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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

24–27

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Eisen, Ute E., Gerber, Christine, u. Angela Standhartinger [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Doing Gender – Doing Religion. Fallstudien zur In­tersektionalität im frühen Judentum, Christentum und Islam

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. IX, 468 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 302. Lw. EUR 124,00. ISBN 978-3-16-152226-0.

Rezensent:

Kathy Ehrensperger

Dieser Sammelband basiert auf einer interdisziplinären Tagung, die unter demselben Titel im Frühsommer 2011 in Rauischholzhausen (Hessen) stattfand. Die 15 Beiträge sind in fünf themen-orientierte Sektionen eingeteilt, wobei drei Beiträge sich unter dem Titel »(De)konstruktion und Applikation« mit theoretischen Grundlagenfragen befassen, gefolgt von Beiträgen unter den Obertiteln »Interkulturelle Ehen und Geschlechtermoral im frühen Judentum, Christentum und Islam«, »›Gender‹ in Religionspolitik und Moral«, »Sklavinnen in Zeiten religiöser Rechtsbildung« und »Männerfragen zum Neuen Testament«.
Eröffnet wird der interessante und vielfältige Band durch eine ausgezeichnete Einleitung der Herausgeberinnen. Dieser Beitrag fasst die divergenten Fallbeispiele in ihrer Diversität zusammen, bietet aber vor allem einen Überblick über die Debatte zur Intersektionalität im Kontext des internationalen Wissenschaftsdiskurses. Die multidimensionale Wechselwirkung von Geschlecht und Religion, wie sie sich an Texten der Antike und Spätantike, namentlich des Alten Testaments, Frühjudentums, Neuen Testaments, der ältesten christlichen Gemeinschaften und des frühen Islam zeigt, steht im Zentrum der Beiträge. Der Diskurs der Intersektionalität, der sich ausgehend von Crenshaws feministisch-juristischem An-satz zur Analyse multipler Diskriminierungen von class, race und gender in den letzten 20 Jahren in den Sozial-, Politik- und Geisteswissenschaften entwickelt hat, wird in unterschiedlicher Weise in allen Beiträgen aufgenommen. Die Herausgeberinnen betonen, dass die Leit-Kategorien Gender und Religion hier in nicht-essentialistischer Weise als sozial-dynamische Prozesse verstanden werden. Es wird darauf hingewiesen, dass auch das Konzept der Intersektionalität in seiner praktischen Anwendung grundlegend auf selbstkritische Reflexion angewiesen bleibt, da die Vorstellung von Kategorien, die sich kreuzen, u. a. zur Idee führen kann, dass diese von Kreuzpunkten losgelöst existierten, was der multidimensionalen Verflechtung vieler Interaktionen nicht gerecht wird. Andere Sprach- und Diskursmetaphern müssen diejenige der Intersektio nalität ergänzen oder mindestens auch in ihrer Fragwürdigkeit beleuchten.
Nach einem kurzen forschungsgeschichtlichen Überblick zu früheren Ansätzen von Intersektionalität in deutsch- und englischsprachiger feministisch-theologischer Diskussion und im vor allem englischsprachigen postcolonial Diskurs wird der Begriff Religion in seiner Angemessenheit für die Analyse antiker Texte problematisiert. Eine der Kürze entsprechende angemessene Diskussion der Problematik wird mit einem Verweis auf Karen King zusammengefasst, die auf den Praxischarakter, d. h. auf das kulturell eingebettete Handeln antiker Menschen als entscheidende Faktoren dessen, was in heutigen Analysen unter der Kategorie Religion zusammengefasst wird, verweist. Die Fallstudien sind inhaltlich nicht einheitlich, auch nicht in ihrem Verständnis und ihrer Anwendung des Konzeptes Intersektionalität, und können dies auch nicht sein. In ihrer Vielfalt reflektieren sie das, was die Herausgeberinnen als ein entscheidendes Merkmal des Konzepts selbst verstehen: »Eine intersektionale Hermeneutik stellt […] Analyseinstrumentarien bereit, die Marginalisierungen, Privilegierungen und Hierarchisierungen und die sie hervorbringenden Dis-kurse entschleiern.