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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

39–41

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Martínez, Javier [Ed.]

Titel/Untertitel:

Fakes and Forgers of Classical Litera-ture. Ergo decipiatur!

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2014. XIII, 296 S. = Metaforms, 2. Geb. EUR 125,00. ISBN 978-90-04-26641-4.

Rezensent:

Armin D. Baum

Gefälscht wurden in der Antike sowohl frühchristliche als auch pagane Texte. Letzteren ist der vorliegende Sammelband gewidmet, den Javier Martínez, Professor für griechische Philologie an der Universität Oviedo, herausgegeben hat. Er enthält etwa 20 Aufsätze, von denen einige auch aus bibelwissenschaftlicher Sicht interessant sind.
David Butterfield vom Queens’ College in Cambridge behandelt die Frage »Lucretius auctus? The Question of Interpolation in De rerum natura« (15–42). Sein Ergebnis lautet, dass das Lehrgedicht des Lukrez »Über die Natur der Dinge« nach seiner Erstveröffentlichung nicht systematisch umgearbeitet worden ist. Allerdings enthält es Hinweise darauf, dass der Autor keine Zeit mehr fand, in allen Teilen seines Werkes die gleiche sprachliche und stilistische Sorgfalt walten zu lassen. Auch Vergils Epos »Aeneis« ist offenbar unvollendet geblieben. Unfertige Verse weisen darauf hin, dass der Autor keine Endredaktion mehr durchgeführt hat. Vielleicht war ein früher Tod der beiden Autoren dafür verantwortlich. – Bibelwissenschaftler können anhand solcher unvollendeter Werke die These überprüfen, einige neutestamentliche Texte seien von ihren Autoren nicht fertiggestellt worden. Sowohl für das Markusevangelium als auch für die Apostelgeschichte hat man das aus den unvollständigen Schlüssen dieser Bücher gefolgert. In den beiden neutestamentlichen Texten finden sich jedoch keine unfertigen Sätze, die darauf hinweisen würden, dass eine Endredaktion unterblieben ist. Im Vergleich mit der »Aeneis« und »Über die Natur der Dinge« spricht dieser Befund eher dafür, dass das Markusevangelium von seinem Autor vollendet wurde, ein ursprünglicher Schluss aber schon sehr früh verloren ging.
David Hernández de la Fuente, Altertumswissenschaftler an der Nationalen Fernuniversität Spaniens, berichtet unter der Überschrift »The Poet and the Forger: On Nonnus’ False Biography by Constantine Simonides« (59–71) über einen griechischen Fälscher, dem es im 19. Jh. mit einigen seiner gefälschten Manuskripte ge­lang, sogar Experten wie den klassischen Philologen Karl Wilhelm Dindorf zu täuschen. U. a. veröffentlichte Simonides Evangelientexte, die noch in den 30er Jahren entstanden sein sollten. Trotz der Genialität seiner Fälschungen unterliefen Simonides chronolo-gische und andere Fehler. Zu seinen Gegnern, die ihn als Fälscher entlarvten, gehörte der Theologe und Bibelwissenschaftler Konstantin von Tischendorf. – In manchem erinnert Simonides an den amerikanischen Althistoriker Morton Smith, der 1958 in einem griechisch-orthodoxen Kloster bei Bethlehem einen Brief Clemens von Alexandriens entdeckt haben will, in dem dieser aus einem geheimen Markusevangelium zitierte. Falls dieser Text unecht sein sollte, worüber bis heute kein Forschungskonsens erzielt werden konnte, wäre Smith ein wesentlich begabterer und erfolgreicherer Fälscher gewesen als Simonides.
Mark Joyal, Altphilologe an der University of Manitoba behandelt »›Genuine‹ and ›Bastard‹ Dialogues in the Platonic Corpus: An Inquiry into the Origins and Meaning of a Concept« (73–93). Aristophanes von Byzantium stellte um 200 v. Chr. eine Ausgabe der Werke Platos zusammen, die 15 Texte umfasste. Nur die Echtheit eines dieser Werke, des Dialogs »Epinomis«, wurde bereits in der Antike bezweifelt. Im 1. Jh. n. Chr. erstellte Thrasyllus eine Werkausgabe mit 36 platonischen Texten, durch die diese Texte einen kanonischen Status erhielten. Thrasyllus bezeichnete all diese Texte als »ehelich« bzw. »echt«. In der Antike bezweifelte man nur vereinzelt die Echtheit der einen oder anderen Schrift seiner Ausgabe. Einige Zeit nach der Entstehung der Thrasyllus-Ausgabe wurde diese um einen Anhang erweitert, den sogenannten Appendix Platonica, der die allgemein als »unehelich« bzw. »unecht« angesehenen Platontexte enthielt. Die modernen Zweifel an der Echtheit kanonischer Platontexte wurden erstmals um 1800 von Friedrich Schleiermacher formuliert. – Insofern stellt die antike Platonwerkausgabe eine aufschlussreiche Analogie zur neutestamentlichen Paulusbriefsammlung dar. Auch die Echtheit ihrer Schriften wurde in der Antike nur sehr vereinzelt in Frage gestellt. Und auch in diesem Fall begann die moderne Echtheitskritik mit Friedrich Schleiermacher.
