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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

21–24

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Daiber, Hans

Titel/Untertitel:

Islamic Thought in the Dialogue of Cultures. A Historical and Bibliographical Survey

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2012. XII, 274 S. = Themes in Islamic Studies, 7. Geb. EUR 110,00. ISBN 978-90-04-22227-4.

Rezensent:

Friedmann Eißler

Bei diesem Band von Hans Daiber, dem renommierten Orienta-listen und Herausgeber des Aristoteles Semitico-Latinus, handelt es sich um eine Sammlung von durchweg revidierten Artikeln aus der Zeit von 1978 bis 2009, die mehrheitlich 2001 in Malaysia vorgetragen und 2008 in Sarajevo an abgelegenem Ort publiziert worden waren. Das bringt mit sich, dass den Leser keine Abhandlung mit gleichmäßigem Gedankenfortschritt erwartet und eine Reihe von Wiederholungen in Kauf zu nehmen sind. Gleichwohl ergibt die Anordnung der Texte ein facettenreiches Ganzes, das – um dies gleich hervorzuheben – nicht nur die Früchte jahrzehntelanger Forschung vor Augen führt, sondern immer wieder ein über die Fachwissenschaft hinausgehendes Interesse kenntlich macht: dass die bessere Kenntnis der engen wechselseitigen Bezogenheit von islamischer Religion und Wissenschaft, Glaube und Vernunft, Philosophie und Theologie geeignet ist, Vorurteile abzubauen, insbesondere jenes, der Islam sei vernunft- und wissenschaftsfeindlich und verweigere sich grundsätzlich dem Pluralismus moderner Gesellschaften. Die Annahme, der Islam und seine Religion sei ein Hindernis für wissenschaftlichen Fortschritt, wird in historischer Perspektive widerlegt. Jedes der acht Kapitel zeugt in teilweise enormer Detailfülle davon, dass die Würdigung der vielfältigen islamischen Wissenschaftsgeschichte für das Verständnis der islamischen Religion unerlässlich ist und umgekehrt. Dabei hat das bibliographische Interesse deutlich das Hauptgewicht, demgegenüber das Historische nicht in der Bedeutung, wohl aber in der vorwiegend summarischen Darstellung nachgeordnet ist. Am Ende stehen eine instruktive Bibliographie (Sekundärliteratur) und mehrere relevante Register, die das Werk gut erschließen.
Das erste Kapitel erhellt den Hintergrund des frühislamischen Rationalismus in der Entwicklung wissenschaftlicher Methoden, die mit den philologischen Bemühungen der Koranauslegung und der islamischen Jurisprudenz ihren Anfang nahm. Kapitel 2 (die überarbeitete Antrittsvorlesung D.s) fügt sich am wenigsten in den thematischen Bogen des Gesamtwerks ein, liefert aber für sich einen materialreichen Überblick über die vor- und frühmu’tazilitische Diskussion zum Thema Mensch und freier Wille und damit zu einem zentralen Thema der islamischen Theologie bzw. philosophischen Ethik, das der neuen rationalen Weltbetrachtung des 8 ./9. Jh.s den Weg bereitete. Kapitel 3 und 4 wenden sich der charakteristischen Eigenständigkeit der islamischen Philosophie zu, indem sie den Werdegang, die Methodik und die Themen der griechisch-arabischen Übersetzungen von Alexandria über das »Haus der Weisheit« in Bagdad bis ins 10. Jh., den Höhepunkt der Rezeption griechischer Wissenschaftswerke im islamischen Raum, skizzieren (Kapitel 3) und die Wandlungen des Philosophieverständnisses von den Mu’taziliten über al-Kindi, Abu Bakr ar-Razi, al-Farabi, Ibn Sina (Avicenna) und al-Ghazali bis zu Ibn Rushd (Averroes) darlegen (Kapitel 4). Die islamische Philosophie formte sich auf der Basis des Korans, der koranischen Eschatologie und der islamischen Offenbarungskonzeption durch die eigenständige Assimilation griechischen Denkens und griechischer Methodologie. Sie bildet die Brücke zwischen der Antike und Europa. Von besonderer Be­deutung waren für das europäische Mittelalter die Themen Gott, Schöpfung/Ewigkeit der Materie, Seelenlehre, individuelle Un­sterblichkeit und die Entwicklung der Intellekt-Theorie.
