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Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

736–740

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gese, Michael

Titel/Untertitel:

Das Vermächtnis des Apostels. Die Rezeption der paulinischen Theologie im Epheserbrief.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1997. XII, 321 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe, 99. Kart. DM 98,-. ISBN 3-16-146844-9.

Rezensent:

Jens Herzer

Die Einschätzungen des Epheserbriefes hinsichtlich seiner Stellung und seiner Funktion innerhalb der nachpaulinischen Tradition sind in der Forschung kontrovers. Während in der Vergangenheit der Aufweis der Diskontinuität zu Paulus im Vordergrund stand, folgt G. in seiner von O. Hofius betreuten Tübinger Dissertation von 1995 jenen neueren Ansätzen, die den Epheserbrief als Ergebnis einer weiterführenden Interpretation paulinischer Theologie zu verstehen suchen. In einem eindrucksvollen und - dies sei bereits an dieser Stelle notiert - insgesamt überzeugenden Entwurf unternimmt es G., den Epheserbrief bzw. dessen Abwandlungen gegenüber Paulus als "Neuinterpretationen paulinischer Theologie unter gewandelten geschichtlichen Verhältnissen" (23) darzustellen. Wichtiger Ausgangspunkt ist im Blick auf die pseudepigraphische Abfassung die Überlegung, das darin zum Ausdruck kommende Bewußtsein der historischen Distanz zu Paulus zeige eine "Neubesinnung auf das Wesen der paulinischen Tradition" an, mit der aus einer "auf das Lebenswerk des Paulus rückblickende(n) Perspektive ein innerer Abschluß der paulinischen Tradition erreicht" sei (24). Es geht dabei keineswegs um Nivellierungen offen zutage tretender Unterschiede gegenüber Paulus, sondern um einen in dieser Weise noch nicht vorliegenden Versuch, aus der historisch veränderten Perspektive gerade die Differenzen als konsequente Interpretation und "notwendige Explikation der paulinischen Theologie für die nachpaulinische Zeit" (272) zu verstehen. In dieser Weise bietet Eph eine "umfassende Gesamtschau" paulinischer Theologie und ist - so wäre der Titel des Buches zu präzisieren - das "theologische ... Vermächtnis der Paulusschule" (271).

Nach dem in die Fragestellung und die Methodik der Untersuchung einführenden ersten Hauptteil (1-27), in dem G. auch die Frage nach der Pseudonymität des Eph thematisiert und auf die Entsprechung von theologischem Anspruch und gewähltem Pseudonym hinweist, wird im zweiten Hauptteil (28-107) detailliert und präzise die "Arbeitsweise des Epheserbriefes" analysiert: Übernahme des paulinischen Briefformulars, Verhältnis zum Kolosserbrief, Verarbeitung von Zitaten und Anspielungen aus den Paulusbriefen, Stileigentümlichkeiten sowie die Verwendung des Alten Testaments werden untersucht.

Für das Briefformular werden die bekannten Sachverhalte zusammengetragen. G. weist mehrfach darauf hin, daß der unpersönliche Charakter vor allem des Schlusses den "Wunsch nach Allgemeingültigkeit der Aussagen" (37) anzeige, und ein Durchschauen der pseudepigraphischen Abfassung bewußt in Kauf genommen worden sei (36). Das paulinische Pseudonym sei nicht literarische Fiktion, sondern Hinweis auf die verarbeitete paulinische Tradition (39). Man wird freilich nicht umhinkommen zu sagen, daß das Pseudonym de facto Fiktion ist, auch wenn die Intention auf Traditionsweitergabe ausgerichtet ist. Das aber ist eher selbstverständlich. - Die literarische Abhängigkeit vom (nach G. ebenfalls pseudepigraphischen) Kolosserbrief wird als Rezeptionsprozeß nachgezeichnet, bei dem der Kol als Orientierung für die zusammenfassende Darstellung paulinischer Theologie benutzt wurde. Kennzeichnend sei die "zusammenfügende Verarbeitungsweise" von Kol in Verbindung mit anderen Paulusbriefen (44 f.), wodurch sich der Verfasser des Eph als "Interpret" erweise. Auf dieser Grundlage wird der Einfluß der Paulusbriefe untersucht. In einem methodisch vorsichtigen Durchgang durch die Parallelen wird die direkte Kenntnis des 1. und 2. Kor, des Röm und Gal begründet. Die Schlußfolgerung, die Abfassung des Eph setze "ein eingehendes Studium der Paulusbriefe voraus" (73), geht freilich über das Begründbare hinaus. Weiterführend ist, daß in Anknüpfung an Mittons These der "conflation" vor allem die verbreitete Annahme widerlegt wird, Eph habe die Paulustradition nur über mündliche Vermittlung rezipiert (zu den Vertetern dieser These gehört Pokorny’ - gegen 65, Anm. 132 - nicht). Über Mittons These hinaus hat G. einleuchtend begründet, daß die Art und Weise der Verknüpfung von Anspielungen und Zitaten aus Paulus ein spezifisches "theologisches Umformungsprinzip" erkennen lasse (84), nämlich durch Verarbeitung paulinischer Tradition zu weiterführenden und zusammenfassenden Aussagen zu gelangen. Aus dieser Arbeitsweise lassen sich auch die Stileigentümlichkeiten erklären: Der Verfasser wollte, daß die Korrekturen und Weiterführungen paulinischer Aussagen als solche auch von den Adressaten erkannt werden (89). Es ist "nicht der Stil eines Fälschers, sondern der eines theologischen Interpreten der Paulusbriefe" (101). "Der Epheserbrief gibt sich als eine zusammenfassende Bearbeitung der paulinischen Tradition zu erkennen - mit dem Anspruch, die Aussagen der paulinischen Theologie authentisch und verbindlich in eine gewandelte Zeit hinein zu übersetzen." (107)

