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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

84–86

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Witte, Karl Heinz

Titel/Untertitel:

Meister Eckhart: Leben aus dem Grunde des Lebens. Eine Einführung. 3. Aufl.

Verlag:

Freiburg u. a.: Verlag Karl Alber 2013. 461 S. Geb. EUR 29,00. ISBN 978-3-495-48579-8.

Rezensent:

Udo Kern

Der psychologische Psychotherapeut und gute Eckhartkenner Karl Heinz Witte schreibt eine umfängliche Einführung zu Meister Eckhart. Eckharts philosophisch-theologisches Denken will W. adäquat interpretieren, jedoch scheut er sich nicht vor heutiger – zum Teil für den Rezensenten auch problematischer – moderner Übertragung. Diese Einführung setzt erfreulicherweise einen anderen, qualitativ höheren Standard als das in den 1990er Jahren erschienene Werk von Norbert Winkler: Meister Eckhart zur Einführung, Hamburg 1997. Eine Zeittafel Meister Eckharts, Verzeichnis von dessen Schriften, Quellen, Werkausgaben, Literaturverzeichnis, Personen- und Sachverzeichnis beschließen W.s Einführung.
»Kein geistlicher Lehrer aus der christlichen Vergangenheit ist heute beliebter als Meister Eckhart.« (15) Mehrfach macht W. deutlich, warum er seine Einführung »Leben aus dem Grunde des Lebens« nennt. Er meint, »dass der dynamische und existenzielle Charakter der Ontologie Eckharts sich besonders deutlich im Be­griff ›Leben‹ spiegelt, der sowohl das Sein wie das Vernünftigsein und auch die ›Erstbestimmungen des Seins‹ (termini generales), zum Beispiel Einssein, Gutsein, Gerechtsein, einschließt« (21). Mit Recht sagt W. von Eckhart: »Der Grund des Lebens ist zugleich der Grund der Liebe. Eckharts Kernaussage ist zu­sammengefasst in dem Satz« in Eckharts Predigt (Pr. 6, DW I, 109,9 f.): »Er gebiert mich [als] und mich [als] sein Sein und seine Natur.« (421) Daraus folgt für W. bei Eckhart »für jeden anderen Menschen« ein »reines ›ich‹, in seiner Ipseität« und in Wahrheit. »Das begründet nicht nur eine ontologische Einheit der Menschen, sondern auch den Anspruch auf eine existenzielle Gleichheit. Das ist der Grund der Liebe.« (421) Darum schließt W.s Buch mit einem Wort aus Predigt 63 (Pr. 63, DW III, 82,3–9): »Nun sage ich: ›Der in der Liebe ist, der ist in Gott, und er ist in ihm‹ (1 Joh. 4,16). Wenn mich jemand fragte, wo Gott sei, antworte ich: Er ist überall. Wenn mich je­mand fragte, wo die Seele sei, die in Liebe ist, sagte ich: Sie ist überall. Denn Gott liebt, und die Seele, die in Liebe ist, die ist in Gott, und Gott ist in ihr. Und da Gott überall ist und sie in Gott ist, so ist sie nicht halb in Gott und halb nicht. Und da Gott in ihr ist, so muss die Seele notwendig überall sein, weil der in ihr ist, der überall ist. Gott ist überall in der Seele, und sie ist in ihm überall. Also ist Gott ein Alles ohne alles [Einzelne], und sie ist mit ihm ein Alles ohne alles [Einzelne].« (421)
W. setzt sich mit Kurt Flaschs ›Präsentation‹ Eckharts auseinander, der Eckhart mit Dietrich von Freiberg auf »die philosophischen Grundlagen für ein alternatives christliches Selbstverständnis« orientiert habe, welches jedoch weder in der Theologie noch »in der westlichen Philosophiegeschichte […] aufgegriffen worden« sei (43). Die Intention von K. Flasch für heutige Eckhartleser sei es, ›Distanz schaffen‹ und nicht der ›Mystikindustrie‹ zu verfallen (44). Eckhart selbst habe nach W. den Begriff der Mystik wenig ge­braucht. Jedoch sei Eckharts »zutreffende Zugangs- oder Wahr-Nehmungs-Weise […] ›mystisch‹« (403). W. beruft sich hier auf Pr. 5b, DW I, 90,6-12 und interpretiert sie dem entsprechend. Nun ist nicht nur im Sinne der Bochumer Schule, sondern auch im Sinne des Rezensenten tatsächlich zu fragen – wenn auch gewohnt –, ob es in der Tat gerechtfertigt ist, Meister Eckhart als Mystiker zu bezeichnen. An­dererseits kennt auch W. die Mystikdiskussion um Meister Eckhart.
