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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

87–89

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Lauster, Jörg

Titel/Untertitel:

Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums

Verlag:

München: Verlag C. H. Beck 2014. 734 S. m. 89 Abb. Lw. EUR 34,95. ISBN 978-3-406-66664-3.

Rezensent:

Konrad Hammann

Am Anfang war Jesus. Dem Geheimnis seiner Person, wie es in seiner Botschaft von der nahen Gottesherrschaft, in seinen Wundern und in seiner radikalen Ethik aufscheint, mag historische Forschung nur unzulänglich auf die Spur kommen. Als »eigentliche Geburt des Christentums« hat ohnehin die Auferstehung Jesu zu gelten (31). In den Ostergeschichten des Neuen Testaments nämlich reflektiert sich augenscheinlich der unerklärliche Transzendenzeinbruch, auf den das Christentum letztlich zurückgeht (33). Was diesem Anfang folgte, dem geht Jörg Lauster in seiner großen Kulturgeschichte des Christentums nach. Er deutet das Christentum als »Sprache einer kontinuierlichen Verzauberung der Welt«, die den »Überschuss im Welterleben« als das »Aufleuchten göttlicher Gegenwart in der Welt« versteht (13). Dabei nimmt er – nach dem »cultural turn« – von vornherein die »kulturelle Erscheinungsvielfalt« des Christentums in den Blick (14).
Entstanden ist so, in solch weiter Perspektive, ein grandioses Panorama der schier unendlichen Manifestationen des Christlichen. Unterstützt von 25 Farbtafeln und 64 Schwarzweiß-Abbildungen, erzählt L. mit der schriftstellerischen Begabung der Imagination die Metamorphosen der christlichen Religion, demonstriert er deren enorme Wandlungskraft von ihren Anfängen bis in die Moderne. Suchte vor 100 Jahren Ernst Troeltsch die kulturprägenden Wirkungen insbesondere des Protestantismus in der modernen Welt zu erfassen, so weitet L. diesen dezidiert kulturprotestantischen Ansatz aus auf das gesamte Christentum, wie es sich in zwei Jahrtausenden von seiner altkirchlichen Formierung bis zu seiner neuzeitlichen Pluralisierung entfaltet hat.
Die religiöse Dimension der abendländischen Kultur und der seit dem 15. Jh. entdeckten neuen Welten vermag L. an klug ausgewählten Beispielen aus der bildenden und darstellenden Kunst, der Musik, des Kirchenbaus und der Literatur aufzuzeigen. Dass der ausgewiesene Ficino-Experte die Kunst und Kultur der Renaissance auf höchstem Niveau würde präsentieren können, war zu erwarten. Er versteht es aber gleichermaßen, die karolingische Renaissance sowie die mittelalterliche und neuzeitliche Kirchenarchitektur, den gregorianischen Choral wie die Musik Mozarts, das Schaffen Michelangelos und die religiöse Landschaftsmalerei Caspar David Friedrichs, die puritanische Romanliteratur ebenso wie die Werke Dostojewskis und Tolstois luzide zu interpretieren. In all diesen kulturellen Manifestationen spiegelt sich der Sinnüberschuss wider, dem das Christentum seine Existenz und die Welt den Reichtum christlicher Kultur verdankt. L. führt diesen Sinnüberschuss mit Rudolf Otto auf den Einbruch und die faszinierende Präsenz des Heiligen in der Welt zurück. Er zeichnet aber auch die Schattenseiten dieser lichtvollen Geschichte – Kreuzzüge und Ketzerverfolgungen, Hexenwahn, Kolonialisierungen und Religionskriege – überzeugend in sein Gesamtbild ein, ohne diese düsteren Phänomene der Unkultur zu einer billigen Kriminalgeschichte des Christentums zu instrumentalisieren.
