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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

61–62

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Cirafesi, Wally

Titel/Untertitel:

Verbal Aspect in Synoptic Parallels. On the Method and Meaning of Divergent Tense-Form Usage in the Synoptic Passion Narratives

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2013. 191 S. = Linguistic Biblical Studies, 7. Geb. EUR 101,00. ISBN 978-90-04-24645-4.

Rezensent:

Marius Reiser

Das Altgriechische ist im Wesentlichen eine Aspekt-Sprache. Nur das Futur hat temporale Bedeutung. Der Präsensstamm bezeichnet den durativen Aspekt, der Aoriststamm den Vollzug ohne Rücksicht auf Dauer oder Ergebnis, der Perfektstamm den resultativen Aspekt. Präsens, Aorist und Perfekt haben im Indikativ aber zusätzlich noch Zeitbedeutung. Am unauffälligsten und deshalb am wenigsten markiert ist grundsätzlich der Aorist. So liest man es in H. von Siebenthals »Griechischer Grammatik zum Neuen Testament« von 2011 (§ 192 f.). Von diesem Konsens innerhalb der Gräzis­tik unterscheidet sich die Theorie von Stanley Porter, der die angezeigte Untersuchung von Wally Cirafesi durchweg folgt. Sie nimmt an, dass auch die Indikativformen lediglich Aspektbedeutung ha­ben; die Zeitbedeutung ergebe sich nur aus dem Kontext. Außerdem werden hier die Aspekte etwas anders bestimmt: der Aorist ist perfektiv und betrachtet die Handlung als abgeschlossen; die Präsens- und Imperfektformen sind imperfektiv und betrachten die Handlung als unabgeschlossen und im Vollzug befindlich; Perfekt- und Plusquamperfektformen sind stativ und betrachten die Handlung als gegebenen Zustand (10.166 f.). Fragwürdig scheint mir die vollständig negative Beurteilung der Theorie der Aktionsart bei C., nach der die Semantik des Verbs die Wahl der Aspekte einschränken kann – was doch ganz offenkundig der Fall ist.
Die Untersuchung legt in den drei ersten Kapiteln (1–70) die theoretischen Grundlagen dar und behandelt dann in drei weiteren Kapiteln drei Textkomplexe aus der synoptischen Passionsgeschichte. Zunächst wird jeweils die Kohäsion des Textes aufgezeigt, dann werden Fälle herausgegriffen, in denen die Synoptiker an derselben Stelle und mit demselben Verb unterschiedliche Aspekte wählen. Dann wird sorgfältig nach den Gründen der Wahl und ihrer exegetischen Bedeutung gefragt. Am auffälligsten ist der Fall des Tempelworts Jesu (Mt 21,14/Mk 11,17/Lk 19,46) (89–101): »Ihr habt ihn zu einer Räuberhöhle gemacht.« Das Wort für »machen« (poiein) steht bei Matthäus im Präsens, bei Markus im Perfekt, bei Lukas im Aorist. Der Aspektunterschied wird gemäß den referierten Aspektbedeutungen bestimmt. Am stärksten markiert und in den Vordergrund gestellt ist der Sachverhalt bei Markus. Aber warum man an dieser Stelle nicht von einem »resultativen Perfekt« sprechen darf, ist mir unverständlich geblieben.
Für das Weinen des Petrus nach der Verleugnung Jesu wählen Matthäus (26,75) und Lukas 22,62) den Aorist, Markus (14,72) das Imperfekt. Wieder hat Markus den am stärksten markierten Aspekt gewählt: »The contrast lies in each author’s conception of the action, whether it is viewed internally as ›in progress‹ or externally as a ›complete whole‹.« (126) Markus schildere kein fortgesetztes, längeres Weinen: »Mark should be understood as employing the more marked Imperfect tense-form as a descriptive foregrounding device that highlights Peter’s response to the rooster’s crowing, an action that is expressed from Mark’s subjective viewpoint as in-progress.« (127) In diesem subtilen Unterschied kann ich den exegetischen Fortschritt nicht so recht erkennen.
Die Untersuchung ist klar aufgebaut und gut zu lesen. Aber den Referenten konnte sie von den angeblichen Vorzügen der Porterschen Aspekttheorie nicht überzeugen.