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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

53–57

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Nicholson, Ernest

Titel/Untertitel:

Deuteronomy and the Judaean Diaspora

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2014. XII, 196 S. Geb. £ 55,00. ISBN 978-0-19-870273-3.

Rezensent:

Otto Kaiser

Ernest Nicholson hat das Erscheinen seines hier angezeigten letzten Buches nicht mehr erlebt, weil er bereits am 22. Dezember 2013 in seinem 75. Lebensjahr verstorben war. Mit ihm hat nicht nur die britische, sondern auch die internationale Gemeinschaft der Alt-tes­tamentler einen ihrer bedeutendsten Exegeten und ebenso liebenswürdigen wie hilfsbereiten Kollegen verloren. Als Provost des Oriel College in Oxford hat er sich erfolgreich für die Förderung der Studierenden und als Mitglied des Councils der British Academy um die Pflege der Wissenschaften verdient gemacht. Darüber hinaus war er zusammen mit seiner Frau Hazel, geb. Jackson, ein nobler Gastgeber. In der Epoche eines oft geradezu stürmischen Um­ bruchs der literaturgeschichtlichen Voraussetzungen der alttes-tamentlichen Forschung hat er immer wieder mahnend seine Stimme erhoben und dazu aufgefordert, bewährte Deutungs-muster nicht vorschnell zugunsten neuer Theorien über die Genese der biblischen Bücher preiszugeben. Um das zu belegen, reicht es aus, von seinen vorausgehenden Schriften an die zwischen 1986 und 1998 erschienenen Abhandlungen »God and His People. Co-ven­ant and Theology in the Old Testament« (1986), »The Pentateuch in the Twentieth Century. The Legacy of Julius Wellhausen« (1998) und seinen einführenden Beitrag »Current ›Revisionism‹ and the Literature of the Old Testament« zu dem 2004 erschienenen und von John Day herausgegebenen Sammelband »Pre-Exilic Israel« zu erinnern, in dem er sich gegen eine generelle Spätdatierung der alttestamentlichen Geschichtswerke wandte.
Sein hier angezeigtes letztes, der Erinnerung an seinen verstorbenen Sohn Peter gewidmetes Werk nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als es in ihm nicht um die Verteidigung umkämpfter Bastionen, sondern um den Nachweis der Herkunft des Dtn aus Kreisen der babylonischen Diaspora geht. Es gliedert sich nach den üblichen Vorbemerkungen und Nachweisen (I–XII) in zwei Teile. Von ihnen widmet sich der erste und zentrale dem Problem der Heimat und zeitlichen Einordnung des Dtn und seiner Schichten (3–134), während der zweite sich unter dem Thema »Story and History in the Old Testament« (137–177) einerseits für die Berechtigung der Rede von den biblischen Geschichtsbüchern ausspricht und andererseits kritisch mit der These John van Seters’ auseinandersetzt, dass die biblischen Geschichtserzählungen das jüdische Echo auf die Geschichtsschreibung Herodots darstellen. Dem Band liegen sieben zwischen 2006 und 2012 erschienene Aufsätze und ein bereits 1994 veröffentlichter Aufsatz zugrunde (vgl. XII), die für den vorliegenden Kontext bearbeitet sind, so dass sie eine zusammenhängende Argumentation ergeben. Das folgende Referat kann angesichts der Fülle der Gesichtspunkte und Argumente und der komplizierten Forschungslage nur versuchen, die Hauptgedanken und den inneren Zusammenhang der Kapitel des ersten Teils des Buches nachzuzeichnen.
