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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

34–37

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Khorchide, Mouhanad, Karimi, Milad, u. Klaus von Stosch [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Theologie der Barmherzigkeit? Zeitgemäße Fragen und Antworten des Kalam

Verlag:

Münster u. a.: Waxmann Verlag 2014. 198 S. = Schriftenreihe Graduiertenkolleg Islamische Theologie, 1. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-8309-2981-9.

Rezensent:

André Ritter

»Gott hat dich, Muhammad, als Barmherzigkeit für die Welten entsandt« (Q 21:107). Bedenkt man, wie oft im Koran die Barmherzigkeit Gottes an zentraler Stelle gepriesen wird, fällt auf, wie wenig sie in der traditionellen islamischen Gelehrsamkeit als Schlüsselbegriff theologischen Arbeitens etabliert wurde. Vor diesem Hintergrund möchte die hier vorzustellende Publikation – ausdrücklich im Sinne von kalâm (arab.) als ein vom Koran geleitetes und auf zeitgemäße Fragestellungen bezogenes theologisches Denken – die vielfältigen Dimensionen von Barmherzigkeit entwickeln und insbesondere die Frage nach der Zentralität der Rede von Gottes Barmherzigkeit diskutieren. Kann eine Theologie der Barmherzigkeit die grundlegende Botschaft des Korans systematisch erschließen? Welche Konsequenzen hat eine Fokussierung auf Gottes Barmherzigkeit für das Verständnis der Beziehung zwischen Gott und der Schöpfung? Welche Auswirkungen hat sie auf den Umgang mit Koran und Sunna? Bietet sie Perspektiven für eine Auseinandersetzung mit zeitgenössischen außerislamischen Diskursen?
Der Sammelband mit Beiträgen von Mohammed Ghaly, Ilhan Ilkilic, Hureyre Kam, Ahmad Milad Karimi, Mouhanad Khorchide, Serdar Kurnaz, Andreas Renz, Nimet Seker, Mohammad Ali Shomali, Klaus von Stosch und Ufuk Topkara, der zugleich eine neue Schriftenreihe des Graduiertenkollegs Islamische Theologie im Waxmann Verlag eröffnet, intendiert den wissenschaftlichen Diskurs im Rahmen der Islamischen Theologie in Deutschland. Diese neue Schriftenreihe – inzwischen liegt auch bereits ein zweiter Band zum Verhältnis von Heiligem Text und Geist vor – sucht Dokumentationen ausgewählter Veranstaltungen des Kollegs zu vereinen und fortlaufend Dissertationen der Kollegiaten zu veröffentlichen. Nach eigenem Bekunden sollen ihre Bände die thematische Bandbreite Islamischer Theologie in Deutschland umfassen und eine Vielzahl von interdisziplinären und intertheologischen Ansätzen mit einbeziehen.
Im Hintergrund des ersten Bandes steht zugleich die anhaltende und heftige Kontroverse über eine Publikation von Mouhanad Khorchide (Lehrstuhl für Islamische Religionspädagogik, Univer-sität Münster), die unter dem Titel »Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion« 2012 im Herder Verlag er­schienen ist. Dieses sich an eine breite Leserschaft wendende Buch enthält ein leidenschaftliches Plädoyer für ein Islamverständnis, das die Botschaft der Barmherzigkeit, die von einem absolut barmherzigen Gott ausgeht, in den Mittelpunkt stellt. Die Beziehung zwischen Gott und Mensch soll nicht auf Angst und Gehorsam gründen, sondern wie die Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Kind auf Liebe und Respekt – ein reformorientierter, für manche Kritiker fast schon re­volutionärer Ansatz, der auf seine Weise in Frage stellt, was vielen Muslimen bislang als unumstößlich erschien. Das dogmatisch enge und ausgrenzende Glaubensverständnis, das dem Autor in Saudi-Arabien begegnet war, scheint ihm das Wesen des Korans und Gottes selbst zu verfehlen. Nicht an Erfüllung von Regeln, also nicht an einer äußerlich-formalen Zu­gehörigkeit »Muslim ja oder nein«, könne sich wahre Gottesbe-ziehung entscheiden, sondern am le­bendigen Ge­genüber zu Gott, an menschlichen Werten, an Handlungen und Haltungen, an der Liebe zwischen Gott und Mensch.