Karen Ní Mheallaigh von der University of Exeter berichtet unter dem Titel »Reading the Fraudulent Text: Thessalus of Tralles and the Book of Nechepso« (179–186) über eine Täuschungsstrategie in dem Buch »Über die Kraft der Pflanzen«, das dem berühmten Arzt Thessalus von Tralles (1. Jh. n. Chr.) zugeschrieben wurde. Darin behauptete der Autor, seine Heilmethoden in einer Begegnung mit dem Gott Asklepios erhalten zu haben, die ihm ein ägyptischer Priester ermöglicht habe. Die Glaubwürdigkeit dieser Behauptung über die wunderbare Herkunft seines Wissens unterstrich der Fälscher dadurch, dass er im Prolog seines Buches zunächst davon berichtete, wie er sich vor seiner Begegnung mit dem Gott Asklepios durch ein Buch des Pharaos Nechepso (7. Jh. v. Chr.) habe täuschen lassen. Denn die darin beschriebenen wunderbaren Heilmethoden hätten sich experimentell nicht bestätigen lassen.
Heinz-Günther Nesselrath vom Seminar für klassische Philologie an der Universität Göttingen schreibt über »Language and (in-) Authenticity: The Case of the (Ps.-)Lucianic Onos« (195–205). Ob das dem Lucian zugeschriebene Werk »Lukios oder der Esel« wirklich von diesem stammt, ist seit dem 17. Jh. umstritten. Als Haupteinwand gegen die Echtheit wird vorgebracht, dass sich das Werk von den übrigen Texten Lucians sprachlich unterscheide. Nesselrath unternimmt einen eigenen Sprachvergleich und findet im Esels-Roman 1. mehr als 80 Wörter, die in den unumstrittenen Werken Lucians nicht vorkommen, 2. einige Vorzugswörter, die im Esels- Roman mehrfach vorkommen und in Lucians unumstrittenen Werken sehr selten oder nie belegt sind, 3. stilistische Neigungen im Esels-Roman (wie eine Vorliebe für Diminutive), die bei Lucian sonst nicht vorkommen, 4. Synonyme statt typisch lucianischer Wörter und 5. einige grammatische Konstruktionen, die nicht zum attizistischen Stil Lucians passen. Aus diesen fünf sprachlichen Indizien folgert Nesselrath, dass »Lukios oder der Esel« nicht von Lucian verfasst worden sein kann. – Wie im Fall von »Lukios oder der Esel« hat sich auch in der neutestamentlichen Stilkritik an den Paulusbriefen kein allgemein akzeptierter Konsens herausgebildet. Nach wie vor werden auch für die umstrittenen Paulusbriefe stilkritische Argumente in beide Richtungen vorgetragen. Im Fall von »Lukios oder der Esel« wäre eine Gegenprobe aufschlussreich: Welche Resultate ergeben sich, wenn eine der unumstrittenen Schriften Lucians derselben stilkritischen Analyse un­terzogen wird?
Der Herausgeber Martínez hat in seinem Vorwort angekündigt, dass in diesem Sammelband neue Fragen über die antike Fälschung und ihre Motive gestellt und diese ohne ideologische Vorurteile beantwortet werden (XII). Diesen Anspruch hat der Band sicherlich nicht einlösen können, denn die darin behandelten Fragen werden seit Langem gestellt, und um Vorurteilslosigkeit im Umgang mit literarischen Fälschungen haben sich schon viele Altertumswissenschaftler bemüht. Zudem behauptet der Klappentext, die Postmoderne ermögliche es uns, das Werk des Fälschers mit neuen Augen zu betrachten. Und im Vorwort des Bandes heißt es: »Das neue Zeitalter der Postmoderne hat auch eine andere Haltung gegenüber dem Werk des Fälschers angeregt« (VII). Worin diese neue, postmoderne Haltung bestehen soll, ist mir bei der Lektüre der Einzelbeiträge nicht deutlich geworden.
Davon abgesehen beleuchtet der Sammelband wichtige Aspekte der antiken Fälschung, die dem Exegeten des Neuen Testaments helfen können, Fälschungsphänomene in frühchristlichen Schriften noch besser im Licht ihres historischen und kulturellen Kontexts zu interpretieren.