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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

57–59

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Beutler, Johannes

Titel/Untertitel:

Das Johannesevangelium. Kommentar

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2013. 576 S. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-451-30779-9.

Rezensent:

Jutta Leonhardt-Balzer

Der Kommentar basiert auf den Vorlesungen des Vf.s am päpst-lichen Bibelinstitut in Rom aus den Jahren 2000–2007, in die die Arbeit an seinen Veranstaltungen in Frankfurt (Main) seit 1971 eingeflossen ist. Der Kommentar hat keine literarkritische Ausrichtung, sondern liest das Johannesevangelium synchron. Stellen, die in der Forschung literarkritisch erklärt wurden, werden vom Vf. als Relektüre früherer, nicht nur alttestamentlicher und synoptischer, sondern auch johanneischer Texte durch den Evangelisten gesehen. Die Quellenfrage tritt hinter das synchrone Verständnis zurück.
Der Band beginnt mit einer umfangreichen Bibliographie. Die Einleitung beschäftigt sich in traditioneller Weise mit der Eigenart des Johannesevangeliums, seinem Aufbau, Ziel, Fragen nach Einheitlichkeit und Quellen, religionsgeschichtlicher Herkunft, Verfasser, Abfassungszeit und -ort, dem Text, seiner Kanonizität und Aktualität. Der Kommentar selbst beginnt mit einer überarbeiteten Version der Einheitsübersetzung, gefolgt von einem ersten Schritt zu allgemeinen Fragen, zu Abgrenzung des Textes, Aufbau und Einheit und literarischer Gattung. Der zweite Schritt legt den Text im Einzelnen zunächst synchron mit Betonung auf Gram-matik, Semantik und Pragmatik und dann diachron bezogen auf zugrunde liegende jüdische oder christliche Traditionen, insbesondere die synoptischen Evangelien, aus. Der dritte Schritt be­trachtet die Aussage des Textes für die heutige Zeit, wobei er sich immer wieder an der katholischen Gegenwart ausrichtet. Die Auslegung ist für Laien und Experten verständlich formuliert, auch wo sie sich auf das Griechische bezieht.
Das Johannesevangelium wird nicht, wie meist üblich, in zwei, sondern in fünf Abschnitte und einen Epilog aufgeteilt: »Das göttliche Wort tritt in die Welt ein (1,1–4,54)«, »Jesus offenbart sich seinem Volk (5,1–10,42)«, »Jesus auf dem Weg in die Passion (11,1–12,50)«, »Der Abschied Jesu (13,1–17,26)«, »Die ›Stunde‹ Jesu: Leiden, Tod und Auferstehung (18,1–20,31)«, »Der Epilog: Jesus, Petrus und der Lieblingsjünger (21,1–25)«.
Die Ausführung des Kommentars zeigt sich durch seine Entstehungsumstände beeinflusst. Die Hauptliteratur, die im Kommentartext diskutiert wird, entstammt den Jahren 1995–2005. Ausdrücke wie »in der neueren Forschung« beziehen sich fast ausschließlich auf Veröffentlichungen aus den Jahren 1985–2005, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Kommentars schon 10–30 Jahre alt sind (349: »in jüngster Zeit« verweist auf Literatur aus dem Jahr 1987; 418: »in seiner neueren Monographie« verweist auf 1991; 491: »jüngst« be­zieht sich auf eine Veröffentlichung von 1996). Im Literaturverzeichnis finden sich zwar für im Text angesprochene Themen wichtige Titel aus der Zeit nach 2005, sie werden jedoch im Text nur einmal, und das nebenbei, erwähnt und nicht in das Argument einbezogen (z. B. 421: C. Hoegen-Rohls, Der nachösterliche Johannes, 1996; 428: E. E. Popkes, Die Theologie der Liebe Gottes, 2005; T. Schultheiss, Das Petrusbild im Johannesevangelium, 2012; S. 86 zitiert Aufsätze von Thyen, aber nicht seinen Kommentar aus dem Jahr 2005). Wichtige Monographien zu relevanten Themen des Kommentars fehlen ganz (z. B. Chibici-Revneanus umfangreiches Buch, Die Herrlichkeit des Verherrlichten, aus dem Jahr 2007; Lars Kierspel, The Jews and the World in the Fourth Gospel, Tübingen 2006).