Es gliedert sich in die Kapitel 1–6, die sämtlich das Problem der Lokalisierung des Dtn in der babylonischen Diaspora umkreisen (3–134). In der »Introduction« in Kapitel 1 gibt N. zunächst einen Rückblick auf die Erforschung des Dtn von de Wette bis zur Gegenwart. Er führt zu dem Ergebnis, dass vor allem die Fragen nach Art und Umfang der Kultreform König Josias und dem Charakter des sogenannten Verfassungsentwurfes in Dtn 16,8–18,22 erneuter Behandlung bedürfen (3–9). Das geschieht in den folgenden fünf Kapiteln, in denen der Reihe nach die Probleme behandelt werden, ob die Reformen König Josias eine Kultzentralisation einschlossen (Kapitel 2), wann und wo das Deuteronomium entstanden ist (Kapitel 3), welche prophetischen Traditionen hinter dem »Prophetengesetz« in Dtn 18,9–22 standen (Kapitel 4) und wie das »Königsgesetz« Dtn 17,14–20 zu verstehen sei (Kapitel 5 und 6; vgl. 9–15).
Kapitel 2 setzt bei dem auf den ersten Blick nebensächlichen Problem der literarischen Einordnung der Nachricht von 2Kön 23,8a.9 über die levitischen Höhenpriester ein. Es kommt nach einer minutiösen Erörterung der mit ihr zusammenhängenden Fragen zu dem Ergebnis, dass in den genannten Versen der Versuch vorliegt, den dtn Bericht über die Kultzentralisation Josias mit den in Dtn 18,6–8 vorliegenden Bestimmungen über die Rechte der Leviten abzustimmen, die ebenfalls von der Kultzentralisation ausgehen. Dabei setze die dtn Bestimmung voraus, dass alle Priester Leviten sind (vgl. die Zusammenfassung, 35–37). Da die Kultzentralisation als solche keinen Bestandteil der Reformen König Josias bildete, stellt sich die Frage, auf wen die in Dtn 12 vorliegende For-derung nach ihr zurückgeht. Die einfachste Antwort lautet, dass sich in ihr die zentrale Rolle des Jerusalemer Tempels während der Königszeit und die auf sie gesetzten Hoffnungen exilischer pries­terlicher Kreise spiegeln, zu denen auch der Prophet Ezechiel ge­hörte. Doch ist sogleich hinzuzufügen, dass Opfer und kultische Rituale bei den Redaktoren des Dtn keine Rolle spielen und den Wallfahrtsfesten eine soziale Bedeutung gegeben wird (37–40).
Das dritte Kapitel »Deuteronomy and the Babylonian Diaspora« führt zu dem Ergebnis, dass das Dtn den Versuch darstellt, den inneren Zusammenhalt der in ihrem Glauben angefochtenen ba­by­lonischen Diaspora zu festigen, wodurch an die Stelle der ge­mein­samen Herkunft der innere Zusammenhang einer die Ge­nerationen übergreifenden Lerngemeinschaft trat (41–73). Die Situation der Diaspora wird durch den an sie gerichteten Jeremiabrief erhellt (Jer 29), der ihre längere Dauer voraussagt und sie an­weist, ein friedliches Zusammenleben mit der dortigen Bevölkerung zu pflegen. Dass es zu ihm sehr bald und anhaltend auf rechtlichem, wirtschaftlichem und administrativem Gebiet gekommen ist, wird inzwischen außer durch das seit Langem bekannte, der 2. Hälfte des 5. Jh.s v. Chr. angehörende Muraˇsu Archiv aus Nippur auch durch die vermutlich aus dem ersten Drittel des 6. Jh.s stammenden Textfunde aus ¯al-Naˇsar und ¯al-Y¯ah¯udu belegt. Offenbar haben die ba­bylonischen Behörden davon abgesehen, die jüdischen Exulanten mit der eingeborenen Bevölkerung zu vermischen. Dass trotzdem ein gewisser Akkulturationsprozess einsetzte, geht aus babylo-nischen theophoren Namenselementen in diesen Texten hervor, so dass damit zu rechnen ist, dass Einzelne neben Jahwe auch babylonische Gottheiten verehrten (vgl. Jer 5,19; 16,13; vgl. 41–47). In dieser Situation sollte das Dtn die religiöse und völkische Eigenart der Diaspora sichern (47–53).