Eckhart beharrt auf authentischem Wahrheitsverständnis. Al­lerdings sei es zum Verständnis der Wahrheit notwendig, die Wahrheit zu verstehen. Die adaequatio rei et intellectus ergibt sich dem, der die Wahrheit erfährt.
In Eckharts Opus tripartium vertritt dieser die Hauptthese ›esse est deus‹. Der Satz ›Das Sein ist Gott‹ überrascht auch gemeinscholastisch durch die Subjektstellung des Seins: »So möge zum Beispiel der Name ›Gott‹, von dem unsere Predigt handelt, durch einen andern ersetzt werden. Nennen wir ihn das Sein, welches der eine Gott ist. Es steht fest, dass vom Sein selbst alle Dinge sind. Gleichermaßen sind durch das Sein alle Dinge und im Sein sind alle Dinge. Was nämlich außerhalb des Seins ist, das ist sicherlich nichts.« (Sermo II,2 n. 13, LW IV, 14,10–14; zit. auf S. 82)
Mit Recht sagt W.: »Eckhart identifiziert nun nicht nur die ontologischen perfectiones generales, seiend, wahr, gut, mit Gott, sondern auch die perfectiones spirituales, die geistigen Wesenszüge: Leben, Erkennen, Gerechtigkeit, ethisches Gutsein, Liebe, Licht.« (308) Nach Eckharts Transzendentalienlehre verdankt sich »die richtige Meinung und Haltung unmittelbar aus dem Rechtsein, das heißt letztlich aus Gott selbst« (253). Eckhart schreibt (In Sap. n. 45, LW II, 368,4–7): »Und das ist, was wir sagen wollen: Die Tugenden, zum Beispiel die Gerechtigkeit […], sind nämlich aktuelle Um- und Einstellungen (actu configurationes) eher denn etwas innebleibend Geformtes, das einen Halt und eine Wurzel im tugendhaften Menschen hätte, und sie sind in unaufhörlichem Entstehen (continuo in fieri) wie der Glanz [des Lichtes] auf seinem Träger und das Bild im Spiegel.« (253)
W. sieht Eckhart als »Wegweiser für ein neues Selbstverständnis des Menschen« (193). Eckhart vertrete ein »revolutionäres Selbstverständnis des Menschseins«, das das des Aristoteles überschreite (196). Eckhart zeigt, dass es ihm »nicht nur um die gewohnte Lehre vom Menschsein oder von der Erkenntnisfähigkeit des Menschen schlechthin geht, sondern um ein ausgezeichnetes Vernunftsein des Menschen, um die reine Vernunft. Und damit geht Eckharts Verständnis der menschlichen Erkenntnisfähigkeit über die […] ›aristotelische‹ Sicht hinaus.« (198)
Auch Plato transzendiere Eckhart (203). In Eckharts Predigt (Pr. 28, DW II, 67,1–68,4) heißt es: »Nun äußert sich Plato, […] er hebt an und will von großen Dingen reden. Er spricht von einer Lauterkeit, die nicht in der Welt ist. – Sie ist weder in der Welt noch außer der Welt, es ist etwas, das weder in der Zeit noch in der Ewigkeit ist, das weder Äußeres noch Inneres hat. Aus ihr treibt Gott, der ewige Vater, die Fülle und den Abgrund seiner ganzen Gottheit hervor. Das gebiert er hier in seinem eingebornen Sohn und [bewirkt], dass wir derselbe Sohn sind. Sein Gebären ist sein Innebleiben, und sein Innebleiben ist sein Ausgebären. Es bleibt immer das Eine, das in sich selber quillt.« (203)
Selbstverständlich beschäftigt sich W. mit der Eckhartschen Abgeschiedenheit und Gelassenheit. Allerdings berücksichtigt W. nicht im Literaturverzeichnis die diesbezügliche fundamentale Arbeit von Erik A. Panzig aus dem Jahre 2005. Überhaupt muss auf Desiderate in der Forschungsliteratur hingewiesen werden. So vermisst man u. a. Literaturverweise auf Alois M. Haas, Bernhard Welte, Eberhard Winkler und den Rezensenten.
W. schreibt eine Einführung zu Meister Eckhart. Warum lässt er sich nicht auf ein Gespräch mit dem – zugegebenermaßen heideggerisch geprägten – Autor Bernhard Welte und seinem Buch Meis­ter Eckhart. Gedanken zu seinen Gedanken aus dem Jahre 1979 ein? Welte gab eine wesentliche Hinführung zu dem thüringischen Meister, deren Ertrag man sich nicht entgehen lassen sollte. Jedoch gilt: Der in München lebende W. hat eine sehr profilierte Einführung zu Meister Eckhart geschrieben.