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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

32–34

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kamali, Mohammad Hashim, u. Saffet Köse

Titel/Untertitel:

Menschenrechte aus zwei islamtheologischen Perspektiven

Verlag:

Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2013. 201 S. = Reihe für Osnabrücker Islamstudien, 14. Geb. EUR 39,95. ISBN 978-3-631-64321-1.

Rezensent:

Christine Schirrmacher

Wer dieses Buch zur Hand nimmt, sucht Antworten auf Fragen wie: Sind Islam und Menschenrechte miteinander kompatibel? Bietet die islamische Theologie Anknüpfungspunkte für deren positive Begründung? Geht die Tatsache, dass in zahlreichen islamisch geprägten Ländern Menschenrechte so stark eingeschränkt werden, eher auf den Islam als Staatsreligion oder auf politische Fehlentwicklungen zurück? – Zu diesen Fragen stößt der Leser in der Studie von Mohammad Hashim Kamali und Saffet Köse, die hier ihre – allerdings nur graduell unterschiedlichen – »islamtheologischen« Sichtweisen ausbreiten, einerseits auf Aufschlussreiches, andererseits auf Enttäuschendes.
Aufschlussreich ist das Buch insofern, als beide Autoren Ein-blicke in innerislamische Menschenrechtsdiskurse vermitteln: Quelle der Begründung von Menschenrechten sind für beide ausschließlich Koran und Sunna (Überlieferungen über Muhammad, seine Gefährten und Nachfolger). Oder anders gesagt: Was aus diesen Texten an Menschenrechten nicht ableitbar ist, hat für die Autoren keinerlei Berechtigung, womit der Rahmen zur Begründung von Menschenrechten eng abgesteckt ist.
Aufschlussreich sind im ersten Teil des Buches folgende Grundauffassungen Kamalis:
1. Kamali argumentiert (wie aus dem Islamismus bekannt) kaum mit Menschenrechten, sondern vor allem mit der »Würde« des Menschen, die hier jedoch inhaltlich schwammig bleibt und völker- wie schariarechtlich ohne jede praktische Bedeutung ist. Er zitiert Korantexte mit Appellen, die Würde des Menschen zu achten, oder Mahnungen, seine Beleidigung zu unterlassen, und impliziert damit, dass der Koran zur Respektierung und Achtung jedes Individuums aufruft. Allerdings sind diese koranischen Ap­pelle nicht Bestandteile des bis zum 10. Jh. formulierten Schariarechts geworden, ganz im Gegenteil: Nach Schariarecht besitzt der Muslim mehr Rechte als der Nichtmuslim, der Mann mehr als die Frau und der Christ mehr als der Hindu oder Buddhist. Wenn Kamali also fordert, dass »alle Menschen und alle Völker […] Gleichheit und Gleichbehandlung ohne jede Diskriminierung genießen müssen« (26), dann widerspricht das dem – im Zivilrecht in allen arabischen Staaten gültigen – Schariarecht und der dortigen Rechtswirklichkeit. Damit verwischt Kamali die Grenzen zwischen rechtlicher Realität, schariarechtlichen Normen und seinen persönlichen Idealvorstellungen.
2. Erst die Erfüllung bestimmter Pflichten berechtigt den Menschen aus Kamalis Sicht, auch Rechte in Anspruch zu nehmen. Menschenrechte leiten sich für ihn, ganz so wie es das Schariarecht lehrt, von bestimmten Voraussetzungen ab: Menschenrechte entstehen für ihn aus einer Bringschuld des Menschen. Damit sind für Kamali Menschenrechte nicht vorstaatliche Rechte, die der Mensch besitzt, weil er Mensch ist, sondern die verdient werden (20); so haben Menschenrechte für ihn nur den Rang von Grundrechten, die der Staat im Fall der »Unterwerfung« des Menschen (also Zugehörigkeit zum Islam) gewähren kann.