Man kann L. darin zustimmen, dass das Christentum in kulturgeschichtlicher Perspektive mehr ist als sein Dogma und seine Institutionen, mehr auch als »die Fülle seiner Erscheinungsformen« (617). Doch stellt sich die Frage, was denn das Christliche am Christentum sei, gerade angesichts seiner diffusen Entwicklungen in der Moderne. Der bloßen Erinnerung an den der christlichen Religion inhärenten Wirklichkeitsüberschuss »eine größere religiöse Kraft als […] dem krampfhaften Festhalten an überkommenen Moral- und Lehrvorstellungen« (554) zuzubilligen, dürfte eine Option darstellen, die auf einer schiefen Alternative basiert. Für das Luthertum bringt die Rechtfertigungslehre auf den Begriff, was das Christliche am Christentum ist. Denn diese Lehre ist nicht ein Fundamentalartikel unter anderen, sondern der Grundartikel, der die gesamte christliche Lehre (und Praxis) strukturiert und durchdringt. Sie expliziert die universale Heilsbedeutung Jesu Christi und bringt so das Christliche am Christentum zur Darstellung.
Mit dieser Lehre kann L. aber offenkundig nicht viel anfangen. Er hält die Behauptung Albert Schweitzers, die Rechtfertigungslehre sei in der Theologie des Paulus nur ein »Nebenkrater«, für bare Münze (46). Der Rezensent teilt diese – auch nach der new perspective leicht zu widerlegende – Auffassung nicht. L. kommt auch in seiner knappen Darstellung Luthers faktisch ohne die Rechtfertigungslehre aus (297–302), lässt Luther das »Reich Gottes ganz in eine friedvolle Innerlichkeit der Glaubenden verlegen« (25) und erklärt die Kirche nach Luthers Verständnis gut idealistisch zu einem bloßen »Ereignis im Bewusstsein der Glaubenden« (301). Man muss nicht zu den Lutheranern gehören, denen L. bei passen der Gelegenheit attestiert, sie würden »keinen Spaß verstehen, wenn es um ihren Luther geht« (648), um hier signifikante Verzeichnungen wahrnehmen zu können. Von seinen Prämissen her bewertet L. konsequenterweise das Reformationszeitalter wegen der in ihm anhebenden »Überdoktrinalisierung des Christentums« nicht nur als einen »Triumph, sondern auch [als] ein großes Un­glück mit fatalen Folgen« (329). Folgerichtig sieht er in der Aufklärungsepoche unter kulturgeschichtlichen Aspekten eine größere Zäsur als in der Reformationszeit (407). Leider vermag er von da­her, sieht man einmal von der gelungenen Präsentation der evange-lischen Kirchenmusik ab, zumal der Musik Johann Sebastian Bachs (388–399), auch nicht recht den Umbruch zu würdigen, den die Reformation und die konfessionellen Kirchentümer gerade in kulturgeschichtlicher Hinsicht nachweislich herbeigeführt haben.
Das Buch ist im Übrigen über weite Strecken glänzend geschrieben. L. bedient sich einer eleganten, oft erfrischenden Sprache. Auf keiner Seite dieser Kulturgeschichte des Christentums kommt beim Lesen Langeweile auf. Eine kleine Blütenlese an Zitaten mag dies veranschaulichen: »Harnacks Lukas ist die religiöse Persönlichkeit des Kulturprotestantismus, der Lukas gegenwärtiger Exegeten Mitglied eines Sonderforschungsbereichs.« (41) Manchem fränkischen »Stammesführer hätte es nichts ausgemacht, auch Christus zu seinem Götterbankett einzuladen« (157). »Es gab tatsächlich einmal eine Zeit, in der es den Himmel auf Erden bedeutete, Theologieprofessor zu sein.« (223) Zur Klage Johann Friedrich Königs über die vielen Halbgebildeten auf den Kanzeln: »Es gibt Klagen, die sind zeitlos gültig.« (364) »Der Barock war das letzte Hochamt christlicher Einheitskultur in Europa.« (384) Johann Konrad Dippel »ging an das Tafelsilber des Luthertums, indem er die protestantische Verehrung der Bibel eine Bibliolatrie nannte« (406). Johann Salomo Semlers »Weichenstellungen gleichen einer theolo gischen Mondlandung« (423). Johann Melchior Goeze war der »Rottweiler« der »alten Orthodoxen« im 18. Jh. (425). »Eine Fassung der in der Aufklärung so häufig erörterten Theodizeefrage könnte auch lauten, warum Gott dem Christentum nicht mehr Spaldinge geschenkt hat.« (425) »Der Nationalismus wurde zum großen Sinnproduzenten des 19. Jahrhunderts.« (463) »Das 1950 verkündete Dogma von der Himmelfahrt Mariens zeigt, dass Theologen zu allen Zeiten und besonders in Rom alle Hände voll zu tun haben.« (516)