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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

86–87

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Harnack, Adolf von

Titel/Untertitel:

Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Fakultäten im Winterse-mester 1899/1900 an der Universität Berlin gehalten von Adolf v. Harnack. Hrsg. v. C.-D. Osthövener. 3., erneut durchges. Aufl.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2012. VIII, 327 S. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-16-151728-0.

Rezensent:

Joachim Weinhardt

Claus-Dieter Osthöveners Ausgabe von Harnacks Wesen des Chris­tentums erschien, jeweils neu durchgesehen und leicht erweitert, in den Jahren 2005, 2007 und 2012. Vergleicht man damit die vorgängigen Editionen dieser Schrift von Rudolf Bultmann (1950), Wolfgang Trillhaas (1977, 21985) und Trutz Rendtorff (1999), so zeigt sich eine immer noch wachsende Nachfrage nach Harnacks Jahrhundertschrift. Dass sich diese Vorlesungen sehr gut für Seminarübungen eignen, wird dabei wohl eine gewisse Rolle spielen. Harnack selbst hat seine Vorlesungen von 1899/1900 in eine Analogie zu Gottfried Arnolds Unparteiischer Kirchen- und Ketzerhistorie von 1699 und zu Schleiermachers Reden von 1799 gesetzt (259).
O.s Edition ist vorzüglich. Außer Harnacks Vorlesungen selbst gibt er noch eine Reihe von Materialien aus dem unmittelbaren Kontext ihrer Entstehung bei. Besonders interessant sind die Nachschriften der ersten beiden Vorlesungen durch einen unbekannten Studenten, der möglicherweise von Martin Rade damit beauftragt und bezahlt worden war. Es handelt sich bei diesem Text um die Reinschrift eines sehr zuverlässigen Stenogramms (189–203.257 f.). Harnack hatte seine Vorlesungen nur anhand von Stichwortlisten gehalten und sie dann auf der Grundlage einer Mitschrift des Studenten Walter Becker für den Druck überarbeitet (3). Diese Mitschrift ist nicht mehr überliefert. Der Vergleich der von O. veröffentlichten Reinschrift der ersten beiden Vorlesungen mit dem von Harnack autorisierten Text gibt einen gewissen Eindruck von Harnacks Art der Redaktion.
In der vorliegenden dritten Auflage von O.s Edition umfassen die Seiten 3–168 den Text der Vorlesungen nach der letzten Ausgabe, die Harnack noch selbst 1929 betreute. Druckfehler, die sich nach und nach bis in diese Ausgabe letzter Hand eingeschlichen hatten, wurden verbessert. Der Anhang (169–203) enthält außer der schon genannten Reinschrift die Vorworte zu Harnacks Wesensschrift, die dieser in die letzten Ausgaben nicht aufgenommen hatte, außerdem Notizen zum Wesen des Christentums aus dem Nachlass (174–184), die Leitsätze zu einem Vortrag über Die evangelische Theologie aus dem Jahr 1899 (185 f.; schon einmal veröffentlicht im Jahr 1909) sowie Harnacksche Glossen zu einem Gedicht Friedrich Rückerts (»Als wie der Mensch, so ist sein Gott, sein Glaube …«; 187 f.), die 1900 unter einem Pseudonym in der Christlichen Welt abgedruckt worden sind.
In allen drei Auflagen ist der Text der Vorlesungen und des An­hangs seiten- und zeilengleich abgedruckt. Die Anmerkungen (205–258) sind im Vergleich mit der ersten Auflage um fünf Seiten gewachsen. Die meisten von ihnen weisen Parallelstellen aus Harnacks anderen Werken zu den Vorlesungen nach oder klären Anspielungen auf Personen und Sachen auf. In diesem sehr reichhaltigen Anmerkungsapparat spiegelt sich auch der allgemeine Fortschritt in der Erschließung von Harnack-Texten aus dem Nachlass wider.
Im Nachwort (259–292) führt O. überblicksmäßig in Harnacks Biographie ein, beschreibt »Profil und innere Einheit« von dessen wissenschaftlichem Werk (265–270) und stellt die Entstehung und Wirkung des Wesens des Christentums dar (270–278). Die Seiten 278–290 führen in die Konzeption dieser Vorlesung ein. Die »Aktualität Adolf von Harnacks« bestehe darin, dass er in der Wesens-Vorlesung wie vor ihm Gottfried Arnold und Friedrich Schleiermacher versucht habe, »dem religiösen und wissenschaftlichen Zeitgefühl auf individuelle Weise einen allgemeinen Ausdruck zu verschaffen« (291). Auch für Harnack gelte Reinhart Kosellecks Definition eines Klassikers: »Unmöglich, zu ihm zurückzukehren, aber ebenso un­möglich, über ihn hinauszukommen« (292). Vielleicht teilen nicht alle Leser diese Beurteilung, deren beide Glieder ernst genommen werden müssen.
Das Buch wird hoffentlich noch lange einen guten Dienst tun bei der Einführung in die Theologie der vergangenen Moderne. Der Rezensent wünscht dem Herausgeber, dass er es noch einige Male in jeweils aktualisierter Form erscheinen lassen kann.