Das mit Abstand umfangreichste Kapitel 5 nimmt den geistesgeschichtlich nächsten und für die europäische Scholastik entscheidenden Schritt in den Blick: Die Übersetzungen arabischer Texte ins Lateinische. Ab dem 10. Jh. wurden in Spanien, in Süditalien und Sizilien ungeachtet der parallel verlaufenden polemischen Konfrontation arabische Wissenschaftswerke ins Lateinische übersetzt und intensiv studiert. Den Anfang machten astronomische, mathematische und medizinische Werke, die Blütezeit der Übersetzungen wurde in der Zeit vom 11. bis 13. Jh. erreicht, ab der zweiten Hälfte des 12. Jh.s in der Übersetzerschule in Toledo. D. geht streng forschungsgeschichtlich vor und präsentiert ausführliche bibliographische Auflistungen der Sekundärliteratur, die den Protagonisten (außer den oben genannten z. B. Aristoteles und Raimundus Lullus), Werken (z. B. Liber de causis) und Themen (Avicennismus, Averroismus) zugeordnet werden. Forschungsschwerpunkte werden erkennbar (eben z. B. die Studien zu Avicenna und Averroes), ebenso Desiderata (beispielsweise ein umfassendes Lexikon Arabisch-Lateinisch). Die reiche arabisch-hebräische bzw. judäo-arabische Übersetzungsliteratur und ihr Beitrag zur europäischen Geistesgeschichte werden nur gelegentlich am Rande gestreift; ihre Bedeutung wird unterstrichen.
Das sechste Kapitel liest sich wie eine Zusammenfassung des Vorangegangenen, nun mit mehr Raum für die Ideengeschichte und an zentralen Themen exemplifiziert. Der Durchgang zeigt auf, wie fruchtbar und nachhaltig die wichtigsten Philosophen des Islam, für die »Physik« und »Metaphysik« immer aufs Engste zu­sam­mengehörte, die Entwicklung einer wissenschaftlichen Argumentation und die Ausbildung einer spezifischen Terminologie in verschiedenen Wissenschaftsgebieten des lateinischen Mittelalters stimulierten.
Die Beiträge 7 und 8 gehen einerseits noch stärker, wenngleich kursorisch, auf die kulturellen Wechselwirkungen und allgemeinen Kulturerrungenschaften (Wirtschaft, Alltagskultur, Sprache, Architektur) ein, andererseits auf die Wandlungen der westlichen Orientalistik bis zu den heute aktuellen Herausforderungen einer stärker hermeneutischen Perspektive, die die vielfältigen Manifes­tationen des Islam und regionalen Inkulturationen islamischen Denkens in ihren Kontexten und ohne eurozentrische Simplifizierung würdigt. Wirkungen der vereinfachenden europäischen Perspektive, die Rationalität und evolutionären Fortschritt (Darwin) in einem Gegensatz zur Religion sah, haben sich seit dem 19. Jh. auch in der islamischen Welt selbst entfaltet und eine Selbsteinschätzung der Zurückgebliebenheit und Erstarrung kreiert. Hier haben Tra-ditionalismus und moderner islamischer Fundamentalismus ihre Wurzeln, die die Wahrnehmung eines deterministisch und normativ verstandenen »monolithischen Islam« beförderten, der keinen Pluralismus zulässt. Insofern richtet sich die Erforschung und Darstellung der islamspezifischen »ganzheitlichen Sicht«, die, wie D. immer wieder betont, Pluralismus impliziert und insofern dem modernen Pluralismus keineswegs entgegensteht, nicht nur an die Gelehrtenzunft und nicht nur an eine westliche Leserschaft.
Vor diesem Hintergrund bleibt am Ende ein leicht zwiespältiger Eindruck: Die überragende Leistung liegt in der systematischen, handbuchartigen Zusammenstellung der Forschungsliteratur, his­torisch und ideengeschichtlich angeordnet und damit problemorientiert zugänglich gemacht, mehr Nachschlagewerk als Lesebuch. Für das damit angesprochene Fachpublikum eine Fundgrube und sicher auf lange Zeit eine wichtige Referenz, bleiben die historischen Passagen mit ihrer eher kursorischen Darstellung demgegenüber deutlich zurück. Das erkennbare Motiv, die Eigenheit und Eigenständigkeit des Islam und seiner kulturellen Hervorbringungen über die engeren Fachgrenzen hinaus nahezubringen (s. auch den Titel), hängt deshalb allerdings etwas in der Luft. Über das Übliche hinaus scheinen auch die Überschneidungen bzw. Wiederholungen Platz zu greifen, die wichtige Abschnitte in mindestens drei Zusammenhängen auf weite Strecken wörtlich identisch bringen.