Der dritte und umfangreichste Hauptteil (108-249) untersucht ausführlich die Inhalte der theologischen Unterschiede und Weiterführungen unter den Stichworten "Heilsgeschehen", "Heilsgemeinde", "Heilsplan" und "Paulus als Apostel des Heilsmysteriums".

Im Blick auf das Heilsgeschehen wird für Eph 2,11-18 zunächst eine zeitliche Differenzierung zwischen Heilstat Christi und Situation der Adressaten herausgearbeitet, während bei Paulus beides ineinanderfalle. Das deute auf eine veränderte Situation hin, die sich des Abstandes zum Heilsgeschehen in Christus bewußt ist. Die zeitliche Differenzierung wird G. später als Indiz dafür werten, daß der Verfasser des Eph auf diese Weise die Verbindung zur apostolischen Generation für die herstellt, die nicht mehr Zeitgenossen Jesu bzw. des Paulus waren, und die durch den Tod des Apostels abgebrochen war (259 ff.). Daß freilich Paulus hier nicht differenziere, ist kaum plausibel, denn auch nach ihm sind Heilsereignis (Kreuz und Auferweckung Jesu) und Teilhabe der Glaubenden an dem gewirkten Heil nicht gleichzeitig. Darauf deutet m. E. gerade das von G. herangezogene, eschatologisch verstandene ÓÜÓ bei Paulus. - Wichtig ist hingegen die Herausarbeitung der konsequenten ekklesiologischen Bedeutung des Heilsgeschehens in Eph. In der Gegenüberstellung von Eph 2,1-10 und 2,11-18 sieht G. eine Objektivierung des Heilsgeschehens, das in der Kirche Gestalt gewinnt (142). "Das im Kreuz geschaffene Heil, die Versöhnung und die Neuschöpfung, hat objektiven Charakter. Seine Gestalt wird umschrieben als Kirche" (ebd.). Diese objektive Gestalt des Heils sei zu unterscheiden von der individuellen Teilhabe der Glaubenden an diesem Heil. Bei der Objektivierung in Eph geschehe eine grundlegende Änderung gegenüber den Vergleichstexten Röm 6,1-11 und Kol 2,12-3,4, indem die ÛÓ-Komposita dieser Texte auf die Herrlichkeitsaussagen beschränkt blieben. G. legt Wert darauf, daß damit der eschatologische Vorbehalt des Paulus keineswegs aufgegeben sei (151); man erfährt jedoch nicht, worin er weiterhin besteht (im Ergebnis [169ff.] fällt auf, daß G. darüber nur negative Sätze formuliert). Die Rückführung auf eine räumliche Differenzierung - für die gnostische Einflüsse gut begründet abgewiesen werden - nach "oben" und "unten" in Anlehnung an Kol 3,1-4 reicht dazu nicht aus, gerade weil die Kategorie "unten" in Eph 2,5 fehlt. In Kol 3,1-4 ist zusätzlich das Mitgestorben-Sein Grund für die Ausrichtung des Lebens "nach oben". Damit wird das "Mitauferstanden-Sein" interpretiert, so daß man für Eph zumindest einen Hinweis auf Eph 5,14 erwartet hätte, weil sich von daher eine Differenz zwischen Eph und Kol hinsichtlich eines eschatologischen Vorbehaltes ergeben könnte. Wenn nämlich festgestellt wird, daß durch die präsentische Fassung der Eschatologie im Eph "die Hoffnung auf die zukünftige allgemeine Totenauferweckung (keinesfalls) aufgehoben" sei (159), so muß dies auch hinsichtlich der Tatsache begründet werden, daß von der eschatologischen Totenauferweckung im ganzen Eph nicht die Rede ist (vgl. demgegenüber etwa Kol 1,18).

