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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

50–51

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Lilly, Ingrid A.

Titel/Untertitel:

Two Books of Ezekiel. Papyrus 967 and the Masoretic Text as Variant Literary Editions

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2012. XX, 372 S. = Supplements to Vetus Testamentum, 150. Geb. EUR 147,00. ISBN 978-90-04-20674-8.

Rezensent:

Thilo Alexander Rudnig

Mit dieser Untersuchung legt Ingrid A. Lilly die Druckfassung ihrer Dissertation vor, die von Brent Strawn an der Emory University/ Atlanta betreut wurde. Basis ist die sich immer stärker durchsetzende Erkenntnis, dass unterschiedliche Textüberlieferungen als verschiedene literarische Fassungen von Texten und Büchern zu lesen sind, oder anders gesagt: dass es exegetisch nicht immer sinnvoll ist, Textkritik und Literarkritik voneinander zu isolieren. Speziell geht es um den LXX-Papyrus 967, der fast 100 Jahre älter ist als die Hexapla des Origenes und der Codex Vaticanus (B), wobei die Vfn. als Ziel der Arbeit definiert: »to provide a deeper understanding of the literary history of Ezekiel through the lens of p967’s text« (25).
Die Vfn. stellt in einem ersten Kapitel (1–27) den Papyrus 967 vor; außerdem geht sie auf die Arbeiten von Johan Lust und Ashley Crane ein, die P 967 ebenfalls als literarisch von MT unterschiedene Ausgabe des Ezechielbuches einschätzen. In einem folgenden Kapitel unterzieht sie die textkritische Forschung zum Papyrus einer bewertenden Durchsicht (2: 28–62), aus der sich die Notwendigkeit einer literarischen Analyse etlicher textkritischer Befunde ergibt. Danach erläutert die Vfn. ihre coherence approach genannte Vorgehensweise und festigt damit die methodologische Grundlage ihrer Arbeit. Das coherence approach bezeichnet ein Zusammengehen von exegetischen Methoden in der Hinsicht, dass Varianten nur dann untersucht werden, wenn ihre Bedeutung für die Erhebung unterschiedlicher literarischer Ausgaben des Ezechielbuches deutlich wird (63). Es gilt: »only those literary features which can be shown to participate in Tendenzen sufficiently complement strictly text-critical evaluations« (26). Die Vfn. definiert dabei Tendenzen als »literary tendencies that distinguish MT and p967’s editions« (64), außerdem heißt es: »A ›Tendenz‹ is a theme, stichtwort, [sic!] or form present in the intertextual center that characterizes variants elsewhere across Ezekiel.« (65) Die Fragestellung und die Auswahl der zu bearbeitenden Textstellen sind dabei erheblich von den Arbeiten J. Lusts beeinflusst, dem sich die Vfn. verpflichtet weiß. Denn als intertextuelle Zentren, von denen her vorzugehen sei, erhebt die Vfn. im Anschluss an Lust und E. Tov die Debatte über Prophetie (Ez 12 f.), das Schicksal von Israels Feinden in der Unterwelt (Ez 32,17–32), die Totenfeldvision (Ez 37,1–14) und Gog und Magog (Ez 38 f.). Anschließend listet sie die textlichen Varianten strukturiert auf, sofern sie diese Themen betreffen (Kapitel 3: 63–79). Die Varianten werden im vierten Kapitel (80–130) mit Methoden der Textkritik und im fünften Kapitel (131–223) mit Methoden der höheren Kritik analysiert. P 967 ist für die Vfn. »a formidable text« (130), er ist nicht das Ergebnis innergriechischer Textentwicklung, sondern reflektiert eine »Hebrew Vorlage«, die kürzer als MT ist (129). Die Befunde zu Ez 12,26–28; 32,24–26 und 36,23c–38 deuten auf eine literarische und keine textliche Entwicklung. Außerdem geben sich P 967 und MT dadurch als divergierende literarische Ausgaben zu erkennen, dass sie zu zentralen Themen charakteris­tische Unterschiede zeigen: Das betrifft etwa die Behandlung der Fremdvölker (z. B. Tyros und Ägypten), die Auffassung der Prophetie und die Zeitstrukturen, zu denen auch die abweichende Kapitelfolge in P 967 (Ez 38 f.37) zu rechnen ist. Während MT an baldiger Erfüllung der prophetischen Ansagen gelegen ist, will P 967 sie erst in fernerer Zukunft (mithin der eigenen Gegenwart) erfüllt wissen. Es folgt eine kodikologische Analyse von P 967, in der es um den paratextlichen Befund, auch die pragmatische Schriftlichkeit, geht (6: 224–300). Die Marginalnotizen weisen auf eine christliche Lesergemeinschaft, die besonderes Interesse an Fragen der Auferstehung und der Erfüllung der prophetischen Orakel in ihrer Gegenwart, und in diesem Kontext auch an Ez 40–48 hatte. Wahrscheinlich war P 967 zumindest abschnittsweise in liturgischem Gebrauch. Ein Schlusskapitel zieht das Resümee (7, 301–317). Das Werk wird komplettiert durch Abbildungs- (XI f.) und Abkürzungsverzeichnis (XV–XIX), Listen zu P 967 (Anhang: 319–335), Literaturverzeichnis (337–351) sowie diverse Register zu Autoren (353 f.), Themen (355–357) und Textstellen (359–369). Insgesamt ergibt sich also, dass die untersuchten Varianten nicht einfach auf Versehen in der Textüberlieferung zurückgehen, sondern eine literarisch divergierende Ausgabe von Ez darstellen; »p967 and B’s texts seem to be the result of the Greek tradition following closely beside a developing Hebrew text tradition« (301 f.).
An der Untersuchung ist das Grundmodell, nach dem eine textlich fluide Überlieferung auch dem literarischen Wachstum von Büchern entspricht, sehr zu begrüßen. Textkritik und Redaktionsgeschichte sind bei der exegetischen Arbeit oft komplementär anzuwenden. Ein methodologisches Problem wird jedoch gleich zu Anfang deutlich: Durch die enge Vorauswahl der zu untersuchenden Textstellen, die Bestimmung der relevanten Themenkreise als intertextuelle Zentren und die Definition des coherence approach werden die Voraussetzungen derart festgelegt, dass die Gefahr zirkulärer Argumentationen besteht. Wenn die Textstellen ohne »Tendenz« keiner Durchsicht unterzogen werden, fehlt auch die Sichtung des Befundes, der gegen die These der Vfn. sprechen könnte. Auch die oben zitierte Definition einer Tendenz scheint fragwürdig. Ferner wird deutschsprachige Literatur kaum rezipiert. Die Vfn. hätte etwa Nutzen aus den Arbeiten Karl-Friedrich Pohlmanns, auch Anja Kleins ziehen können. Die profunde Untersuchung Peter Schwagmeiers firmiert zwar im Literaturverzeichnis, begegnet in der Argumentation aber allenfalls am Rande. Gleichwohl legt die Vfn. eine Arbeit vor, deren Lektüre sich lohnt. Ihre gründlichen Analysen und Auswertungen führen zu einer wesentlichen Vertiefung der Er­kenntnisse über P 967 und der redaktionsgeschichtlichen Prozesse im Ezechielbuch, mithin in Prophetenbüchern allgemein. Der Vfn. gelingt es jedenfalls, durch die Anlage des Buches und die stilistisch ansprechende Darstellung der Materie die Lektüre dieser minutiösen textlichen Thematik zu einem Vergnügen zu machen.