft zwischen allgemeiner und individueller Vorsehung verankert. Hiobs Klage sei also gerechtfertigt. Zugleich erweise sich die ›praktische‹ Theodizee als notwendig: Jeder muss seinen Kampf gegen das Böse führen.
8) 1762 schloss sich Bonnet an Leibniz’ Naturphilosophie an, wobei er aber Leibniz’ Prinzipien (besonders in der Präformationslehre) weiterentwickelte und sie auf den Boden von Newtons Physik ansiedelte (François Duchnesneau, »Charles Bonnet et L’immortalité des vivantes selon les Essais de Théodicée«, 299–320).
9) Auch Moses Mendelssohns »Sache Gottes« (1784) wirft ein Licht auf die Theodizee, wenn man nämlich die Interpretation des Mendelssohn-Textes von den Missverständnissen und Fehlern seines Herausgebers in Bd. 3.2 der Mendelssohn-Jubiläumsausgabe (1936) befreit. Davon handelt Ursula Goldenbaum in »Moses Mendelssohns Sache Gottes – eine jüdische Théodicée? Eine späte Kritik an Mendelssohns Herausgeber Leo Strauss« (115–136). Von Leibniz’ »Causa Dei« unterscheidet sich Mendelssohns Text durch das Weglassen aller konfessionellen Implikationen; ohne gegen den Christen Leibniz gewendet zu sein, beschränkt er sich auf den metaphysischen Gedankengang.
10) Kants Aufsatz Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee von 1791 gilt als logisch-philosophische Widerlegung der leibnizschen Theodizee. Dieser Annahme widerspricht Hubertus Busche in »Kants Kritik der Theodizee – Eine Metakritik« (231–269). Erstens sei das von Kant vorgeführte Gerichtsverfahren unfair und einseitig. Es berücksichtige nicht die Regel »in dubio pro reo«, und im Laufe des Verfahrens wird der Angeklagte ausgewechselt, an Stelle von Gott wird jetzt der »Verfasser einer Theodizee« angeklagt. Die angeblichen Ansprüche der Theodizee auf Einsichten aus bloßer Vernunft stammten zweitens nicht von Leibniz, sondern stellten eine von Kant konstruierte Überfrachtung der Theodizee dar. Und drittens kläre Kant nicht, welche Kriterien der Beurteilung er anwendet. Busche macht auch darauf aufmerksam, dass Kant lange Zeit ein Anhänger des Optimismus war und Leibniz verteidigte.
11) Kurt Appel, »Von der ›doctrinalen‹ zur ›authentischen‹ Theodizee – Ausgänge aus der Theodizee von Leibniz, eröffnet von Hegels spekulativer Gottesmystik in der Phänomenologie des Geistes« (343–369), sieht in Hegels Phä­nomenologie des Geistes (1807) eine authentische Theodizee begründet. Schon bei Leibniz sei die Gotteserkenntnis in die Gottesliebe umgeschlagen, also in ›Gottesmystik‹, die dann von Hegel mit Kants Mystik der Moralität vereint werde.
12) William James versuchte ganz ähnliche Probleme wie die von Leibniz behandelten zu lösen, so dass ein Vergleich zwischen Leibniz und James nicht unfruchtbar erscheint, z. B. zwischen Leibniz’ Optimismus und James’ »Meliorismus« (Jaime de Salas, »Leibniz and William James’ Philosophic Optimism«, 371–382).
13) Ludwig Feuerbach trug viel zur Neubelebung des Interesses an Leibniz bei. In Texten von 1837 und 1847 trennte er Leibniz’ Philosophie von dessen Theologie. Diese sei keine christliche Theodizee, Leibniz sei nur ein halber Christ und widerlege Bayle nicht (Wenchao Li, »Leibniz als ›halber Christ‹ – Ludwig Feuerbachs Kritik der Theodizee«, 383–396).
14) Walter Sparns Beitrag ist überschrieben mit »Die Leibniz’sche Theodizee in der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts« (397–443). Auf einer umfassenden Kenntnis der einschlägigen Literatur beruhen seine Darstellungen von Ernst Troeltsch, Heinrich Scholz, Paul Tillich, Karl Barth, Werner Elert, Emmanuel Hirsch, Carl Heinz Ratschow, Helmut Thielicke, Eberhard Jüngel, Wolfhart Pannenberg und anderen mit ihren Theodizee-Interpretationen, wobei die Dialektische Theologie allerdings jegliche Theodizee ablehnte. Zusammenfassend stellt Sparn fest, dass die gegenwärtige protestantische Theologie Leibniz nicht für geeignet hält, »der ontologischen Reflexionsaufgabe der Theologie ein guter Ratgeber zu sein« (441 f.). Zweitens bestehe ein breiter Konsens darin, dass »das Theodizee-Problem auch und gerade nicht in Gestalt einer konsistenten Theorie zu lösen ist, das Nachdenken darüber vielmehr nur vorläufige Bedeutung hat« (442).