In der Darstellung der Ekklesiologie wird im Blick auf die "in Christus"-Wendung im Eph eine lokale Deutung herausgearbeitet. Darin bestehe eine Kontinuität zu Paulus, denn auch bei ihm sei die räumliche Vorstellung vorherrschend: "In Christus" beschreibe den "Bereich, in den Menschen durch die Taufe eingegliedert werden" (173, Zitat Roloff). Entgegen dieser verbreiteten Auffassung wäre freilich vor allem von 2Kor 5,17-19 her zu fragen, ob an dieser zentralen Stelle nicht doch ein instrumentales Verständnis vorliegt, was G. für V. 19 zwar annimmt, V. 17 jedoch deutet er lokal. Gerade die Verknüpfung beider Verse durch V. 18 ( XXXXXXXXX ) macht deutlich, daß auch V. 17 eher instrumental zu verstehen ist: Die "in Christus" sind, sind diejenigen, deren Leben durch Tod und Auferweckung Jesu neu begründet, neu geschaffen ist. Die Wendung "Gott war in Christus" (2Kor 5,19) kann daher kein Beleg dafür sein, daß Christus der Ort der Gotteseinwohnung in dieser Welt sei (197), zumal G. die grammatische Form der Versöhnungsaussage in Gestalt der conjugatio periphrastica auseinanderreißt. - Das räumliche Verständnis des "In-Christus-Seins" wird weitergeführt im Verständnis der Kirche als Leib Christi: Sie ist - zunächst nach Paulus - der räumliche Christus-Leib, in den der einzelne eingegliedert wird (Gal 3,28, 176). G. greift bei der Deutung der Kirche als Leib Christi auf die Vorstellung der "corporate personality" bzw. der Stammvatervorstellung zurück, da nach Röm 12,5 das Sein " XXXXXXXXX "von Paulus mit der Zugehörigkeit zum XXXXXXXXXX identifiziert worden" sei (177). Die bekannte Schwierigkeit, daß es für die Verbindung von Stammvater- und Leibvorstellung keinen Beleg gibt (auch bei Paulus in den herangezogenen Typologietexten Röm 5 und 1Kor 15 nicht!), kann freilich auch G. nicht entkräften. Deshalb ist die Verbindung zwischen Stammvatervorstellung und Stellvertretung nicht überzeugend (178): In soteriologischen Texten findet sich bei Paulus keine Leib-Aussage, so daß "in Christus" nicht ekklesiologische Konsequenz der Stellvertretung auf der Grundlage der Stammvatervorstellung ist, sondern soteriologische Grundlage der ekklesiologischen Leib-Vorstellung, die dann eben doch eher metaphorisch zu deuten ist. Diese Metaphorik kommt auch im Kol zum Ausdruck, wenn Christus als Haupt des Leibes, und nicht als Leib selbst verstanden wird. Im Eph sieht G. die paulinische Vorstellung insofern umgeformt, als der Leibgedanke im Heilsgeschehen verankert wird. Von Eph 2,16 her sei "Leib" nicht mehr, wie noch in Kol, der Todesleib Christi, sondern die Gemeinde: "Die Kirche repräsentiert ... die erlöste Menschheit im Kreuzesgeschehen" (181) und ist somit "Platzhalter für spätere Generationen" (ebd.). Wegen des Bezuges von 2,15 zu Gal 3,18 sei auch in Eph die Stammvatervorstellung immer noch lebendig, mit dem Unterschied, daß die Ekklesiologie soteriologische Bedeutung erlange.

