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Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

731–734

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Fee, Gordon D.

Titel/Untertitel:

Paul’s Letter to the Philippians.

Verlag:

Grand Rapids: Eerdmans 1995. XLVI, 497 S. 8 = The New International Commentary on the New Testament. ISBN 0-8028-2511-7.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Mit der Auslegung des Philipperbriefes hat Gordon D. Fee bereits den zweiten Band zu dem inzwischen auch von ihm herausgegebenen "New International Commentary on the New Testament" beigesteuert (vgl. ThLZ 113, 1988, 748-750). Der Kommentar ist ausdrücklich für den "parish minister and teacher of Scripture" geschrieben. "Scholar" und "classroom teacher" hat der Autor ebenso im Blick, wenngleich nicht als "primary readership" (XI). Aus gelegentlichen Bemerkungen (z. B. 118 zu 1,15-18a: "Most of us know this material so well that we tend to overlook how surprising it is.") läßt sich erschließen, daß er Leser voraussetzt, die mit dem Bibeltext sehr gut vertraut sind und ein vertieftes theologisches Verständnis für heute anstreben. Dafür bietet der Kommentar ausgezeichnete Hilfen.

Textgrundlage der Kommentarreihe ist die "New International Version" (NIV), deren Übersetzung der jeweiligen Auslegung vorangestellt wird. Basis dieser Auslegung ist aber durchgängig Nestle-Aland26 (die Textgrundlage der NIV). Handschriftliche Varianten werden ausführlich in Anmerkungen diskutiert, Abweichungen der NIV von N26 immer notiert und nicht selten kritisiert. Ziel der Kommentierung ist die genaue Klärung des Wortsinnes der paulinischen Aussagen mit Hilfe einer sehr detaillierten sprachlichen Analyse des griechischen Textes als Grundlage für die theologisch-pastorale Auslegung. Es handelt sich also keineswegs um eine "allgemeinverständliche" Auslegung, sondern um einen wissenschaftlich-exegetischen Kommentar für ausgebildete Theologen.

Die hermeneutischen Leitlinien der Auslegung werden nicht explizit dargestellt, sind aber klar erkennbar. Der Autor schreibt von einer reflektierten theologischen Position aus, die im angelsächsischen Raum als "evangelical" bezeichnet werden dürfte, was nicht mit dem in Deutschland verbreiteten Bild (bzw. Klischee) von "evangelikal" gleichgesetzt werden kann. Das zeigt sich in historischen Urteilen (paulinisch sind nach F. z. B. auch 2Thess, Eph, Kol und Past; der Paulusbegleiter Lukas ist Autor der "Wir-Passagen" der Apg), die freilich jeweils in Kenntnis von und Auseinandersetzung mit abweichenden Meinungen auf der Basis historisch-kritischer Argumentation begründet werden. Vor allem aber wird es spürbar in einer Haltung des gezielten Hörens auf die theologische Botschaft der Schrift für die Gemeinde heute, im stetigen Bemühen, Ergebnisse der Textauslegung auf die Situation und die Herausforderungen von Christen in der nordamerikanischen Gesellschaft der Gegenwart zu übertragen. Dazu kommt ein leicht lesbarer, gelegentlich geradezu lockerer Stil, der dem Leser auch das harte Brot grammatischer und syntaktischer Analysen schmackhaft machen kann.

Die Gliederung des Kommentars folgt der Briefstruktur. Die Überschriften der "Analysis of Philippians" (54 f.) werden als Kapitel- und Abschnittüberschriften in die Auslegung übernommen. Weitere Untergliederungen nach methodischen Gesichtspunkten fehlen. Allerdings läßt sich erkennen, daß jeweils auf die Übersetzung zunächst eine zusammenhängende Analyse des Textabschnitts, oft mit hilfreichen Strukturübersichten, und dann die versweise Einzelauslegung folgt, in die die theologische Interpretation in der Regel bereits einbezogen wird. Den Abschluß bilden meist kurze aktualisierende Bemerkungen. Abschnitte, die die Auslegung zusammenfassen, oder Exkurse gibt es nicht.