Dass der Kommentar auf Vorlesungen aus den Jahren 2000–2005 und den Jahrzehnten zuvor aufbaut, zeigt sich auch darin, dass zwar Forschungsfragen aus den 1970er Jahren angesprochen werden, wie z. B. die Hypothese eines gnostischen Ursprungs johanneischer Motive (343), jedoch nicht aktuellere Theorien, wie z. B. der Zusammenhang der Abschiedsreden des Johannesevangeliums mit der Gemeindeerfahrung nach Jesu Rückkehr zum Vater und insbesondere mit 1Joh (vgl. z. B. Hoegen-Rohls 1996), oder die von Kierspel beobachteten Parallelen zwischen der Entwicklung der Ablehnung der »Juden« und der »Welt« im Verlauf des Evangeliums (s. o.), die für die Passion von Bedeutung wären (vgl. 484). Neuere Fragestellungen, wie die nach dem möglichen historischen Hint ergrund johanneischer Angaben, insbesondere dort, wo sie den Synoptikern widersprechen, bleiben unerwähnt. Auch fehlt die Kategorie Historizität in den Einleitungsfragen (cf. 69). Dies ließe sich durch die synchrone Ausrichtung des Kommentars erklären. Doch taucht die Frage der Geschichtlichkeit an Stellen auf, an denen sie keine sinnvolle Funktion hat, so im Zusammenhang der Lazaruserzählung (337). Der Kommentar sieht das Johannesevangelium als größtenteils einheitlichen Text, der durch Relektüre von jüdischen, christlichen und johanneischen Traditionen entstanden ist, doch bleibt der Erkenntnisgewinn der Hypothese einer Relektüre durch den Evangelisten im Gegensatz zu einer Redak-tion unklar (z. B. 289.374–375), da beide Ansätze von verschiedenen Bearbeitungsschritten ausgehen. Für den gesamten Kommentar grundlegend ist auch der Vergleich mit den Synoptikern. Was hier jedoch auffällt ist, dass der fundamentale Unterschied zwischen Johannes und den Synoptikern in der Bestimmung des Tages der Kreuzigung nicht einmal erwähnt, geschweige denn diskutiert wird (vgl. 469.485).
Ein Kommentar hat die doppelte Aufgabe, sowohl den Ansatz des Vf.s wiederzugeben als auch den aktuellen Forschungsstand zu erschließen. Letztere Funktion ist im Kommentar des Vf.s eingeschränkt erfüllt, da es immer wieder pauschale Aussagen über Forschungsmeinungen gibt, die nicht durch Querverweise belegt werden (113: »eine zunehmende Zahl von Forschern; 115: »Nach neueren Untersuchungen«; 131: »Oft wird aus dieser Deutung ge­schlossen …«; 158: »Die Ausleger sehen in dieser Frage …«; 226: »Men ken«; 232: »D. Mackay«; 251: »Auslegungsprobleme«; 290: »in der deutschsprachigen Literarkritik«; 297: »in der deutschsprachigen Forschung«; 373: »Man hat bei Johannes von einem Entscheidungsdualismus gesprochen«; 383: »Im Laufe der Auslegungsgeschichte […]«; 430: »[…] wurde oft die Meinung vertreten […] neuere Arbeiten […]«; 476: »in der Literatur«; 477: »bei Flavius Josephus«; besonders bedenklich ist der Verweis auf Sandra M. Schneider, 540, wo der Leser mangels Angaben unter den fünf [!] in der Literatur angegebenen Titeln wählen muss). Diese fehlenden Fußnoten entschla-cken zwar den Text und machen ihn vielleicht lesbarer, erschweren aber den Gebrauch des Kommentars für die Forschung wie auch für Studenten, da diese summarischen Aussagen nicht nachverfolgt werden können. Auch wenn gerade im späteren Teil des Kommentars Verweise auf andere Forschungsmeinungen zurücktreten und die Lesart des Vf.s übrigbleibt, ist auch hier die Auslegung oft noch von bestimmten Forschungsproblemen ge­lenkt. So wird zu Joh 16,8–10 diskutiert, ob der Geist »lehrt« oder »überführt«, doch der Teil des Textes, der beschreibt, was der Geist denn lehrt, wird nicht ausgelegt.
Somit gibt der Kommentar weniger einen aktuellen Forschungsstand wieder als einen diachronen Überblick über die Themen, die den Vf. im Laufe seiner Arbeit am Johannesevangelium beschäftigt und beeindruckt haben. Als solcher ist er als Gesamtentwurf zu sehen und ein eindrucksvolles Vermächtnis eines Forscherlebens. Der Kommentar bietet eine ganz eigene Übersicht über den Ansatz eines Exegeten, der jahrzehntelang an der Auslegung des Johannesevangeliums gearbeitet hat.