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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

73–75

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Iggers, Georg G., Wang, Q. Edward, u. Supriya Mukherjee

Titel/Untertitel:

Geschichtskulturen. Weltgeschichte der Historiografie von 1750 bis heute. Aus d. Engl. v. S. Hornfeck u. A. Ott

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013. 416 S. Geb. EUR 49,99. ISBN 978-3-525-30050-3.

Rezensent:

Dirk Fleischer

Bei manchen Büchern wundert man sich, dass es sie noch nicht gibt. Dies gilt auch für die zunächst im Jahre 2008 publizierte englischsprachige Überblicksdarstellung zur historiographischen Praxis in vielen Regionen der Welt seit der Mitte des 18. Jh.s, die jetzt unter dem Titel Geschichtskulturen. Weltgeschichte der Historiografie von 1750 bis heute in überarbeiteter und erweiterter Fassung in deutscher Übersetzung erschienen ist. Sie stellt erstmals die Vielfalt, aber auch Gemeinsamkeiten der Geschichtsschreibung in aller Welt vor. Verfasser dieses Werkes sind Georg G. Iggers, der bis zu seiner Emeritierung Professor in Buffalo (New York) war und zahlreiche Werke zur Geschichte der Historiographie veröffentlicht hat, Q. Edward Wang, der an der Rowan University, Glassboro (New Jersey) sowie an der Peking University in China als Professor für Geschichte tätig ist, und Supriya Mukherjee, die Geschichte an der University of Manitoba (Kanada) lehrt.
Die Diskussion über das Konzept einer transnationalen oder globalen Geschichte gewinnt in der geschichtswissenschaftlichen Diskussion allmählich an Kontur. Zunehmend mehr Beiträge fühlen sich diesem Konzept verpflichtet und erbringen Deutungsleis­tungen auf der Grundlage transnationaler Fragestellungen. Dies gilt nicht nur für weltgeschichtliche Überblickswerke, sondern auch für begrenzte Studien, die einzelne Phänomene unter transnationalen Perspektiven interpretieren. Diese an transnationalen bzw. globalen Zusammenhängen orientierte Geschichtsschreibung jenseits des Nationalstaates und auch jenseits der Diffusion westlicher Errungenschaften ist eine Folge und Konsequenz der fundamentalen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Prozesse der Gegenwart, sprich der Globalisierung. Erst sie hat auch ins Bewusstsein treten lassen, dass jede dieser Weltkulturen ihre je eigene Geschichtsschreibung hervorgebracht hat. Während sich die Geschichtsschreibung auf den Weg gemacht hat, um dem so-zial wirksamen Orientierungsbedürfnis nach einer Deutung der Globalisierung nachzukommen, ist die komparative Untersuchung der Sinnbildungsleistungen der Geschichtsschreibung in den unterschiedlichen Regionen der Welt bislang ein Desiderat der Forschung. Wichtige Erkenntnisse, die zwar dieses Forschungsdesiderat nicht völlig beheben können, bietet jetzt das zu besprechende Werk.
Für die Autoren besteht eine »entscheidende Schwäche der exis­tierenden Darstellungen der Historiografie« darin, »dass sie historische Gelehrsamkeit zu ernst nehmen; dabei unterschätzen sie, in welchem Maße Gelehrsamkeit in westlichen wie auch in nichtwestlichen Gesellschaften Teil einer umfassenderen historischen Kultur ist« (17). Für ihre Arbeit ziehen sie aus diesem Faktum die Konsequenz, auch andere »Aspekte der Gesellschaft« (19) bei ihrer Untersuchung der Geschichtsschreibung zu berücksichtigen. Da­mit formulieren sie einen methodischen Ansatz, der bei der Untersuchung von historiographischen Werken eigentlich Standard sein sollte. Leitende Kategorien ihrer Interpretation sind die Globalisierung und die Modernisierung.
Das lesenswerte Buch gliedert sich in acht Kapitel. Zu Recht beginnen die Verfasser ihre Darstellung im ersten Kapitel mit einem Überblick über die historiographischen Traditionen im Westen, dem Nahen Osten, Ost- und Südostasien sowie in Indien im 18. Jh., denn in diesem Jh. entwickelte sich das moderne geschichtliche Denken, das bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jh.s die Theoriebildung über geschichtliche Ereignisse bestimmte. Mit Recht betonen die Autoren, »dass ein historisches Bewusstsein nicht ein Privileg des Westens war, sondern in allen Kulturen existierte« (23). Die Darstellung zeigt deutlich die zahlreichen Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen, aber auch Gemeinsamkeiten wie den »weitreichende(n) Einfluss der Aufklärung in Europa und anderswo« (33).
Die beiden folgenden Kapitel beschäftigen sich mit dem 19. Jh. Prägnant beschreiben die Autoren einerseits die Ausprägung des Nationalismus und die Entstehung einer nationalistischen Ge­schichtsschreibung mit den entsprechenden erkenntnisleitenden Interessen im Westen, im Nahen Osten und in Indien. Zum anderen wird die Professionalisierung und Institutionalisierung der Fachwissenschaft Geschichte im Zeichen des Historismus dargestellt. An dieser Stelle hätten sicherlich die neueren Studien zur Aufklärungshistorik stärker berücksichtigt werden müssen, die belegen, dass z. B. die Professionalisierung der historischen Er­kenntnisarbeit bereits im Zeitalter der Aufklärung begonnen hat. Überzeugend wird dagegen die Rezeption deutscher Historiker in anderen Regionen der Welt nachgewiesen, beispielsweise die Re­zeption Rankes in Japan.
Das vierte Kapitel bietet einen konzisen, knappen Überblick über die Geschichtsschreibung im Zeichen der beiden Weltkriege und erläutert die Krise des Historismus, die u. a. mit den Namen von Ernst Troeltsch und Friedrich Meinecke verbunden ist. Das fünfte Kapitel beschreibt die nationalistische Geschichtsschreibung, ihre Erkenntnisinteressen und die entsprechenden politischen Motive in aller Welt im 20. Jh.
Das sechste Kapitel behandelt die Nachkriegszeit. Hier werden die unterschiedlichen Spielarten der Sozialgeschichte, etwa die »Annales«, der »Cultural Turn« und die Postmoderne, der »Linguis­tic Turn« in der Geschichtswissenschaft sowie die Historiographie im Zeichen des Postkolonialismus in Indien, China und anderen Regionen der Welt vorgestellt. Das siebte Kapitel thematisiert die Geschichtsschreibung im späten 20. Jh. in Asien und im Nahen Osten, die vor allem durch das Entstehen des Islamismus und den Rückgang des Marxismus gekennzeichnet ist.
Im letzten Kapitel beschäftigen sich die Autoren mit den jüngs­ten Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft. Nach dem Ende des Kalten Krieges gibt es, so die Autoren, »auf der ganzen Welt fünf Hauptströmungen oder Schwerpunkte« (340): 1. die Fortführung von Cultural und Linguistic Turn, 2. die Gender-Geschichte, 3. die Allianz von Geschichtswissenschaft und Sozialgeschichte, 4. die Herausforderungen der nationalen Historiographie sowie 5. die Globalgeschichte. Diese beschriebene Vielfalt innerhalb der Ge­schichtsschreibung deckt sich mit der verbreiteten Ansicht über die Situation der Geschichtswissenschaft.
Den Autoren ist ein kluges, ausgewogenes und sorgfältig gearbeitetes Buch gelungen, das allerdings oft den Eindruck eines Handbuches erweckt.