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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

71–73

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Herbst, Magdalena

Titel/Untertitel:

Karl von Hase als Kirchenhistoriker

Verlag:

Tü­bingen: Mohr Siebeck 2012. XX, 534 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 167. Lw. EUR 114,00. ISBN 978-3-16-150956-8.

Rezensent:

Christopher Spehr

Die vorliegende Studie, die 2010 als Dissertation von der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena angenommen wurde, will einen wissenschaftshistorischen Beitrag zum Selbstverständnis der Kirchengeschichte als universitärer Disziplin leisten. Um dieses ehrenwerte Vorhaben realisieren zu können, wählt Magdalena Herbst das Leben und Werk des Kirchenhistorikers Karl August von Hase (1800–1890), welchen Adolf von Harnack einst als »de[n] Kirchengeschichtsschreiber des 19. Jahrhunderts« charakterisierte. Mit ihrer zu Recht durch den Promotionspreis der Universität Jena 2011 ausgezeichneten Untersuchung legt die Nachwuchswissenschaftlerin ein venerabeles Werk vor. Klar ge­gliedert, methodisch reflektiert, quellenkritisch differenziert, wissenschaftlich pointiert und dazu in einem glänzenden Stil verfasst, bietet die von Volker Leppin betreute Studie ein kirchengeschichtliches Bildungserlebnis. Wer sich in Zukunft mit der Theologiegeschichte und Kirchenhistoriographie – nicht nur – des 19. Jh.s be­fasst, wird an H.s Studie nicht vorbeikommen.
Die Untersuchung gliedert sich in sechs Teile. Nach einer über die bisherige Haseforschung orientierenden Einleitung (1–14), die anders als Bernd Jaeger in seiner Monographie »Karl von Hase als Dogmatiker« (Gütersloh 1990) die Beiträge zur Kirchenhistoriographie herausarbeitet, setzt Teil A (15–69) biographisch an. Hierbei rekonstruiert H. Hases universitäre Studien in Leipzig, Erlangen und Tübingen sowie philosophisch-theologische Einflüsse, die von der ausklingenden Aufklärung in Form des gemäßigten Rationalismus und erwachenden deutschen Nationalismus bis hin zu Idealismus und Romantik mit Schwerpunkten bei Schellings Philosophie und Schleiermachers Theologie reichen. Während Hase mit großer Eigenständigkeit an den führenden philosophischen, dogmatischen und literarischen Strömungen seiner Zeit partizipiert, zeigte er am Studium der Kirchengeschichte kein besonderes Interesse. Das änderte sich erst durch seine Tätigkeit an der Jenaer Fakultät, wo das Fach Kirchengeschichte unterrepräsentiert war. Um dem mangelnden Lehrangebot Abhilfe zu leisten, begann Hase im Sommersemester 1831 kirchengeschichtliche Vorlesungen zu halten und ein Lehrbuch für Kirchengeschichte zu projektieren.
Den kirchengeschichtlichen Wirkungsfeldern widmet sich H. im Teil B (70–166). Von den universitären Vorlesungen (mit stichprobenartiger Untersuchung und statistischer Auswertung der Zusammensetzung der Hörerschaft), über das in elf Auflagen zwischen 1834 und 1886 publizierte Hauptwerk »Kirchengeschichte. Lehrbuch für academische Vorlesungen«, Vortragstätigkeiten, kleinere kirchengeschichtliche Publikationen in Fachorganen und Kirchenzeitungen bis hin zu Rezensionen werden alle Tätigkeitsbereiche analysiert und sachgemäß kontextualisiert. Dass H. bei ihren Recherchen auf zahlreiche Neuentdeckungen von Publikationen Hases stieß, zeugt von der Akribie, mit der diese Studie erarbeitet wurde. Ergänzt werden könnte die umfangreiche Rezensionsliste zu Hases Schriften noch um eine anonyme Besprechung des 1827 veröffentlichten Romans »Die Proselyten« im »Intelligenz-Blatt zum Morgenblatt für gebildete Stände« 1827, Nr. 1, S. 4.