Die im Anschluss an S. R. Driver und L. Stulman erfolgte Überprüfung von Dtn 6,10–15; 13,2–19 und 17,2–7 ergibt, dass der Monojahwismus der Exilierten nicht durch »outsiders«, sondern durch »insiders« gefährdet wurde, ein Eindruck, der durch den jüngeren Text Dtn 4,1–40 und die Götzenpolemiken in Jes 40,18–20; 44, 9–20 und 46,5–7 bestätigt wird. In dieselbe Richtung führe der Dekalog in Dtn 5,6–21 mit seinem jedenfalls exilischen Sabbatgesetz sowie die häufige Verbindung von Segensverheißungen für den Gehorsam gegenüber den Eltern, die dadurch als die primäre gesellschaftliche Gruppe gekennzeichnet wird (»Deuteronomy as Conterfac-tual Literature«, 53–62). Während Jan Assmann richtig erkannt hat, dass die bedrohte Identität Israels durch die den Kindern erteilten Belehrungen über die Tora gesichert wurde (vgl. z. B. Dtn 4,9–10; 6,7–10 und 33,46), habe er diese Texte fälschlich der Josiazeit zugewiesen, in denen für sie kein Raum war, weil sie die Rechte des Königs be­schnitten hätten (»Deuteronomy and Cultural Memory«, 62–66). Dabei könne ein Text wie Dtn 30,17–20 zeigen, dass die hier angesprochene Gesellschaft nicht mehr allein durch ihren genealogischen Zusammenhang, sondern durch den Gehorsam gegenüber den Geboten der Tora definiert und nicht zuletzt durch die Bundestheologie gesichert wurde (»The Provenance of Deuteronomy«, 67–73).
Das führt zu der Frage, welche Rolle in diesem Lernprozess den Prophetenbüchern zukam, die in Kapitel 4 »Deuteronomy, the Prophets, and Scripture« behandelt wird (74–100). Den Einstieg liefert die Frage, ob der Verfasser des Prophetengesetzes in Dtn 18,9–22 in V. 18 ein im Werden begriffenes corpus propheticum im Auge hatte, das als der Tora ebenbürtig galt. Um das Verhältnis zwischen der Tora und dem Prophetenbuch genauer zu beurteilen, zieht N. das Jeremiabuch heran (79–82). Bereits W. H. Schmidt (ATD 20, 47–48) hatte sich dafür ausgesprochen, dass die Formel »ich will meine Worte in seinen Mund legen« in Dtn 18,18 auf Jer 1,9 zurückgeht (von N. aufgrund einer Verlesung von 7 und 9 auf Jer 1,7 bezogen). Da in den letzten Jahren vor der Eroberung Jerusalems das Problem der falschen Propheten besonders aktuell gewesen zu sein scheint (vgl. Jer 27–29), hält N. die Annahme für gerechtfertigt, dass das Prophetengesetz mit seiner Kampfansage an die falschen Propheten in Dtn 18,20–22 vom Jeremiabuch abhängig ist (82). Das Verhältnis zwischen der Torarolle und der Rolle mit den Aussprüchen Jeremias kommt in der hebräischen Fassung der Erzählung von der Zerstörung der Rolle mit den Aussprüchen Jeremias durch König Jojakim in Jer 36 indirekt zur Sprache. Denn in Jer 36,24 wird der König als Antityp zu König Josia in 2Kön 22,11 stilisiert; denn während Hiskia nach der Verlesung des Gesetzbuches sein Gewand zerrissen hätte, hätte Jojakim die Rolle mit den Worten Jeremias nach ihrer Verlesung verbrannt. Allerdings werden die in der zerstörten Rolle enthaltenen Drohworte durch die erneute Aufzeichnung durch Baruch reaktiviert (Jer 36,27–28), so dass sie auch künftige Ge­schlechter belehren, ermahnen und trösten können (86–88). Da die zeitliche Ansetzung des