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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

69–71

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Nienhuis, David R., and Robert W. Wall

Titel/Untertitel:

Reading the Epistles of James, Peter, John, and Jude as Scripture. The Shaping and Shape of a Canonical Collection

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2013. XVII, 314 S. Kart. US$ 30,00. ISBN 978-0-8028-6591-5.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Die Katholischen Briefe werden in der jüngeren Forschung zunehmend nicht mehr nur je für sich theologisch und historisch ernst genommen, sondern auch als Korpus von Apostelbriefen, dem im neutestamentlichen Kanon neben dem Corpus Paulinum eigenes Gewicht zukommt. Programmatisch stehen dafür die Arbeiten von Robert W. Wall, Professor an der Seattle Pacific University, der schon in den 1990er Jahren mit einer methodischen Studie zu diesem Ansatz (The New Testament as Canon. A Reader in Canonical Criticism, Sheffield 1992, zusammen mit E. E. Lemcio) sowie einem Kommentar zum Jakobusbrief, der ihm folgt, hervorgetreten war (Community of the Wise. The Letter of James, Valley Forge 1997). David R. Nienhuis, inzwischen Kollege von Wall in Seattle, hat 2007 seine Dissertation zum Jakobusbrief im Zusammenhang der neutestamentlichen Kanongeschichte publiziert (Not By Paul Alone. The Formation of the Catholic Epistle Collection and the Christian Canon. Waco 2007, Rez. Th. K. Heckel, in: ThLZ 134 [2009], 71–72). Beide Autoren legen nun ihre Gesamtinterpretation der Katholischen Briefe vor.
Das Buch besteht aus drei Teilen, einer Einführung in die kanonische Sammlung der Katholischen Briefe, einer Einführung in alle sieben Einzelbriefe sowie einer zusammenhängenden theologischen Interpretation des Briefkorpus. Eine gegliederte Bibliographie und Register beschließen den Band, der relativ sparsam mit Fußnoten ausgestattet ist und sich um eine auch für Nichtspezialisten nachvollziehbare, theologisch engagierte Sprache und Darstellungsweise bemüht. Erwachsen ist er aus der gemeinsamen Lehrtätigkeit der Autoren. Methodisch und im Blick auf ihre theologischen Intentionen beziehen sie sich auf Impulse von Brevard Childs und seinen Ansatz einer kanonisch ausgerichteten Biblischen Theologie, entwickeln ihn aber mit Blick auf ihr Textkorpus eigenständig weiter. Dabei erhalten die kanongeschichtlichen Prozesse der Herausbildung einer Sammlung von sieben nichtpaulinischen Apostelbriefen im frühen Christentum bis zum 4. Jh. besondere Aufmerksamkeit. Diese Phase der Rezeption ursprünglich einzeln entstandener Briefe und ihrer Zusammenführung zu einem bewusst gestalteten Briefkorpus bildet die vorherrschende Lesestrategie, für die Einzelbriefe wie für die Sammlung als Ganze.
Im kanongeschichtlich ausgerichteten ersten Teil wenden sich die Autoren gegen die Isolierung der Katholischen Briefe voneinander und ihre Untersuchung lediglich als Teil der literarischen Hinterlassenschaften unterschiedlicher Autoren. So werden die drei Johannesbriefe in der Regel nur in ihrer Beziehung zum Johannesevangelium behandelt, die beiden Petrusbriefe nur in ihrem Verhältnis zueinander (bzw. beim 2Petr zum Judasbrief) und der Jakobusbrief allenfalls im Vergleich mit Paulus. Demgegenüber ma­chen Wall und Nienhuis deutlich, dass spätestens seit dem 2. Jh. die Briefe in der kirchlichen Überlieferung nicht mehr primär »historisch« gelesen worden sind, sondern als apostolische Zeugnisse, für deren Verständnis einerseits die Apostelgeschichte, andererseits sachlich oder geschichtlich verwandte Aussagen im Corpus Paulinum (einschließlich der heute als ›deuteropaulinisch‹ beurteilten Briefe) herangezogen wurden. Besondere Bedeutung kam dabei (ne­ben den einschlägigen narrativen Passagen der Apostelgeschichte) dem Bild apostolischer Gemeinschaft zu, wie es exemplarisch in Gal 2,9 vor Augen tritt: Jakobus, Kefas und Johannes, die Jerusalemer »Säulenapostel«, reichen Paulus und Barnabas die Hand zur Gemeinschaft im Aposteldienst. Schlagender Beweis für die Wahrnehmung solcher scheinbar äußerlichen Gesichtspunkte im Zuge der neutestamentlichen Textüberlieferung ist das Zeugnis von Codex D, bei dem die Reihenfolge von Petrus und Jakobus an dieser Stelle vertauscht ist und dementsprechend auch im Inhaltsverzeichnis der Katholischen Briefe die Petrusbriefe vor dem Jakobusbrief zu stehen kommen.