Für den auf diese Kontroverse nun ausdrücklich Bezug nehmenden Tagungsband im Waxmann Verlag bildet wiederum die erste Sommerakademie des Graduiertenkollegs Islamische Theologie der Stiftung Mercator sowie der Universitäten Erlangen-Nürnberg, Frankfurt (Main), Hamburg, Münster, Osnabrück, Paderborn und Tübingen, die im Sommer 2012 an der Universität Münster stattgefunden hat, den maßgeblichen Diskussionsrahmen, um einerseits den islamisch-theologischen Diskurs in Deutschland zu profilieren und andererseits gerade die Nachwuchswissenschaftler in dieses Gespräch zu integrieren und ihnen eigene Positionierungen zu ermöglichen. Das gilt insbesondere auch im Rahmen einer islamwissenschaftlichen Debatte über Barmherzigkeit und Ge rech­tigkeit Gottes oder – wie Mouhanad Khorchide es nahelegt – über die Frage von Wesenseigenschaften und Tatattributen Gottes.
Gleiches gilt allerdings auch aus christlich-theologischer Sicht, wie Klaus von Stosch bilanziert: »So vielfältig und inspirierend auch die Anknüpfungspunkte von Khorchides Theologie sind, so anfragbar ist doch seine Fokussierung auf eine Theologie der Barmherzigkeit. Die Einschreibung der Barmherzigkeit in die Beziehungsfähigkeit Gottes scheint mir als freie Handlung der unverfügbaren Selbstbestimmung Gottes gedacht werden zu müssen, die mit der freien Tat der Schöpfung korrespondiert, und nicht als eine We­senseigentümlichkeit oder als eine Tat, die immer schon der Fall ist.« (53) Dabei geht es auf der einen Seite theologisch grundlegend um die Frage nach Gottes Einheit und Einsheit, auf der anderen Seite aber zugleich um den Begriff und das Verständnis von Barmherzigkeit im Sinne einer relationalen, wenngleich asymmetrisch ge­prägten Struktur.
»Dabei wird man vermutlich feststellen, dass man Gott nicht einfach immer in einem absoluten Sinne als barmherzig bezeichnen kann, weil dieses Attribut nicht immer angemessen die Gott-Mensch-Beziehung beschreibt. Vor allem wird man feststellen, dass Gott nicht in sich, also unter Absehung von der Welt, als barmherzig gedacht werden kann. Denn selbst wenn man ein Gegenüber in Gott denkt, dem er seine Barmherzigkeit zu schenken vermag, zerstört die dadurch entstehende Asymmetrie die Einheit Gottes. Jedenfalls würde so ein hierarchisches Gefälle in den Gottesbegriff eingetragen, was eigentlich kein monotheistischer Denker wollen kann […] Aber so wichtig der Begriff der Barmherzigkeit im Koran auch ist, so wenig überzeugend erscheint mir bisher Khorchides Begründung dafür, ihn als universalen Schlüssel für alle theologischen Reflexionen ins Feld zu führen.« (50)
Dies aber stellt nur die eine Seite der in diesem Diskussionsband verhandelten Problemstellung dar. Die andere Seite betrifft in grundsätzlicher Weise auch und gerade die Rolle islamischer Theologie in der Moderne. So macht beispielsweise der Beitrag von Ufuk Topkara zu Recht darauf aufmerksam, dass die gerade durch Vielfalt und Dialog geprägte Tradition islamischer Theologie und Philosophie etwas anderes ist, als gemeinhin unter traditionellem Islam verstanden wird. »Traditionell hat die islamische Gelehrsamkeit aber divergierende Meinungen oder Positionen begrüßt, unterstützt, ja diese pluralistische Kultur geradezu zelebriert.« (64) In diesem Sinne gebühre dem von Khorchide vorgestellten neuen Ansatz einer islamischen Theologie Dank und Anerkennung. Un­beschadet dessen stellt sich für Topkara dann aber die Frage, ob dieser Ansatz schon so weit gereift ist, die hier und heute notwendige Aufgabe einer zeitgenössischen islamischen Theologie bereits vollumfänglich zu erfüllen: »Wo Khorchide sich auf die islamische Tradition bezieht, geschieht dies nur punktuell. Es werden zwar Positionen unterschiedlicher Gelehrter kurz angesprochen, diese Bezugnahme bleibt aber nur Stückwerk und ist weit davon entfernt, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der islamischen Tradition darzustellen.