In der Auslegung von Eph 4,7-16 wird gezeigt, daß in der Interpretation von Ps 68 und der Weiterführung von Kol 2,19 "(d)as Wachstum des Leibes ... durch Ämter" vermittelt wird (187 f.). Wie ist aber das räumliche Verständnis der soteriologisch bedeutsamen Leib-Christi-Vorstellung mit der Betonung der "Bänder" als Vermittlungsinstanz zu vereinbaren, zumal das Wachstum als ein dynamischer Prozeß verstanden wird, der sein "Ziel in der intensiven Erfüllung durch Christus selbst" hat (188 f.)? Die Gleichzeitigkeit von Kirche als räumlich gedachter Leib Christi und Erfüllung durch Christus wäre präziser ins Verhältnis zu setzen. - Auf der Grundlage der lokalen Deutung des "in Christus" sieht G. im Eph die Christologie des Kolosserbriefes geschichtlich ausgelegt und damit den Heilsplan Gottes insgesamt in Christus verortet (219). Gleichzeitig aber ist das Christusgeschehen selbst in diesen Heilsplan eingebaut. Damit sei das Christusereignis selbst - im Unterschied zu Paulus- zu einem vergangenen Geschehen geworden (221). Wie oben schon bemerkt, gilt das freilich auch schon für Paulus. Ähnliches wäre zu sagen, wenn G. in Eph 1,19 ff. die gegenwärtig wirkende Gotteskraft hervorgehoben sieht, während dies bei Paulus auf die Zukunft bezogen sei. Daß auch Paulus mit dem gegenwärtigen Wirken von Gottes Kraft gerechnet hat, zeigt schon ein Blick auf Röm 1,16; 1Kor 1,18.24; Gal 3,5. Der von G. für das Motiv der Schwachheit herangezogene Beleg 2Kor 12 ist daher nicht generell, sondern im spezifischen Kontext der paulinischen Apologie zu deuten. Immerhin geht es hier darum, daß Gottes Kraft in der Schwachheit (oder: durch die Schwachheit) gegenwärtig wirksam ist ( XXXXXXX = Präsens).

Im Blick auf das Verständnis des Mysteriums von Eph 3,1-13 weist G. nach, daß das Revelationsschema nicht unabhängig von Paulus auf weisheitliche Traditionen zurückgreift, sondern grundlegend von der paulinischen Diktion in 1Kor 2,6-10 abhängig ist, wobei die Betonung des "Amtes des Paulus" eine adäquate, die spätere Situation berücksichtigende Weiterführung darstelle (228 ff.). In diesem Zusammenhang sei eine Umprägung des ÔåÎÔÓÔÌ-Begriffs zu beobachten, der nun nicht mehr, wie bei Paulus, den Heilsplan Gottes selbst meine, sondern die Durchführung der göttlichen Anordnung (236). Der Apostel nimmt in diesem Prozeß eine bereits heilsgeschichtliche Stellung ein: "Paulus ist der Offenbarungsträger Gottes, der nach dem Heilsplan die Aufgabe hat, das Mysterium an die Kirche weiterzugeben" (244 f.). In Anknüpfung an Eph 4,11 sei darin der Gedanke der apostolischen Sukzession angelegt, wozu auch die Nennung des Tychikus (6,21f.) als Gesandter des Paulus gehöre (245). Auf dem Hintergrund der sonst festgestellten und im pseudonymen Konzept begründeten Zurückhaltung des Eph hinsichtlich konkreter persönlicher Notizen muß freilich die Nennung dieses Namens erklärt werden, denn sie paßt nicht in dieses Konzept und provoziert die Frage, ob dieser Mann etwas mit der Abfassung des Briefes zu tun habe, zumal ihn G. vorstellt als den "für die Zukunft von Paulus autorisierte(n) Verkündiger, der von Paulus zu berichten weiß" (245). Geht die "apostolische Gültigkeit" (246) des Briefes auf Tychikus zurück? Immerhin sieht G. im Verfasser des Eph einen der in 3,5 genannten Propheten, der sich als "Schüler ... selbst in den engsten Zusammenhang mit seinem Meister einreiht" (247). Doch auch hier ist Vorsicht geboten, denn nach 2,20 gehören die Propheten mit den Aposteln der vergangenen Generation an, so daß man zwischen den Propheten in 2,20; 3,5 und denen in 4,11 noch einmal differenzieren müßte.

Der vierte Hauptteil (250-276) bündelt die Ergebnisse und beantwortet die Frage nach Anlaß und Ziel des Eph: Als das "theologische Vermächtnis der Paulusschule" ist der Brief im Problembewußtsein des zeitlichen Abstandes zur Generation der Apostel geschrieben und versucht, durch das bewußte Anknüpfen an die vorliegende Tradition einerseits und durch Interpretation und Neuformulierung andererseits den Nachgeborenen deutlich zu machen, daß das in Christus gewirkte Heil im Raum der Kirche auch für sie gültig ist. - Ausführliche Register beschließen den sorgfältig redigierten Band.

Mit seiner gründlichen Analyse des Eph hat G. - trotz der Anfragen im Detail - einen anregenden Beitrag für eine Neubewertung dieses Briefes innerhalb der nachpaulinischen Traditionsgeschichte geleistet; sie gilt es, ins Verhältnis zu setzen mit anderen nachapostolischen Entwürfen, um so die Geschichte des frühen Christentums konsequent als Geschichte von unterschiedlichen Traditionsströmen zu verstehen.