Prophetengesetzes unsicher sei, könnten außer den Büchern der Propheten des 8. Jh.s Hosea, Amos, Micha und Jesaja auch die der Propheten Nahum, Habakuk, Zefanja und Obadja zu dem ihm vorliegenden corpus propheticum gehört haben. Zudem dürften ihm die Prophetenerzählungen von Debora bis zu Hulda im DtrG vorgelegen haben (94–95). Der sich aus ihm ergebende Leitgedanke zum Verständnis der Geschichte Israels war der der Theodizee, der Rechtfertigung der Gerichte Gottes durch den Ungehorsam Israels, der nun als Bundesbruch gedeutet wurde (96). Das dtr Corpus als Ganzes sei eine große Theodizee, die das alte staatliche Denken demontierte und die unauflösliche Verbindung zwischen Jahwe und Israel mittels des Bundesgedankens legitimierte. Daher stellt sich die Frage, ob das Königsgesetz in Dtn 17, 14–20 dem Königtum seine Legitimität entziehen sollte (96–100).
Um diese Frage zu beantworten, behandelt N. in den beiden anschließenden Kapiteln 5 und 6 das vermeintliche Königsgesetz in Dtn 17,14–20 und damit den einzigen Text im ganzen Deuteronomium, der sich mit dem Königtum beschäftigt. Er behandelt es angemessen als eine Kritik des Königtums, die ihre Elemente aus den Samuel- und Königebüchern bezieht: So verweisen V. 14b auf 1Sam 8,5b; 15b auf 2Kön 16,7 und die V. 16–17 auf 1Kön 10,1–11,8 zurück. Einleuchtend ist auch N.s Beziehung des Zusatzes in Dtn 17,15b, der es verbietet, einen Fremdstämmigen als König einzusetzen, auf das Vasallenverhältnis der Könige Judas von Ahas bis zu seiner Aufkündigung durch Josia (120–134). Die in V. 18–20 erho-bene Forderung, dass der König Tag und Nacht eine Abschrift der Tora studieren solle, habe keinen König im üblichen Sinn, sondern einen paradigmatischen Israeliten im Auge, an dessen Verhalten die einstigen Könige im dtr Corpus gemessen werden (112). Das entspricht letztlich dem Urteil von Lothar Perlitt (Der Staatsge-danke im Dtn, FS J. Barr, Oxford 1994, 182–198), dass dieses »wunder- liche Königsgesetz« seinen Namen allein seinem einigermaßen krausen Kontext, aber nicht seinem Inhalt verdanke. M. E. wird man Dtn 17,14–20 am besten gerecht, wenn man in diesen Versen eine prophetia ex eventu über die Geschichte des israelitischen Königtums erkennt. An sie sind später in V. 19–20 Bestimmungen über den Umgang eines künftigen Königs mit der Thora angefügt, deren Königsbild der eingeschränkten Rolle des Na´sˆ ı´ in den späten Zusätzen des Verfassungsentwurfes des Ezechielbuches ihre Pa-rallelen besitzen (vgl. dazu F.-K. Pohlmann, ATD 22/2, 2001, 597). Auch wenn man N.s Urteil zustimmt, dass die Nathanweissagung 2Sam 7 außerhalb des Interesses der Deuteronomiker gelegen hat, dürfte es umstritten bleiben, ob 2Kön 25,27–30 in ihrem Licht als ein messianischer Vorschein oder als eine Absage an das Königtum zu verstehen ist. Denn während N. (112–116) die zweite Meinung vertritt, hat die erste in Wolfgang Oswald (Nathan der Prophet, AThANT 94, 2008, 71–80) erneut einen Verteidiger gefunden.
Blicken wir auf das hier vorgestellte Buch als ein Ganzes zurück, so zeigt sich in ihm noch einmal N.s Meisterschaft, literarisch weit auseinanderliegende, aber thematisch verbundene Texte aufeinander zu beziehen. Auf diese Weise hat er in ihm einen wesentlichen Beitrag zur Frage der Herkunft des Dtn vorgelegt, dessen anregende Thesen die weitere Forschung befruchten werden.