Trotz der Vielfalt der in diesem Band angesprochenen Themen gibt es noch eine Fülle weiterer systematischer und historischer Anknüpfungspunkte. Darum abschließend ein Hinweis auf zwei andere Sammelbände zur Théodicée: L’idée de théodicée de Leibniz à Kant: héritage, transformations, critiques, éd. par Paul Rateau, Stuttgart 2009; Lectures et interprétations des Essais de théodicée de G. W. Leibniz, éd. par Paul Rateau, Stuttgart 2011. Während der erste Band sich im besonderen Maße mit Kant beschäftigt, behandelt der zweite Gottes Wahl der besten Welt, Substanz und Körper, die Freiheit (und das Übel), Glaube, Vernunft und Wunder sowie Bemühungen Leibniz’ zur Wiedervereinigung der protestantischen Kirchen.
Darüber hinaus erstrebte Leibniz die Vereinigung aller Chris­ten, und auch dies ordnet sich seinem umfassenden Vereinigungsstreben ein. Dem Ökumeniker Leibniz wurde 2009 eine Tagung gewidmet, deren Beiträge in dem zweiten hier anzuzeigenden Band vorliegen. Das besondere Verdienst dieser Tagung war es, von der historischen Leibniz-Forschung ausgehend, den Bogen zum aktuellen ökumenischen Gespräch zwischen den protestantischen und der katholischen Kirche zu schlagen – einem Gespräch, das seinerseits von der historischen Leibniz-Forschung profitieren kann. Abgedruckt ist allerdings nur der Vortrag von Konrad Raiser (Professor für ökumenische Theologie an der Ruhr-Universität und 1992–2004 Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf), während über den Vortrag von Paul-Werner Scheele (bis 2003 Vorsitzender der Ökumenekommission der Deutschen Bischofskonferenz und Mitglied der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung der Ökumenischen Rates) in Hartmut Rudolphs Einleitung (14 f.) berichtet wird: Von Leibniz gehe für das gegenwärtige ökumenische Bemühen ein vielfacher Impuls aus: 1. Leibniz’ Verständnis der Wahrheit – auch der kontroversen Wahrheit des anderen – beruht auf einer »Hermeneutik des Vertrauens«, »wie sie auch im heutigen Dialog unverzichtbar bleibt«. 2. Leibniz erkannte, dass der ökumenische Prozess des Engagements für das Wohl der ganzen Menschheit bedarf. Also sind auch nichttheologische Fakten zu bedenken. 3. Bei Leibniz steht der Gedanke der Liebe im Zentrum des Einigungsstrebens, was dem »geistlichen Ökumenismus« des Zweiten Vatikanischen Konzils nahekommt. 4. Leibniz’ Universalismus bestimmt seinen Aufruf zur Mission, so wie das Zweite Vatikanum die Vereinigung aller Gläubigen auch von der Notwendigkeit der Mission her begründet. Raiser (»Zur gegenwärtigen Lage der Ökumene«, 291–303) hält die aktuelle Situation für vergleichbar mit der zur Zeit von Leibniz. Damals wie heute sei die Rolle der Kirchen nicht selbstverständlich, was zur Einsicht führe, dass eine ökumenische Verständigung unter den christlichen Kirchen nicht auf den traditionellen kontroverstheologischen Methoden beruhen kann. Der Dialog über das Selbstverständnis muss sich auf eine religiös plurale Welt beziehen und damit die wachsende Sensibilität gegenüber der Mission zur Kenntnis nehmen.
Schon dem jungen Leibniz (im katholischen Kurmainz) ging es bei seiner Ausarbeitung der natürlichen Theologie um eine Grundlage für ökumenische Bestrebungen, wie Ursula Goldenbaum (»Ein Lutheraner am katholischen Kurmainzischen Hof«, 17–32) am Beispiel seiner Verteidigung der christlichen Mysterien zeigt. Es waren gerade die Probleme der zeitgenössischen christlichen Offenbarungstheologie, die den Juristen Leibniz dazu brachten, nach Antworten der Metaphysik zu suchen. In Leibniz’ frühen offenbarungstheologischen und metaphysischen Schriften finden sich Grundlagen seiner ökumenischen Bestrebungen.