Die englischsprachige Kommentar- und Sekundärliteratur ist in grossem Umfang herangezogen, bis hin zu ungedruckten Dissertationen aus den 90er Jahren (Bibliography, XXI-XLVI), und wird in den Anmerkungen, die oft mehr als die Hälfte der Seite umfassen, ausgiebig diskutiert. Von deutschen Kommentaren wird auf Gnilka, Lohmeyer und K. Barth häufig verwiesen (am häufigsten, freilich in engl. Übers., auf H. A.W. Meyer), auf Schenk, Dibelius und Michaelis gelegentlich. U. B. Müller, Ernst, G. Barth, Friedrich und Staab werden in der Bibliographie aufgeführt, aber nie herangezogen. Auch deutsche Monographien zum Philipperbrief erscheinen lediglich im Literaturverzeichnis, ähnlich französische Literatur. Großen Raum in den Anmerkungen nimmt die Diskussion von Übersetzungsvarianten in den wichtigsten englischen Bibelübersetzungen ein. All dies entspricht dem Adressatenkreis des Kommentars.

Theologische Leitgedanken der Auslegung, die schon in der Introduction kurz benannt (12-14.46-53) und dann immer wieder aufgegriffen werden, sind: 1. die den Brief prägende Dreiecksbeziehung ("three-way bond") zwischen Christus, dem Apostel und der Gemeinde, die durch ihre jeweilige Beziehung zum Evangelium bestimmt wird (ein Schema dazu 13); 2. die Christusbezogenheit des paulinischen Selbstverständnisses als Apostel (wenngleich Paulus sich im Philipperbrief nie so nennt) und aller in ihm wurzelnden Briefaussagen; 3. die Hervorhebung der Bedeutung des Geistes (vgl. bes. 132 ff. zu 1,19; 164 ff. zu 1,27; z. T. auch an Stellen, wo er im Text nicht explizit erwähnt wird, z. B. 80 f. zu 1,4); 4. die paulinische Eschatologie mit Betonung auf dem spannungsvollen Verhältnis zwischen "schon" und "noch nicht". Auch der Gottesvolk-Gedanke spielt eine wichtige Rolle, wobei Beziehungen zum Alten Testament vorwiegend unter dem Stichwort "Intertextualität" ausgewertet werden (grundlegend dazu in der Introduction 17f.; vgl. auch 64 f. zum Präskript, 241-248 zu 2,14 f.). Dabei wird Vertrautheit der Briefadressaten mit der Schrift vorausgesetzt. Verweise auf frühjüdische Texte und Überlieferungen finden sich aber kaum. Auch pagane Texte werden nur selten herangezogen (Stellenregister 476-493; weitere Register zu Sachen 463-467, modernen Autoren 468-475 und griechischen Wörtern 494-497).

Charakteristische Beispiele für die Position des Autors sind die Auslegungen zu 2,5-11 und 3,1-4,3. Der "Christushymnus" ist keiner, sondern gehobene, rhythmische Prosa bzw. "poetic narration" (201, vgl. dazu schon in der Introduction 39-46). V. 9-11 stehen stilistisch eher der argumentativen Textsorte nahe. Auch läßt sich kein "vorpaulinisches" Traditionsstück rekonstruieren; vor allem darf ein solcher Versuch nicht davon ablenken, den gesamten Text als Zeugnis paulinischer Theologie zu verstehen. Dem Kontext entsprechend sind die Aussagen paränetisch zu interpretieren, was ihrem christologisch-soteriologischen Gehalt aber keinen Abbruch tut. Die Ellipse in V. 5 ist mit qÓ bzw. âÛÙÓ zu füllen. V. 6 drückt klar die Präexistenz Christi aus (u.a. gegen die These einer Adam-Christologie). Für Paulus ist in Jesus Christus die wahre Natur des lebendigen Gottes offenbar geworden. Daß Christus als Vorbild für uns dient, ist nicht Verrat am paulinischen Evangelium, sondern bildet einen wesentlichen Aspekt: "that there is no genuine life in Christ that is not at the same time, by the power of the Holy Spirit, being regularly transformed into the likeness of Christ" (227).

Die Polemik in 3,2 wird durch den Aufruf zur Freude (3,1; 4,4) mit dem brieflichen Kontext verknüpft. Auch die christozentrische Zuspitzung der paulinischen Selbstaussagen in 3,4-14, ihre eschatologische Ausrichtung in 3,20 f. und ihre paränetische Ausrichtung auf die Adressaten in 3,17; 4,1-7 entsprechen vorangehenden Briefaussagen. Alle Aussagen des Abschnitts lassen sich von der Gattung des Briefes her (Freundschaftsbrief mit mahnender Ausrichtung) verstehen. Die Adressaten der Polemik von 3,2 sind in Philippi (noch?) nicht aktiv. Es handelt sich um Judenchristen, die unter nichtjüdischen Gemeindegliedern die Beschneidung propagieren und damit auf eine gewisse Attraktivität hoffen können. Sie stellen aber eher für Paulus als für die Adressaten eine aktuelle Gefahr dar. Briefteilungshypothesen aufgrund einer angeblichen Situationsveränderung in Philippi erübrigen sich.