« (29) Unterschiedliche Perspektiven sind dem Ansatz inhärent und fordern von den Betrachtenden, die zu analysierenden Texte aus immer noch einmal anderen Blickwinkeln anzuschauen und mögliche unterschiedliche kontextuelle und textimmanente Perspektiven wahrzunehmen. Darin sehen die Herausgeberinnen ein wesentliches Potential des Konzepts, welches die Polyphonie und Pluralität antiker Texte im Bezug auf die Wechselwirkung von Gender und Religion (aber nicht darauf be­schränkt) ausloten kann und dadurch zu erhellend anderen Les­arten als den traditionell vertrauten führt. Die 15 Beiträge de­monstrieren so auf eindrückliche Weise, wie die Anwendung des Konzepts der Intersektionalität in konkreten Fallbeispielen zu substantiell neuen Einsichten führen kann, die alternative Perspektiven und neue Verstehenshorizonte vertrauter Texte eröffnen. Es ist im Rahmen dieser Rezension nicht möglich, alle Perlen vorzustellen, doch sollen einige wenige Bemerkungen darauf verweisen, welche wesentliche Einsichten mittels dieses Ansatzes gewonnen werden können.
Der Beitrag »Geschlecht und Religion als interdependente Kategorien des Wissens« von Ulrike Auga verweist auf die Rolle epistemischer Gewalt in Wissenschaftsdiskursen und untersucht, inwiefern Intersektionalität dazu beitragen kann, solch dominante hegemoniale Diskurse zu hinterfragen und Alternativen zu finden. Als wesentlich wird von ihr die Dessentialisierung der Kategorien selbst angesehen, um Interdependenz wirklich wahrnehmen zu können, was Auga anhand einer Analyse aus dem ›Hirten des Hermas‹ darlegt. Beiträge von Karen King (»Gender Contestation as Political Critique: Four Cases fom Ancient Christianity«) und Silke Petersen (»Jede Häresie ist eine wertlose Frau [Epiphanius von Salamis]. Zur Konstruktion der Geschlechterdifferenz im Re­ligionsstreit«) bieten weitere Einsichten in die Theoriebildung, wobei Petersen aufzeigt, wie die Applikation des Konzeptes zur Dekonstruktion der Annahme, dass Frauen vor allem in sogenannten häretischen früh­christlichen Gruppen führend waren, beiträgt und damit wesentliche alternative historische und soziologische Einsichten vermittelt. Die Beiträge von Christl M. Maier (»Der Diskurs um interkulturelle Ehen in Jehud als antikes Beispiel von Intersektionalität«) und Aliyah El Mansy (»Interreligiöse Ehen im literarischen Diskurs des 1./2. Jahrhunderts. Plutarch und der Erste Petrusbrief im Vergleich«) richten den Blick auf die unterschiedliche Bewertung interkultureller/interreligiöser Ehen in den jeweils verschiedenen Kontexten und zeigen, dass die Wahrnehmung und Analyse der Schnittpunkte Gender – Religion zu differenzierteren Einsichten führt als eine monokausale Betrachtungsweise. Dies ergibt sich auch aus den Beiträgen von Bärbel Beinhauer-Köhler (»Untreue im entstehenden Islam. Eine koranische Norm der Paarbeziehung im Wechselspiel der neuen Religion«) und Doris Decker (»Frauen zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. Wandel weiblicher Geschlechtskonstruktionen in religiösen Veränderungsprozessen am Beispiel frühislamischer Überlieferungen«). Friederike Oertelts intersektionelle Analyse (»Gender, Religion und Politik bei Philo von Alexandrien«) bestätigt das anderweitig festgestellte negative Frauenbild Philos, während Christina Krause (»Patria Potestas – Honour– Shame. Tote Töchter im Kapitel ›De pudicitia‹ des Valerius Maximus«) durch ihre Textanalyse den Konsens, dass die Ehre der Väter durch den sexuellen Status ihrer Töchter »beschädigt« wird, überzeugend widerlegt. Brigitte Kahl (»Krieg, Maskulinität und der imperiale Gottvater. Das Augustusforum und die messianische Re-Imagination von ›Hagar‹ im Galaterbrief«) zeigt auf, dass die Kontextualisierung der paulinischen Hagardeutung im Schnittfeld Imperium (sichtbar in der Unterwerfungsikonographie Roms ), Sklaverei und Gender zu einer alternativen Interpretation dieser Allegorie