Im Zuge der Textüberlieferung und der Sammlungsgeschichte der Katholischen Briefe bildet sich somit bis zum 4. Jh. ein zusammenhängendes Ganzes heraus, das nach theologisch-ästhetischen Prinzipien gestaltet ist. Die beiden Herrenbruder-Briefe (Jak und Jud) bilden eine Klammer um das Briefkorpus. Der Jakobusbrief ist sein »Frontispiz«, die auffällig lange, feierliche Doxologie am Schluss des kurzen Judasbriefes sein solenner Abschluss. Mit dem Jakobusbrief und seinen theologischen Schwerpunkten bei der jüdischen Überlieferung und bei der Einheit von Wort und Tat im Glauben wird im Rahmen der kanonischen Briefsammlungen des Neuen Testaments gezielt ein Gegengewicht zur paulinischen Theologie geschaffen. Durch intertextuelle Anspielungen er­schließt sich den »kanonischen Lesern« das Ganze der neutestamentlichen Botschaft als ein vielstimmiges, aber in sich ausgewogenes Zeugnis.
Im zweiten Teil werden die Einzelbriefe jeweils nach einem dreistufigen Verfahren behandelt: Zunächst wird das kanonische Bild des Autors skizziert (nicht ein historisch rekonstruiertes!), die literarische Komposition des betreffenden Briefes in Grundzügen nachgezeichnet und seine Kanonisierung beleuchtet. Es folgt ein fortlaufender Kurzkommentar. Schließlich werden die theologischen Grundaussagen systematisch erfasst. Als Gliederungsmuster für die theologische Auswertung dient – bezeichnend für Ansatz und Anliegen des Buches – eine Zusammenfassung der regula fidei bei Tertullian (De Praescriptione Haereticorum 13). Demnach werden Aussagen zu Gott als Schöpfer, zu Jesus Christus als von Gott gesandtem Wort, zu der vom heiligen Geist geleiteten Gemeinde, zur Jüngerschaft in Anfechtung und Nachfolge sowie zur Vollendung der Welt bei der Wiederkunft Christi zusammengestellt. Auf diese Weise soll »a more fully formed biblical theology in-formed by the full breadth and depth of the ancient apostolic witness« (73) erhoben werden.
Der dritte Teil erfasst »The Unifying Theology of the Catholic Epistle Collection« und damit »this collection’s theological coherence« (247 f.). Ausgehend von der Überzeugung, dass das Korpus im kanonischen Zusammenhang fortlaufend und im Ganzen gelesen werden kann und will, und zwar vorwärts und rückwärts, empfehlen die Autoren »an interpretive approach […] that approaches the aesthetic of the whole collection as envisaging a working grammar or logic that aids the reader in bringing to full potential the contribution it makes to Scripture’s witness of God’s word« (250). Nach einem erneuten Durchgang durch die Einzelbriefe steht am Schluss eine Zusammenfassung der theologischen Schwerpunkte der Sammlung, die wiederum der schon erwähnten Gliederung nach der regula fidei bei Tertullian folgt.
Das Buch entfaltet und exerziert eine reflektierte, theologisch ausgerichtete Auslegungsweise der Schrift, die neben der herkömmlichen, primär historisch-hermeneutisch arbeitenden Exe­gese ihren Platz beansprucht, ohne sie ersetzen zu wollen und zu können. Den Katholischen Briefen kommt dabei das Gewicht zu, das ihnen innerhalb des Neuen Testaments gebührt, in der neueren Fachexegese (nicht in der kirchlichen Praxis!) aber meist verweigert worden ist. Kritisch befragen kann man den theologischen Maßstab, der von der regula fidei nach Tertullian abgeleitet wird, die im frühen Christentum zwar zweifellos bedeutsam, aber eben keineswegs irgendwie autoritativ war. Eher nachvollziehbar wäre, wenn überhaupt, dann ein Maßstab, wie er sich im Zuge der Be­kenntnisbildung bei den ökumenischen Konzilien im 4. Jh. herauskristallisiert hat. Das würde auch besser zu der in derselben Zeit abschließend fixierten kanonischen Sammlung passen. Beide An­sätze verdecken aber, dass im Zuge der Bekenntnisbildung ebenso wie bei der Herausbildung des neutestamentlichen Kanons auch Verluste entstanden sind, die unter Bezug auf die neutestament-lichen Schriften und ihren Entstehungskontext im 1. Jh. kritisch zu reflektieren sind. Als gravierendsten dieser Verluste nenne ich hier nur die theologische Bedeutung Israels für das Selbstverständnis der Kirche und ihren Christusglauben, ein Aspekt, der weder in den altkirchlichen Bekenntnissen noch in der hier vorliegenden Interpretation der Katholischen Briefe in ihrem kanonischen Zusammenhang das Gewicht erhält, das ihm nach dem Zeugnis der Schriften des 1. Jh.s zukommen müsste. Eine bezeichnende theologische Lücke!