3. Die Aufgabe des Staates besteht für ihn in der »Aufrichtung einer gerechten politischen Ordnung und Regierung«; diese ist Voraussetzung für die Wahrung der »wesentlichen Interessen« des Individuums, nämlich der Schutz des Glaubens, des Lebens, des Besitzes, der Vernunft und Nachkommenschaft (19), womit postuliert wird, dass eine politische Durchsetzung des Islam Voraussetzung für Individualrechte ist. Dass für Kamali der Islam Religion wie gesellschaftspolitisches System ist, wird deutlich, wenn er die Körperstrafen des Schariarechts (Amputation, Steinigung, Auspeitschung) »im Dienst der Gerechtigkeit« für erlaubt erklärt und lediglich »Mäßigung und Angemessenheit« bei ihrer Anwendung fordert (80 f.), sie aber nicht an sich kritisch hinterfragt.
Enttäuscht wird der Leser dieser Studie insofern, als sich besonders Köse im 2. Teil vor allem der apologetischen Abwehr außerislamischer Begründungen von Menschenrechten widmet und den Islam in gesellschaftlich-politischer wie moralischer Hinsicht als absolut überlegen postuliert. Es fehlt jede Auseinandersetzung mit Andersdenkenden, vor allem auch mit anderen islamischen Theologen und Intellektuellen. Problematische Aspekte der Thematik Menschenrechte und Islam werden konsequent ausgeblendet. Dieser Tunnelblick führt zu einer Reihe von essentialistischen Urteilen und Zirkelschlüssen, weshalb das Buch kaum als wissenschaftlicher Fachbeitrag wahrgenommen werden wird.
Stärker noch als bei Kamali wird bei Köse die Tendenz deutlich, die Ideale mancher Koranverse mit der (zweifellos mit neutes-tamentlichen Maßstäben oft nicht kongruenten) Machtpolitik Europas zu vergleichen und dortige politische Fehlentwicklungen in predigtgleicher Schwarz-Weiß-Malerei ausnahmslos dem Chris­tentum zuzuschreiben (138 f.). Das Christentum erscheint als einzige Aneinanderreihung von »Glaubenskriegen«, »Fanatismus«, »Mas­sakern«, »Zwangsbekehrungen als heiligster Aufgabe«, »Machtmissbrauch«, »Folter«, »Bekämpfung anderer Religionen«, »Inquisition« und »gewaltsamer Unterdrückung« durch »Kreuzzügler«, die allenthalben »Ermordung« und »Plünderung« verübten, während der Islam jeden »Fanatismus im Keim ersticken lässt« (149). Anschließend verteidigt Köse den Djihad als humanes Unternehmen und die Todesstrafe für Apostasie als Notwehrmaßnahme: Für ihn »hat der Islam die Glaubensfreiheit in ihrer vollkommensten Form anerkannt« (134); Probleme gäbe es hier allein im »christlichen Kontext« (136). »Einige unrechte Taten« in der islamischen Geschichte werden vereinzelten Individuen zugeschrieben, die jedoch »durch die Gesellschaft immer verurteilt wurden« (192). Kriegsverbrechen dagegen wie Vergewaltigung werden ausschließlich westlichen Ländern zugeschrieben (192 f.), ebenso wie Rassismus, Nationalsozialismus und Faschismus (194).
Was Köse von Menschenrechten im westlichen Kontext hält, wird vollends deutlich, wenn er darlegt, dass westliche Länder »die Menschenrechte als Tarnung« für ihr »eigentliches Ziel des Profitgewinn(s)« nutzten, für »Unredlichkeit und Heuchelei« (192). Alles Böse dieser Welt entspringt dem Westen, der »gewissermaßen das Ego verherrlicht«, während im Islam »wahre Freiheit« durch die Unterwerfung unter Gott entsteht (113).
Wer erwartet hatte, dass die Autoren, die seit vielen Jahren in Malaysia und der Türkei im Fachbereich Islamisches Recht im universitären Kontext lehren, akademisch abgewogen oder stärker realitätsbezogen argumentieren, wird zur Kenntnis nehmen müssen, dass derartige pseudowissenschaftliche Binnendiskurse offensichtlich auch eine Problemanzeige eines isolierten, vor allem der eigenen Selbstvergewisserung dienenden Wissenschaftsbetriebs sind; Formulierungen wie »Die Wissenschaftler […] sind sich einig« zeugen nicht gerade von vertieftem akademischen Arbeiten. Die Zielrichtung beider Autoren scheint vor allem die Proklamation der Höher- und Überordnung des Islam als einzige gerechte Ordnung bzw. die Vermittlung eines plakativ-simplifizierten Feindbildes »Westliche Welt« zu sein. Menschen- und Freiheitsrechte für Andersdenkende und Nicht-Muslime werden sich auf diese Weise kaum begründen lassen.