Damit sind wir bei den Einleitungsfragen (Introduction, 1-53). Ausführlich behandelt F. zunächst die Frage der Gattung (I. Philippians as a Letter, 1-24). Rhetorische Gesichtspunkte werden berücksichtigt (14-17), spielen aber gegenüber der Briefgattung eine untergeordnete Rolle. Ausgehend von einem Vergleich mit antiken Briefgattungen bestimmt F. den Philipperbrief als "hortatory letter of friendship" (12), für den freilich die Dreiecksbeziehung Christus-Paulus-Philipper das entscheidende individuelle Merkmal ist. Diese Dreiecksbeziehung, deren Mittelpunkt das Evangelium bildet, hält auch die ermahnenden, polemischen, paradigmatischen und christologischen Briefaussagen zusammen, so daß sich eine einheitliche Intention für den ganzen Brief ergibt. Damit legt sich bereits das Urteil über die literarische Einheitlichkeit des Briefes nahe, das noch eigens in Auseinandersetzung mit Teilungshypothesen begründet wird (21-23).

Anschließend werden Gemeindesituation und Situation des Briefautors bestimmt (II. The Occasion of Philippians, 24-39). Auch hier ergibt sich Einheitlichkeit, die in Beziehung steht zu den beiden gattungsbestimmenden Elementen des Briefes: Das Freundschaftsethos richtet sich an eine von außen bedrängte Gemeinde. Die Ermahnungen wenden sich gegen Anzeichen innergemeindlicher Unruhe. Die äußere Bedrängnis rührt her von den heidnischen Bewohnern von Philippi, die als römische Bürger, möglicherweise im Zusammenhang mit dem Kaiserkult, den Status der paulinischen Gemeinde in der Stadt untergraben. Dieser Bedrängnis in Philippi entspricht die des Paulus als kaiserlicher Gefangener in Rom (34-37). Unruhe in der Gemeinde wird hervorgerufen durch ambitionierte, sich in den Vordergrund drängende Gemeindeglieder. Von einer Spaltung der Gemeinde kann aber noch nicht gesprochen werden.

Mit der Festlegung auf Rom als Abfassungsort und auf römische Bürger in Philippi als Gegner der Gemeinde verbinden sich in der Auslegung gelegentlich weitergehende Spekulationen über historische Hintergründe (z. B. 116.120 ff. über die Lage der römischen Gemeinde und den Prozeß des Paulus Anfang der 60er Jahre; 161 f.378 f. über das römische Bürgerrecht und den Kaiserkult in Philippi), die weder durch Belege noch durch Verweis auf althistorische Sekundärliteratur untermauert werden. Daß XXXXXXXX bzw. XXXXX (1,27; 3,20) auf mit dem römischen Bürgerrecht verbundene Rechte und Pflichten anspielen sollen, ist ganz unwahrscheinlich. Eher könnten mit dem Status jüdischer Gemeinschaften der Diaspora verbundene Sonderrechte im Blick sein. Daß die Gemeinde in Philippi im "Dunstkreis" der Synagoge entstanden ist, sieht auch F. (27). Dort aber war römisches Bürgerrecht (ebenso wie städtisches) allenfalls Ausnahme. Eine "dual citizenship" jedenfalls (161 u. ö.) empfiehlt Paulus gerade nicht; vielmehr verweist er auf das einzige für die Glaubenden relevante Gemeinwesen "im Himmel", nach dessen Grundsätzen sich ihr Wandel ausrichten soll.

Im deutschen Sprachraum gibt es derzeit zum Philipperbrief nichts Vergleichbares nach Ausführlichkeit der Auslegung, Gründlichkeit der philologisch-exegetischen Analyse und theologischer Durchdringung der paulinischen Aussagen. Man fragt sich bang, ob hierzulande eine solche Kommentierung die Leserschaft fände, die anderenorts offenbar eine blühende Kommentarreihe wie den NIC.NT ermöglicht.