als eines Verweises auf die von Israel und den Völkern geteilte Versklavung unter Roms Gewaltherrschaft führt, im Unterschied zur traditionell antijüdisch verstandenen Deutung dieses Abschnitts des Galaterbriefes. Catherine Hezser (»Part Whore, Part Wife. Slave Women in the Palestinian Rabbinic Tradition«) analysiert die komplexen Bezüge zwischen Mitgliedern eines jüdischen Haushalts und die sich vielfach überschneidenden Ansprüche an Sklavinnen sowohl von Seiten ihrer Besitzer als auch ihrer Besitzerinnen in ihrer Divergenz und Parallelität zu römischen Gesellschaftsnormen. So fällt auf, dass im Unterschied zu römischem Recht jüdische Besitzer ihren Sklaven und Sklavinnen Ehen oder eine eheähnliche Verbindung zugestehen konnten und die Rabbinen sich zum mindesten kritisch gegenüber sexuellen Beziehungen zwischen freien jüdischen Männern und Sklavinnen äußerten. In gewisser Weise schließt Bernadette Brootens Beitrag (»Enslaved Women in Basil of Caesarea’s Canonical Letters«) durch ihre Analyse eines christlichen Textes an Hezser an. Auffallend findet sich auch hier die Erlaubnis der Eheschließung zwischen Sklavinnen und Sklaven durch den Sklavenhalter, wobei Brooten aber darauf hinweist, dass damit nichts über die sexuelle Verfügbarkeit der Sklavin für ihren Herrn ausgesagt ist. Auch im frühchristlichen Kontext werden sexuelle Übergriffe sowohl gegenüber freien Frauen als auch gegenüber Sklavinnen als solche benannt, die Frage ist jedoch auch hier nicht, ob Frauen dadurch verletzt werden, sondern inwiefern eine Schuld ihrerseits vorliegt. Das Verhalten des Mannes unterliegt keiner kirchlichen Strafe. Einzig als kirchlich registrierte Jungfrauen konnten sich Frauen vor solchen Übergriffen schützen – eine Option, die allerdings Sklavinnen kaum offenstand.
Der Band schließt mit drei Beiträgen zur Männlichkeit in neutestament-lichen Texten. Moisés Mayordomo vergleicht Aspekte des markinischen Jesusbildes mit dem römischen Ideal von Männlichkeit und findet im Jesus-Bild des Evangeliums ambivalente Züge, die er als zwischen hegemonialer römischer und subalterner frühchristlicher Männlichkeit oszillierend verortet. Shelley Matthews (»The Weeping Jesus and the Daughters of Jerusalem. Gender and Conquest in Lukan Lament«) hingegen sieht im lukanischen Bild des weinenden Jesus eine maskuline Gestik in Parallelität zum erobernden General, wobei Jesus nicht als General, sehr wohl aber als König und Richter über das ungläubige Jerusalem gesehen wird. Die maskulinen Tränen sind Ausdruck des endgültigen Gerichts über die einst glorreiche Stadt und des Transfers dieser Glorie auf ein neues Volk. Den Abschluss bildet Martin Leutzschs Beitrag (»Eunuch und Intersektionalität. Ein multiperspektivischer Versuch zu Apg 8,26–29«). In klaren Schritten werden unterschiedliche kontextuelle Perspektiven auf Spezifika des Hauptcharakters ausgeleuchtet. Durch diese kontextspezifische Applikation des Konzeptes der Intersektionalität werden traditionelle Interpretationen dieses Textes, die den Hauptcharakter als durch Mehrfachunterdrückung geprägt verstehen, hinterfragt.
Der Sammelband bietet einen ausgezeichneten Einblick in den Intersektionalitätsdiskurs in seiner Relevanz für Textanalysen der Antike. Die historische Verortung und theoretische Grundlagen-debatte an den Schnittpunkten deutsch- und englischsprachiger Forschung ist ein wesentlicher Beitrag zur gegenseitigen Wahrnehmung und vertieften Auseinandersetzung zwischen diesen sprachlich und kulturell verwandten und doch auch verschiedenen Diskursen. Die Fallbeispiele verdeutlichen in unterschiedlicher, aber eindrücklicher Weise den Einsichtsgewinn, der sich aus der An­wendung des Konzeptes der Intersektionalität ergibt, auch wenn sich im Einzelnen durchaus kritische Anfragen an spezifische Anwendungsweisen und Schlussfolgerungen stellen. Der Band ist ein äußerst wichtiger Beitrag, der zu weiterer Auseinandersetzung einlädt.