Teil C dringt sodann zu den konzeptionellen Grundlagen der Kirchenhistoriographie Hases vor (167–254), welche H. anhand der frühen dogmatischen Schriften des Jenaer Theologen darlegt. Nach einer grundlegenden Einführung in die Entwicklungstendenzen der (Kirchen-)Geschichtswissenschaft des (frühen) 19. Jh.s wird Hases Geschichtsbegriff als »das faktisch Geschehene« und deren »Erzählung« (200) definiert und innerhalb der zeitgenössischen idealistischen und romantischen Geschichtstheorien kontextualisiert. Für Hase ist das Geschehen ein »organischer Zusammenhang« von »göttlicher Vorsehung und menschlicher Freiheit«, »in welchem sich das unendliche Leben der Menschheit darstellt« (201). Die Erzählung von Geschichte, d. h. die Geschichtsschreibung, bringe »die unendliche Mannigfaltigkeit individuellen Lebens zur Darstellung« (206), so dass für Hase vornehmlich das historisch Gewachsene in Form des Individuellen sinnvoll erscheint und sich bei ihm in der Dominanz biographischer Darstellungsformen auszudrücken vermag. Über die wenig überraschende Charakterisierung der Religionstheorie Hases als »anthropologischer« (209) und der Kirche als »im Werden begriffene[r] Gemeinschaft religiösen Lebens« (211) dringt H. zu Hases »Protestantismustheorie« vor, nach welcher – zeittypisch für das 19. Jh. – der Protestantismus als »Realisierungsgestalt der idealen Kirche« zwischen Ideal und empirischer Erscheinung zu unterscheiden weiß (221). Hinsichtlich der Methodik, die von Hases Bemühen um größtmögliche Wissenschaftlichkeit in der Kirchengeschichte bestimmt ist, beobachtet H. drei Aspekte: kritische Analyse der Quellen, genetische Erklärung des Zusammenhanges historischer Ereignisse und deren philosophischer bzw. theologischer Deutung (232). An die pragmatische Methode der Aufklärungshistoriographie knüpfe Hase zwar noch an, beginne aber zunehmend sich von ihr zu distanzieren. Eine Verabsolutierung des Historismus sehe Hase skeptisch. Bevor H. das »Repräsentativsystem« als ein Strukturmoment der Auswahl des historischen Stoffes entfaltet, notiert sie definitorisch: »Kirchengeschichtsschreibung ist für Hase das Selbstbewusstsein des religiösen Geistes in allen seinen Gestalten, insofern der durch diesen Geist bestimmte Kirchenhistoriker denselben in der Kirchengeschichte (in individuellen Realisierungsgestalten) wiederzuerkennen vermag.« (234, kursiv durch H.). Das meint: Darstellbar ist das nach Hase unendliche religiöse Leben nur im Endlichen und Begrenzten. Hinsichtlich der Periodeneinteilung und Stoffgliederung plädiert er für eine elastische und flexible Gestaltung, die jeweils von der Gegenwartsdeutung abhänge. Unter Ablehnung von statischer Strenge wendet Hase schließlich die vermutlich auf Christoph Cellarius 1688 zurückgehende dreigliedrige Periodisierung (Antike – Mittelalter – Neuzeit) konsequent auf die Kirchengeschichte an. Ob Hase allerdings derjenige ist, der in der Kirchengeschichtsschreibung diese Einteilung überhaupt erst einführt (so H. in Anlehnung an Karl Heussi), müsste noch einmal genauer untersucht werden.
Das inhaltliche Profil der Kirchengeschichtsschreibung Hases bestimmt H. in Teil D (255–309), indem sie einerseits »Heilige« und »Propheten« als dessen bevorzugte Gestalten, sein Interesse an der zeitgeschichtlichen Situation im Sinne des Liberalismus und In-teressen am römischen Katholizismus ventiliert, andererseits an­hand Hases typisch »neuprotestantischer« Reformationsgeschichtsschreibung dessen Protestantismusverständnis exemplarisch diskutiert. Auf diese Beobachtungen aufbauend wäre es wert, eine eingehende Untersuchung zu Hases Verständnis und Verhältnis zum zeitgenössischen Katholizismus durchzuführen.
Die im Teil E (310–345) dargestellten Auseinandersetzungen um Hases Kirchengeschichtsschreibung mit Fachkollegen wie dem Göttinger Kirchenhistoriker Johann Karl Ludwig Gieseler, dem Tübinger Theologieprofessor Ferdinand Christian Baur und dem kurmärkischen Generalsuperintendent Ludwig Friedrich Wilhelm Hoffmann verlebendigen Hases liberalprotestantisches Profil. Schließlich entfaltet H. in Teil F die Rezeption von Hases Kirchengeschichtsschreibung, wodurch die außerordentliche Wirkung, aber auch die Grenzen des Konzeptes deutlich werden (346–403).
Ein Anhang mit statistischem Material, ein umfangreiches Quel­len- und Literaturverzeichnis, das das bisher präziseste Schriftenverzeichnis Hases bietet, sowie Personen-, Orts-, Zeitschriften- und Sachregister runden eine Studie ab, die selbst ein gelungenes Beispiel für eine Kirchengeschichtsschreibung nach Hase ist: Im »engsten Anschluss an die Methodik wissenschaftlicher Ge­schichtsschreibung« verliert sie den Horizont »einer theologischen Deutung der Geschichte des Christentums nicht aus den Augen« (412).