« (68) Diese Kritik ist sowohl inhaltlich als auch methodisch zu verstehen, betrifft sie doch das vorgetragene Verständnis etwa von Freiheit und Unverfügbarkeit im Kontext menschlichen Denkens und Redens von Gott ebenso wie das damit verbundene hermeneutische Problem von Sprachfähigkeit und Dialogbereitschaft im wissenschaftlichen Diskurs. Doch gerade deshalb ist sie weit davon entfernt, Khorchides Beitrag zur notwendigen Debatte samt und sonders zu verwerfen. »Khorchides Theologie der Barmherzigkeit ist in einem spezifischen Sinn sehr modern. Es ist ein höchst individueller Zugang zum Islam, der sich zwar von puritanischen Kreisen distanziert, aber nicht den ›Streit‹ mit der Tradition sucht. In dieser Eigentümlichkeit ist Khorchides Theologie der Barmherzigkeit jedoch modern und rückschrittlich zugleich.« (69)
Dementsprechend geht zum Beispiel Ahmad Milad Karimi in seinem Beitrag »Wie Gott als Barmherzigkeit gedacht werden kann« den betreffenden Traditionen innerhalb wie außerhalb des Islam als Philosoph und Theologe ausführlich nach: »Was ist die Barmherzigkeit? In welchem Verhältnis stehen die Einheit und die Barmherzigkeit Gottes? Wie ist die Barmherzigkeit innerhalb der anderen Eigenschaften Gottes systematisch einzuordnen?« (107) Im Sinne einer derart orientierten Problemstellung so und nicht anders zu fragen, führt den Autor in einen umfassenden Dialog mit eigener und fremder Tradition östlicher wie westlicher Provenienz, wie nicht zuletzt auch die Durchsicht der Fußnoten rasch belegt, und nötigt ihn schließlich zur Einsicht: »Die Offenbarung als Koran ist also als Akt der Barmherzigkeit aufzufassen, indem Gott mit dem Koran seine eigene Gegenwart erleben lässt […] Gott ist die absolute Einheit, die mit dem Koran offenbar wird, weil er zugleich die Barmherzigkeit ist.« (115) Dieser vielfältig wie vielschichtig angelegte Diskurs wird dann auch im Beitrag »Gottes Attribute und die Beziehung zu seiner Barmherzigkeit« seines christlichen Kollegen Andreas Renz weitergeführt, der wiederum mit Seitenblicken auf den Islam nach dem christlichen Gottesbegriff fragt und aus seiner Sicht feststellt: »Eine vom Mittel- und Neuplatonismus beeinflusste Gotteslehre wird die Unendlichkeit und Unbeschreibbarkeit Gottes, also Seinseigenschaften ins Zentrum stellen, eine biblisch fundierte Gotteslehre dagegen eher Handlungseigenschaften wie die Liebe, Barmherzigkeit und Treue Gottes. Letztlich aber sind […] Wesen und Verhalten Gottes nicht zu trennen, denn die Verhaltensweisen Gottes ergeben sich aus seinem Wesen und seinem Willen, so dass alle seine Eigenschaften Wesenseigenschaften sind und in jeder Eigenschaft alle anderen Eigenschaften enthalten sind.« (138) Das gilt insbesondere auch für das Verhältnis von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, die sich als göttliche Eigenschaften bzw. Verhaltensweisen gegenseitig bedingen und wechselseitig auslegen (vgl. 140 f.).
Angesichts der zum Teil harschen Reaktionen im In- und Ausland auf Khorchides Publikation mag nun etwa Topkaras Fazit, um abschließend darauf zurückzukommen, für den vorgestellten Diskussionsband insgesamt gelten: »Auch wenn die Position eines muslimischen Theologen nicht überzeugen mag oder Irritationen hervorruft, darf dies nicht dazu führen, diesem die Unterstützung zu entziehen. Es muss klargestellt werden, dass Khorchides Theologie der Barmherzigkeit, so kritikwürdig sie scheinen mag, einen Beitrag zur Debatte der Islamischen Theologie in Deutschland darstellt.« (74) Möge es tatsächlich so sein!