In welchem historischen Rahmen Leibniz’ Bemühungen um die Reunion der christlichen Kirchen standen und warum sie scheitern mussten, zeigen zwei Beiträge: Mathias Schnettger, »Rojas y Spinola, Molanus und Leibniz – Die (Re-) Unionsverhandlungen und ihr Scheitern« (33–50), beschreibt nicht nur die Ablehnung, auf die Spinola, Molanus und Leibniz stießen, sondern auch den Anteil des Kaisers an dem Projekt sowie die Interessenlage einzelner Fürstenhäuser. Ein wichtiger Grund des Scheiterns war, dass es der Kurie nur darum ging, die Protestanten in die katholische Kirche zurückzuholen (Re-Union), wie Margherita Palumbo in »Le Stravaganze dei Protestanti – Reunionsgespräche und Konversionsversuche aus der Perspektive der römischen Kurie« (51–73) aufgrund bisher unbekannter Quellen in den römischen Archiven belegt. In späterer Zeit widmeten allerdings eher katholische als protestantische Theologen dem Ökumeniker Leibniz ihre Aufmerksamkeit, die sich auch im Zusammenhang des Zweiten Vatikanums niederschlägt (Klaus Unterburger, »Der Rekurs auf Leibniz in der katholischen Theologie des 19. Jahrhunderts«, 255–274).
1907 erschien Jean Baruzis Leibniz-Buch, das den Blick auf den ökumenischen Praktiker Leibniz lenkt (Jaime de Salas, »Jean Baruzi’s Ecumenical Vision of Leibniz«, 275–290). Auf Seiten der protestantischen Theologie wurde lange Zeit ein tiefer Graben zwischen Vernunft und Glauben aufgerissen, so dass erst in jüngerer Zeit (wobei die Weltmissionskonferenz von Edinburgh 1910 den Anfang der ökumenischen Bewegung markiert) an Leibniz’ ökumenisches Denken angeknüpft wurde, so z. B. von Ulrich Becker (»Einleitende Bemerkungen zum Ökumeniker Leibniz in der Sicht des 19. und 20. Jahrhunderts«, 251–254).
Nicht nur die Vereinigung der Katholiken und Protestanten war Leibniz ein Anliegen. 1710 plante er ein Weltkonzil, das die englische Episkopalkirche und die östliche Orthodoxie mit einbeziehen sollte (Wenchao Li, »›Le point de ps. 10.14.21.32.‹ – Leibnizens Projekt eines Weltkonzils unter Peter dem Großen«, 87–94). Während dieses Projekt nur eine Eintagsfliege blieb, schlug sich Leibniz’ Wunsch nach geistigem Austausch mit dem chinesischen Denken in den Novissima sinica nieder, die beredtes Zeugnis für Leibniz’ »global views« ablegen (Hans Poser, »Leibniz’ Novissima Sinica as a Program for the Reunification of the Christian Confessions«, 75–86). In den Verhandlungen von Leibniz und Molanus mit dem Calvinisten Jablonski stützte sich Leibniz vor allem auf eine philosophische Klärung der grundlegenden Begriffe (Claire Rösler, »Negotium irenicum – Versuche eines innerprotestantischen Ausgleichs von G. W. Leibniz und D. E. Jablonski«, 137–157). Eher am Rande spielte auch die Kirchen- und Theologiegeschichte eine Rolle in Leibniz’ Argumentation. Hier ist z. B. an das Bekenntnis zum Synkretismus (Georg Calixt) zu denken (Stephan Waldhoff, »Aspekte kirchengeschichtlicher Argumentationen in Leibniz’ ökumenischen Schriften«, 95–135). In der innerprotestantischen Kontroverse stand vor allem die Abendmahlslehre einem Ausgleich im Wege (Irena Backus, »Leibniz’s Conception of Eucharist 1668–1699 and his Use of the 16th Century Sources in the Religious Negotiations between Hanover and Brandenburg«, 171–214).
Einer dieser grundlegenden Begriffe ist die Gerechtigkeit als Caritas, d. h. als universelles Wohlwollen (Patrick Riley, »The Ecumenical Leibniz – Religious Reconciliation through ›Wise Charity‹«, 159–170). Die damit verbundene Mäßigung kann man als aufklärerischen Bestandteil von Leibniz’ Ökumenik einordnen (Mogens Lærke, »Leibniz’s Enlightenment«, 227–250). Schließlich sei noch auf den Aufsatz von Luca Basso »Kirche als res publica – Leibniz’ Kirchenverständnis als Voraussetzung seiner Ökumenik« (215–225) hingewiesen: Leibniz’ »Universalismus« (224) versucht, sowohl in der Politik wie auch in der Philosophie und Theologie die Pluralität in eine höhere Einheit zu überführen.